Memento mori. Bedenke, dass du sterblich bist. In Zeiten von Grenzen- und Zeitlosigkeit der digitalen Welt scheint dieser Gedanke häufig in Vergessenheit zu geraten. Die Spuren unseres digitalen Selbst bleiben wohl für immer bestehen. Trauern wir also noch zu Recht oder sind wir nicht schon unsterblich?
„Danke, dass du mal wieder vorbeigeschaut hast! Wir hoffen, dass du dich bald wieder anmeldest“, verabschiedet Facebook seine Mitglieder. Manchmal kommt es aber vor, dass der letzte Logout wohl auch für immer der letzte bleiben wird. Menschen scheiden aus dem Leben, doch durch Posts und Kommentare scheint ihr digitales Ich auch nach dem biologischen Ableben weiter zu bestehen. Was kommt danach, wie liken, respektieren die Verstorbenen und gedenken wir ihrer in der Netzgemeinde?
Digitale Friedhofskultur: Mobil und immer erreichbar
Früher läuteten die Totenglocken, heute bekommen wir eine Push-up Nachricht, wenn UserInnen aus dem Leben scheiden, eine neue Statusmeldung genügt und alle wissen Bescheid. So erlaubt Facebook seinen NutzerInnen ihr digitales Erbe zu regeln. In den Sicherheitseinstellungen können NutzerInnen einen Nachlasskontakt bestimmen, der über ihr digitales Hab und Gut verfügen soll, wenn dieses in den Gedenkzustand versetzt wird. Nur Facebook-FreundInnen können hier trauern und ihr Beileid bekunden. In diesem Zustand sind Änderungen im Profil nicht mehr möglich. Alternativ kann aber auch bestimmt werden, dass Profile nach dem Tod gelöscht werden.
Dies ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Hinterbliebene Abschied nehmen können. Wikipedia erinnert beispielsweise mit einem eigenen Kondolenzbuch an seine verstorbenen AutorInnen. Wem das nicht individuell genug ist und wer die Gedenkstätte der Angehörigen jedem zugänglich machen will, für den stellt das Netz verschiedene Angebote zur Verfügung: thedigitalbeyond bietet eine Übersicht verschiedener Angebote zum digitalen Tod und der virtuellen Anteilnahme. Jeder Mensch kann auf seine Weise Beileid bekunden, sei es durch kleine Texte, Bilder oder Videos, die an die Verblichenen erinnern sollen.
Nicht nur am Tag der Toten in Mexiko, wenn jedes Jahr die Zentralfriedhöfe zu leben beginnen und Tausende darauf feiern, nicht nur dann nimmt der Totenkult obskure Züge an. MyDeathSpace treibt dies auf die Spitze. Das an MySpace angelehnte Forum ist die Nekropole des Netzes. Tod, Trauer und Sensationslust treffen hier aufeinander. Per News-Alert werden NutzerInnen über die neusten Todesfälle informiert und mit den digitalen Profilen der Verstorbenen verbunden. Ein Premium-Account bietet besonders vom Morbiden Begeisterten einen Platz in der ersten Reihe der Leichenschau. Schon 24 Stunden vor der Veröffentlichung sind die Todesanzeigen verfügbar. Der Totentanz beginnt.
Das digitale Spiel mit dem Tod – Secondlife, Afterlife, Eternal Life
„Ich tanze mit dem Tod“, der Totentanz ist ein beliebtes Motiv des Mittelalters, der die Verbindung von Leben und Tod zeigt. So lebt auch der „King of Pop“ ewig weiter und lässt den Tod Moonwalk tanzen. Zumindest als Hologramm war Michael bei den Billboard Music Awards 2014 anwesend.
Eine Beerdigung ist nicht nur seelisch eine Herausforderung für die Hinterbliebenen, häufig ist allein die Organisation belastend genug. Bereits zu Lebzeiten kann deshalb jeder mit digitalen Helfern seine eigene Beisetzung planen. Häufig hätte man aber noch so viel zu sagen: deadmansswitch erlaubt es deshalb, noch wichtige letzte Worte an die Hinterbliebenen zu richten. Sie werden nicht vergessen sein.
Leben und Tod zwischen Geistern und Wirklichkeit: ghostmemo erinnert uns daran, stets online zu bleiben. Das Angebot der Betreiber setzt im Fall des Ablebens eine Notfallkette in Gang. Ausgelöst wird sie, wenn das monatliche Lebenszeichen in Form einer Mail nicht gegeben wird. Wer digital nicht lebt, ist vermutlich auch biologisch tot.
Online-Welten werden immer mehr zu unserer zweiten Realität, unsterbliche Avatare zu unserem zweiten Ich. Vor einigen Jahren erregte der Tod eines 23-jährigen Taiwanesen großes Aufsehen. Während sein digitaler Avatar in der Welt von Warcraft seinen biologischen Gegenpart überlebte, verstarb dieser völlig entkräftet vom Onlinespiel, in der realen Welt, im Internetcafé, an multiplen Organversagen. Erst Stunden später bemerkte man den Tod des Spielers.
Von der Wiege bis zur Bahre, Kommentare, Kommentare, ob Jung, ob Alt, arm oder reich, die ganze Gesellschaft ist heute im Netz vertreten. Soziale Medien als Spiegel unserer Gesellschaft, unser virtuelles Profil als digitales Selbst. Eter9 lässt das unsterblich werden, speichert unsere Nachrichten, Posts und Kommentare und erschafft uns ein virtuelles Selbst, das die Ewigkeit überdauert. Der Avatar lernt aus unseren Gedanken zu Lebzeiten, entwickelt diese selber weiter, lebt an unserer Stelle weiter, postet und tweetet in unserem Namen. Als ob wir nie gegangen wären.
Die Zeit des Fleisches ist vorbei: LifeNaut geht sogar noch einen Schritt weiter und friert unsere DNA ein, speichert unsere Persönlichkeit, lagert uns ein. Hier können wir uns die Frage stellen: Sind wir das überhaupt noch selbst? Ziel dieses Projektes ist es, aus eingefrorener DNA den Körper zu klonen und die Persönlichkeit wie eine Software aufzuspielen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, Menschen sind Menschen, da sie verschieden sind. Wo bleibt aber der Menschen, wenn Körper und Geist austauschbar würden, wenn unser biologisches Selbst nur noch bloße Hülle ist?
Haben wir den Tod schon ausgetrickst – wer hat hier wen ausgetrickst?
Dem Tod ein Schnippchen schlagen, darum geht es in der Geschichte vom Brandner Kaspar. Dem alten, aber noch rüstigen Brandner Kaspar gelingt es, den Boandlkramer – den bayrischen Tod – mit Kirschwasser erst betrunken zu machen. Anschließend betrügt er diesen beim Kartenspiel und „gewinnt“ so noch 18 Jahre Lebenszeit. Bald sterben soziales Umfeld und Familie. Er verliert die Lust am Leben. Als seine Nachbarin bei einem Unfall verunglückt und in den Himmel kommt, fliegt der Schwindel auf. Der Boandlkramer bietet dem Kaspar an, einen Blick ins Paradies zu werfen. Dort findet er Freunde und Familie wieder, beschließt dort zu bleiben. Der Tod hat doch noch gewonnen, lässt sich nicht austricksen.
Diese Geschichte lehrt uns, der Tod gehört zum Leben, wie das Leben zum Tod. „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben“, wusste bereits der römische Philosoph und Kaiser Marcus Aurelius.
Seit Beginn der Menschheit ist es ein Traum unsterblich zu sein. Vieles wurde dafür getan, immer weiter gehen die Anstrengungen das Unmögliche zu erreichen. In der digitalen Welt werden wir jetzt schon unsterblich. Doch was passiert, wenn Maschinen unsere „Persönlichkeit“ übernehmen, wir durch sie existieren und sie uns weiterentwickeln? Wer sind wir dann noch? Sind wir dann überhaupt noch wir selbst? Der Mensch wird letztlich überflüssig, trickst nicht nur den Tod aus, sondern auch sich selbst. Er macht sich überflüssig, stirbt an sich selbst auf seiner Suche nach der Unsterblichkeit.
Tod und Leben, Leben und Tod, Leben und leben lassen, der ewige Kreislauf. Menschen werden geboren, Menschen sterben, doch tot ist man erst dann, wenn niemand mehr an einen denkt. So leben wir auch ohne digitale Unsterblichkeit ewig weiter.
Dieser Artikel ist eine Gemeinschaftsarbeit von Stephan Raab und Oliver Wolff und ein Crosspost von wahl.de.
Alle Artikel der Sommerreihe
Prolog: Religion und Internet: Glaube im digitalen Wandel
Teil 1: Auf einer Wellenlänge mit Gott? Zwischen Godspots und Social Media
Teil 2: Ecclesia 2.0 – Ein Like für die frohe Botschaft
Teil 3: Judentum und Internet – 613 Mitzwot und einen digitalen Sabbat
Teil 4: Fatwas on the Internet – Wenn der Glaube digital wird
Teil 5: Glaube in Korea: Digitalisierte Traditionen
Teil 6: Glaube in Indien und China: Von Mantren und Tablets als digitalem Höllengeld
Teil 7: Der Gottesalgorithmus? – Digitale Suche nach dem „Göttlichen“
Teil 8: Sterben 2.0 – Auf dem Weg zur (digitalen) Unsterblichkeit?
Titelbild: Afterlight von Jonathan Grado via flickr, licenced CC BY-SA 2.0