Glaube im NetzVor langer Zeit versammelten sich die Menschen um das Feuer. Schamanen fragten die allwissenden Götter und erbaten deren Gunst. Heute fragen wir Google und sitzen vereinzelt vor den Bildschirmen. Ein Klick, eine Frage und Siri gibt uns die Antwort. In der diesjährigen Sommerreihe stellt politik-digital die neue Gretchenfrage und begibt sich auf die Suche nach dem Glauben im Netz.

01110111 01101111 01110010 01110100 – Am Anfang war der binäre Code

Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen, sagt die Bibel, am achten Tag schufen wir das Internet. Unser größtes gemeinsames Bestreben ist erreicht, Jahrtausende haben wir es verfolgt: Das Internet hat uns allmächtig werden lassen. Wir sind wissend, wir sind mächtig, wir sind omnipräsent. Der # ist unser neues Glaubenssymbol, wie uns Jim Gilliam in seinem Buch „The Internet is my religion“ zeigt. Alles was wir dahinter packen wird zur Gemeinschaft, Community, Bewegung, „Religion“.

Jeder von uns ist ein Schöpfer geworden, Social-Media erlaubt es uns, alles mit der Welt zu teilen, gemeinsam werden wir der „Schöpfer“. Selbst in unserer Hosentasche haben wir das Internet immer dabei, auf einem Stück Glas mit dem „verbotenen Apfel“ auf der Rückseite.

Wir verknüpfen uns, erschaffen Open-Source-Projekte und kreieren gemeinsam neue Welten, jeden Tag aufs Neue. Zu ruhen brauchen wir dabei am siebten Tag aber nicht. Wir streben unserer eigenen Vervollkommnung entgegen, verfolgen hohe Ziele. Doch was sind diese Ziele und wem sollen sie dienen?

Das Internet ein Cargo-Kult?

Einst landeten große metallene Vögel auf den Inseln der Melanesier. Sie brachten viele wunderliche Güter mit, von denen sie glaubten, dass sie kaum von Menschenhand geschaffen sein konnten. Bei diesen Vögeln handelte es sich um Flugzeuge der amerikanischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg auf den Inseln stationiert waren. Die Melanesier interpretierten dies als ein Zeichen der Ahnen. Doch mit Ende des Krieges verschwanden die fremden Besucher genauso plötzlich wie sie erschienen waren. Für eine baldige Rückkehr legten die Melanesier Landebahnen an, damit ihre „Götter“ wiederkämen und Güter mit den wundersamen metallenen Vögeln schickten. Bis heute gibt es diese sogenannten Cargo-Kulte wie die John-Frums-Bewegung des  Inselstaats Vanuatu. In ihren religiösen Praxen haben sie die Ereignisse der amerikanischen Landungen verinnerlicht und erhoffen seitdem die Wiederkehr von John Frum.

Ähnlich verhält es sich im digitalen Zeitalter, wie Gunther Dueck, Gründer von omnisophie, findet. Nachdem die Internetpioniere ausgezogen waren, das #Neuland zu erschließen, schaffen sie es immer wieder aufs Neue, uns mit ständig besseren, innovativen Möglichkeiten zu begeistern. Experten, oder solche die sich dafür auserkoren fühlen, verkünden uns die frohe Botschaft von neuen Erkenntnissen und Studien, was zu tun sei. Als solche geben sie die neue Richtung vor, der wir zu folgen hätten und wir tragen diese Mantren vor uns her. Unsere Ziele unsere Gebote halten wir in Glaubenssymbolen fest. „Das, worin eine Firma besonders schlecht ist, dass schreibt sie auf einfach auf eine Tasse“, lästert Dueck.  Dort ist zu lesen eine neue Dreifaltigkeit: Teamgeist! Innovation! Technik! Auf diese Weise werden sie uns stetig vor Augen geführt, woran wir noch zu arbeiten hätten, wo wir noch hinwollen. Egal ob lösbar oder nicht, ist ein Problem erst einmal verewigt, reicht die Verehrung der eingängigen Slogans aus und siehe da: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der „Teamgeist“ geboren.“

So traurig es klingen mag, John Frums wird den Melanesiern wahrscheinlich nicht so schnell erscheinen und genauso wenig werden wir vom Teamgeist erleuchtet, dem wir tagtäglich auf unseren Cafébechern huldigen. Dennoch wiegt uns auch die Grenzenlosigkeit des Internet tagein, tagaus in dieser Sicherheit. Früher haben wir noch Dinge geliked, die uns wirklich gefielen, heute tun wir das, weil wir es müssen. Das Internet ist zu einer Ersatzreligion geworden. Solange du nur fleißig teilst, deine Kontakte bei WhatApp ausreichend pflegst, dein Leben immer mehr digitalisierst, wirst du die Erleuchtung finden. Doch das Internet erscheint selbst wie ein Cargo-Kult? Erliegen wir nur einem Irrglauben?

Nichts ist wie es ist

Das glauben zumindest verschiedene Verschwörungstheoretiker. Seit dem Entstehen des Internet haben sie sich immer größeren Zulauf und ihre Theorien über das Netz verbreitet. Echsenmenschen, die die Welt regieren, Schlümpfe, die zur Weltrevolution aufrufen, Illuminaten, Geheimbünde, all dies meinen die Verschwörungstheoretiker aufzudecken. Nichts ist so, wie uns die Wahrheit vorgibt zu sein.

Elvis lebt, Chemtrails, geheime Regierungsprojekte, 9/11 wurde von der CIA geplant, Bielefeld existiert nicht, Krisen und Katastrophen, alles völlig unerklärliche Phänomene, nur Verschwörungstheoretiker finden Antworten dafür. (Aber)glaube diente früher als Erklärung für alles Unerklärliche, heute genügt ein Klick ins Netz. Verschwörungstheorien ersetzen das, was früher Religion war.

Aber auch die Religion erlebt ein digitales Revival – aber anders als gedacht. Kopimisten verehren das Internet als heilig, die Tastenkombination Strg+C und Strg+V sind ihre religiösen Insignien und das Kopieren von Daten wird als religiöse Tugend angepriesen. Sie folgen einem neuen spirituellen Trend, der das Internet als allwissendes Medium verehrt und den Glaubensvorstellungen etablierter Religionen gegenübersteht. Das geht durch den Magen, denn stammen wir nicht alle von dem fliegenden Spaghettimonster ab? Das zumindest glaubt die Gemeinde der Pastafari, die sich als Religionsparodie gegründet hat. Da werden die zehn Gebote zu den acht „Mir wär’s wirklich lieber, du würdest nicht …“, Piraten zu den ursprünglichen Pastafaris und nach dem Tod wartet ein riesiger Biervulkan auf die Gläubigen.

Im Namen des Internet, des Wifis und des Smartphones, Enter.

Wer das glaubt wird selig. Die Netzgemeinde wird stetig größer. Immer mehr Menschen schließen sich an, werden zu Usern. Alle Welt steht offen, das Moderne, Neue hält Einzug, alte Traditionen und Bräuche verlieren an Bedeutung. Doch woran glaubt die Netzgemeinde, was sind ihre Glaubensinhalte, Wertevorstellungen, Moral? Letztlich stellt sich die Frage nach dem Sinn an sich.

Immer mehr User machen sich wieder auf ihre eigene digitale Sinnsuche und streben nach Orientierung in ihrem digitalisierten Leben. Der Glaube wird individueller und ist weniger an feste Institutionen gebunden. Jeder kann sich im digitalen Supermarkt der Religionen das heraussuchen, was ihm am ehesten zuspricht, woran er glaubt. Die Belief-O-Matic verschafft einen ersten Überblick.

Menschen in ihrer Sinnsuche zu unterstützen, Halt und Orientierung im Leben zu geben war stets die Aufgabe der Religion. Den Nutzen der Technologie entfaltet sich nur, wenn man weiß, wofür man sie nutzen will. Die etablierten Religionen stehen vor der Frage, wie sie mit diesen digitalen Neuerungen umgehen wollen. In einer immer individuelleren Glaubens- und Lebenswelt sehen sie sich mit einem zunehmenden Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust konfrontiert. Sie müssen sich aufs Neue mit ihren mit ihren Mitgliedern auseinandersetzen und die neue digitale Realität begreifen. Religion ist ein stetig dynamischer Veränderungsprozess, dem auch die etablierten Religionen unterworfen sind. In unserer Glaubensreihe betrachtet politik-digital, wie sich Glaube im digitalen Zeitalter gewandelt hat und stetig verändert. Dabei betrachten wir die etablierten monotheistischen Religionen, wagen einen Blick nach Fernost und stellen uns die Frage, wie uns Wissenschaft in Sachen Glaube helfen kann.

Alle Artikel der Sommerreihe

Prolog: Religion und Internet: Glaube im digitalen Wandel
Teil 1: Auf einer Wellenlänge mit Gott? Zwischen Godspots und Social Media
Teil 2: Ecclesia 2.0 – Ein Like für die frohe Botschaft
Teil 3: Judentum und Internet – 613 Mitzwot und einen digitalen Sabbat
Teil 4: Fatwas on the Internet – Wenn der Glaube digital wird
Teil 5: Glaube in Korea: Digitalisierte Traditionen
Teil 6: Glaube in Indien und China: Von Mantren und Tablets als digitalem Höllengeld
Teil 7: Der Gottesalgorithmus? – Digitale Suche nach dem „Göttlichen“ 
Teil 8: Sterben 2.0 – Auf dem Weg zur (digitalen) Unsterblichkeit?

 

Dieser Artikel ist eine Gemeinschaftsarbeit von Stephan Raab und Oliver Wolff.

Titelbild: Glaube im Netz via pixabay licenced CC0, bearbeitet

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