Mit der Plattform sofahopper.de helfen Streetworker Jugendlichen, die verdeckt obdachlos leben. Im Interview berichten die Sozialarbeiterin Sigrid Kästner und die Pädagogin Ines Fornaçon von der Off Road Kids Streetwork-Station Berlin über unsichtbare Obdachlosigkeit, das Konzept von sofahopper.de und die Vorteile von Chats für Hilfesuchende.

Gibt man den Begriff „Straßenkinder in Deutschland“ in die Online-Suchmaschinen ein, stößt man schnell auf das klischeehafte Bild des bunthaarigen, pöbelnden Punks, der aus sozial schwachen Verhältnissen kommt. Tatsächlich, das hat die über 20-jährige Arbeitserfahrung der Hilfsorganisation Off Road Kids gezeigt, stammen die Ausreißer und Ausreißerinnen aber aus allen Gesellschaftsschichten, sind oft eher unauffällig, und fliehen vor traumatischen Erfahrungen wie familiären Zerwürfnissen, Vernachlässigung und Misshandlung in die Anonymität der Großstadt. Materielle Not spielt nur eine zweitrangige Rolle.

Armes, reiches Deutschland

Deutschland ist ein Staat, dessen soziales Netz, so wird zumindest häufig argumentiert, alle Bürgerinnen und Bürger auffängt. Trotzdem haben bundesweit etwa 37.000 junge Menschen unter 27 keinen festen Wohnsitz, ca. ein Fünftel von ihnen ist minderjährig. Ein Drittel der betroffenen Jugendlichen lebt sogar ausschließlich auf der Straße und ist damit obdachlos. Diese Zahlen gehen aus einer Erhebung hervor, die das Deutsche Jugendinstitut (DJI) 2017 veröffentlicht hat.

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt …

Seit 1993 arbeitet Off Road Kids als einzige überregional tätige Hilfsorganisation für Straßenkinder in Deutschland. Neben Beratungsangeboten, Bildungs-, Integrations-, und Gesundheitsvorsorgeprogrammen, betreiben die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auch Streetwork. Das heißt, sie warten nicht auf Hilfesuchende, sondern gehen aktiv auf Kinder und Jugendliche zu, die in Deutschlands Großstädten auf der Straße leben. Diesem Arbeitsansatz liegt die Annahme zugrunde, dass die jungen Obdachlosen zwar den Wunsch haben, wieder von der Straße wegzukommen, ihnen aber die Informationen über Hilfeangebote fehlen.

Digitalisierung der Streetwork: Sofa-Hopper 2.0

Fester Wohnsitz hin oder her, ein Smartphone besitzen heutzutage die meisten Jugendlichen. Und damit auch den Zugang zum digitalen Portal der Off Road Kids, sofahopper.de, das es seit 2016 gibt. Über eine Chat-Funktion auf der Website können sich Jugendliche melden, die kurz davor sind, „zuhause rauszufliegen“ oder schon als Sofa-Hopper bei Bekannten aus dem Internet oder Freunden untergekommen sind.

sofahopperpolitik-digital.de: Wie entstand die Idee für die Online-Plattform sofahopper.de?

Die Idee kam von den Streetworkern selbst, weil sie auf der Straße immer weniger Jugendliche angetroffen haben. 2002 waren es noch 40 Minderjährige im Monat, heute sind es gegen Null. Das Problem von obdachlosen jungen Menschen hat sich ja aber nicht einfach durch ein Wunder aufgelöst. Die Jugendlichen sind jetzt eher verdeckt obdachlos. Das Ziel unserer virtuellen Streetworkstation ist also, diese verdeckt Obdachlosen zu erreichen und sie ins Hilfesystem zu integrieren.

Was heißt es „verdeckt obdachlos“ zu sein?

Das heißt, die jungen Obdachlosen sind jetzt weniger auf der Straße unterwegs. Dadurch, dass sie bei Bekannten auf dem Sofa schlafen, sind für die Gesellschaft sozusagen unsichtbar. Aufgrund der digitalen Kommunikationsmittel ist es nicht mehr unbedingt nötig auf die Straße zu gehen und zu fragen: „Wo kriege ich was zu essen her?“. Das kann jetzt alles über WhatsApp geklärt werden.

Erreichen Sie mit sofahopper.de eine andere Zielgruppe als mit der klassischen Streetwork?

Ja, es sind nicht mehr nur unsere altbekannten „Straßenköter“, die schon lange auf der Straße sind und viel Erfahrung mit Jugendhilfe haben. Die Gruppe der Hilfesuchenden ist größer und heterogener geworden. Vorher haben wir auch nie die Gastgeberinnen und Gastgeber erreicht. Die melden sich jetzt auch bei uns und fragen, wie sie dem jungen Menschen, der auf ihrer Couch schläft, helfen können. Wir kriegen jetzt sogar Anfragen von Studierenden und Azubis, die keine Wohnung finden.

Wie viele Anfragen bekommen Sie pro Jahr?

2017 und 2018 hatten wir pro Jahr ca. 200 Anfragen. 2019 haben wir bis jetzt schon 74, 30 davon nur im Monat April. Das liegt daran, dass wir unter anderem Google Ads benutzt haben. Wenn man jetzt „Obdachlos – was kann ich tun?“ googelt, stößt man relativ schnell auf uns.

Braucht es weiterhin analoge Mittel, um Wissen über das Portal zu verbreiten?

Es braucht beides. Die analogen Mittel, die wir nutzen, sind Interviews, Postkarten, Flyer und Werbeaktionen. Die meisten Jugendlichen kommen aber durch eigene Recherche auf uns.

Haben Sie Probleme mit Fake-Anfragen?

Fast nie. Wir staunen immer darüber wie wenig Spam wir kriegen. Wenn wir jetzt überall in der Stadt Plakate von sofahopper.de hängen hätten, wäre das vielleicht anders.

Warum nutzen Sie die Chat-Funktion?

Die Chatfunktion ist anonym und niedrigschwellig. Die Hürde, einen Anruf zu machen oder eine Beratungsstelle aufzusuchen, ist viel höher. Manchmal fragen wir auch: „Darf ich dich anrufen?“. Viele sagen dann: „Ne, mir ist Chat lieber.“ Außerdem funktioniert die Chatfunktion auch asynchron. Das heißt, die Hilfesuchenden können uns anchatten. Auch wenn wir gerade nicht da sind, kriegen sie erst mal eine automatisierte Antwort und später dann Rückmeldung. Oft kommen die Anfragen in der Nacht, denn da kommen die Krisen. Das ist eben das schöne – die Jugendlichen können uns zu jeder Tages- uns Nachtzeit schreiben und sich sicher sein: Wir melden uns zurück!

Haben Sie vor, die Plattform auszubauen, also zum Beispiel eine App zu entwickeln?

Ja, solche Ideen stehen im Raum. Wir können uns auch gut vorstellen in Zukunft mit Influencern zu arbeiten und diese zu animieren, für sofahopper.de Werbung zu machen. Damit würden wir genau die Zielgruppe erreichen.

Können Sie eine Zwischenbilanz ziehen?

Es war eine richtig gute Idee die sofahopper.de zu gründen! Wir erreichen bundesweit wahnsinnig viele Jugendliche, die wir auf der Straße nicht mehr antreffen würden. Aus den dünn besiedelten Räumen kommen weniger Anfragen als aus den Ballungsgebieten. Das liegt daran, dass es da noch Wohnungen gibt, nicht so wie in Berlin, Hamburg und Co.

Das Interview führte Paulina Fried

Titelbild:  Kelly Sikkema on Unsplash

Bild: Reichweite sofahopper.de by Off Road Kids Stiftung