Im Rahmen der digitalen Transformation müssen sich auch Hilfsorganisationen wie der Weiße Ring an die neuen Begebenheiten anpassen. Im Interview berichtet Riccarda Theis (Social Media Managerin & Online-Fundraising) wie sich die Straftaten durch die Digitalisierung verändert haben und mit welchen Mitteln die Mitarbeitenden darauf reagieren.

Seit 1976 gibt es den Weißen Ring, seit 20 Jahren das Web 2.0. Wie haben sich die Straftaten verändert, seit die Digitalisierung auch unseren Alltag prägt?

Seit die Täter auch mit digitalen Mitteln arbeiten, finden Attacken auf deren Opfer rund um die Uhr statt. Ein Beispiel: Mobbing hat früher außerhalb der Wohnung zum Beispiel in der Schule stattgefunden. Es hat an der Wohnungstür aufgehört und erst am nächsten Tag in der Schule wieder begonnen. Das Zuhause war der sichere Hafen für Betroffene. Jetzt, mit dem Smartphone, das man den ganzen Tag in der Hosentasche hat, verfolgt das (Cyber-)Mobbing einen bis in das eigene Zimmer. Die eigenen vier Wände werden zum Tatort. Die Betroffenen verlieren ihren Rückzugsort und der Erholungszeitraum fällt weg. Es kommt zu einer psychischen Dauerbelastung der Opfer.

„Die eigenen vier Wände werden zum Tatort.“

Wieso löschen die Betroffenen nicht ihre Social Media Accounts, um dieser Dauerbelastung zu entkommen?

Wir haben alle ein digitales und ein Offline-Leben. Diese zwei Leben sind mittlerweile so verwoben, dass insbesondere Jugendliche Angst haben, nichts mehr mitzubekommen und ausgeschlossen zu sein, wenn sie ihre Social Media Accounts löschen. Außerdem benötigen sie diese Kanäle auch für die schulische Organisation wie Klassenchats. Deshalb wird Cybermobbing oft einfach „ausgehalten“.

Sehen Sie Unterschiede zwischen den Anfängen von Cybermobbing und heute?

In den 90ern, als es die sozialen Medien so noch gar nicht gab und die ersten Foren entstanden, hat Cybermobbing in einem ganz kleinen digitalen Raum stattgefunden. In den 2000ern, mit dem Aufkommen der sozialen Medien, hat das Phänomen rasant zugenommen. Für den Täter ist es heute viel einfacher, seine Attacken in eine große Reichweite zu streuen. Ein belastendes Foto, Video oder Meme wandert schnell von Whatsapp, über Instagram und Facebook zu Snapchat und bekommt so ein Eigenleben.


WEISSER RING E.V.
Der Weiße Ring ist eine in mehreren Ländern Europas tätige, jeweils eigenständige Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und ihre Familien. Die Mitarbeitenden leisten u.a. Hilfe bei Vergewaltigung, häuslicher Gewalt und Stalking.


 Wie hat sich die Arbeitsweise vom Weißen Ring durch die digitalen Möglichkeiten verändert?

Die Arbeitsweise hat sich gar nicht so drastisch verändert. Der Weiße Ring steht heute wie damals als Berater, Begleiter und Lotse für Hilfesuchende zur Verfügung. Verändert haben sich aber die Wege, auf denen die Betroffenen zu uns finden. Früher gab es bei uns vor allem das Opfertelefon oder die persönliche Beratung vor Ort. Im August 2016 haben wir dann eine Online-Beratung gestartet, weil viele Leute durch ihren digitalen Alltag eher dazu neigen, zu schreiben. Das Online-Beratungsangebot ist jetzt zweieinhalb Jahre alt und wird kontinuierlich stark nachgefragt. Bisher konnten wir 4.750 Klienten damit betreuen. Das sind fast 17.00 Nachrichten. Auf den Nachrichtenverlauf haben nur die beratende Person und das Opfer Zugriff. Er liegt auf geschützten Servern. Deswegen müssen sich die Opfer keine Sorgen über Datenschutz machen. Über Facebook beraten wir nicht. Da ist das Risiko zu hoch, dass jemand die Daten auf irgendeinem Wege bekommt.

No Stalk App: Entwickelt mit den Betroffenen und der Polizei

Der Weiße Ring hat eine App entwickelt, die von Stalking Betroffenen helfen soll. Wie kann man sich das vorstellen?

Die No Stalk App gibt Stalkingopfern ein Tool an die Hand, mit dem sie Beweise sammeln und dokumentieren können. Was tut der Stalker mir an? Was macht das mit meinem Leben? Es ist einerseits gut, das für sich selbst festzuhalten. Andererseits können so Beweise gesichert werden, die dabei helfen, ein Strafverfahren einzuleiten.

Die App wurde zusammen mit Betroffenen entwickelt, um zu gewährleisten, dass sie gut handhabbar ist. Die Stalkingopfer sollen nicht mehr hinterher aus dem Kopf rekonstruieren müssen wie die Situation war, in der sie vielleicht auch in Panik waren und nicht klar denken konnten. Mit der No Stalk App kann alles in dem Augenblick, in dem es passiert, sofort dokumentiert werden.

Mit der App können Fotos gemacht, ein Notruf abgesendet und Nachrichten gespeichert werden. Das sind Funktionen, die ein normales Smartphone sowieso hat. Reicht das nicht?

Der Begriff Stalking kommt aus der Jägersprache und bedeutet Nachstellung. Wenn ein Reh gejagt wird, verfällt es in Schockstarre. Das ist bei Stalking-Opfern ähnlich. Genau deswegen ist es so wichtig, alle Features in einer App zu bündeln. Man muss sich keine Gedanken mehr machen, wo man was findet, sondern einfach auf ein Symbol klicken. Die Opfer wissen manchmal gar nicht, was alles als Beweismittel dient. So können sie alles sammeln und dann die Polizei entscheiden lassen, was relevant ist. Die App funktioniert unter der Prämisse, dass der Täter das gesammelte Material nicht mehr manipulieren kann, weil die Daten direkt in einer Cloud gespeichert werden. Wenn der Täter das Handy wegnimmt, um die Beweise zu löschen, wird es nicht funktionieren. An die Cloud kommt er nicht ran.

Wo holt sich der Weiße Ring die Expertise und die technische Beratung bei Projekten wie der No Stalk App?

Wir sind bundesweit sehr gut und stark vernetzt. Bei diesem Projekt haben wir uns die Cyberexperten der Polizei und dem BKA an die Seite geholt. Außerdem arbeiten wir mit spezialisierten Webagenturen zusammen, die Kenntnisse über die technischen Aspekte mitbringen. Dann profitieren wir auch von dem Fachwissen aus der Forschung, indem wir entsprechenden Kontakt mit Fachleuten haben. Im Verein haben wir auch Fachbeiräte. Zum Beispiel aus dem Strafrecht, der Kriminalprävention, der Medizin, der Psychologie und dem Marketing. Es ist also ein großer Tisch, an dem viele unterschiedliche Menschen sitzen.

„Die Taten im Web und im analogen Leben vermischen sich komplett.“

Wie ist mittlerweile das Verhältnis von analogen Straftaten wie körperlichen Misshandlungen, und Verbrechen, die (auch) mit digitalen Mitteln begangen werden?

2017 hat die Polizei ein Lagebild Cybercrime rausgegeben und es gibt die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Zwischen den beiden wurde ein Vergleich gezogen, laut dem es 2017 251.617 Fälle waren, bei denen eine Straftat mit dem Tatmittel Internet begangen wurde. Das sind 4,4% der erfassten Straftaten.

Das ist gar nicht so viel?

Die meisten digitalen Straftaten werden nicht angezeigt. Oft dienen sie der Tatvorbereitung und die wird nicht erfasst. Wenn der Täter auf Instagram guckt, wo sein Opfer ist, benutzt er gezielt das Internet. Dann begibt er sich dorthin und sticht das Opfer nieder. In der PKS taucht das unter versuchtem Todschlag auf, obwohl das Internet bei der Straftat auch eine entscheidende Rolle gespielt hat. Von daher sind diese 4,4% nicht sehr aussagekräftig. Unsere Erfahrung zeigt: die Taten im Web und im analogen Leben vermischen sich komplett.

Welche weiteren Gefahren und Themen nehmen derzeit zu und werden in der Zukunft eine größere Rolle spielen?

Wir glauben, dass alle Taten, die mit dem Internet begangen oder vorbereitet werden, in Zukunft zunehmen werden. Die Anonymität des Webs macht vor allem Straftaten gegen gezielte Personen möglich. Es ist kein Expertenwissen mehr nötig, um das Web zu missbrauchen. Alle Daten und Infos sind ja dort. Mit großer Sorge beobachte ich als Social Media Managerin die Tonalität im Web. Ich sehe, dass dieser Hass immer mehr zunimmt und dann auch einen Nährboden für Straftaten wie Beleidigung und Mobbing bietet und die Hemmschwelle zu wirklich schlimmen Gewalttaten sinkt.

Das Interview führte Paulina Fried

Titelbild: ©  Weißer Ring