„Gott wohnt in Brüssel.“ Er lebt dort mit seiner Frau und seiner Tochter. Von einem großen Computer aus verfasst er die Gebote und verwaltet das Leben der Menschen. Dies zumindest lässt der Film „Das brandneue Testament“ glauben. Mit dem technischen Fortschritt erweitern sich auch die Möglichkeiten der Suche nach dem Göttlichen, dem spirituellen Kern der Dinge. Darum haben wir uns auf eine digitale Reise zum Sinn des Lebens gemacht.
Alles ist relativ „göttlich“
Hoch oben auf dem Olymp, da sollen sie regieren, die Götter. In Walhalla feiern sie große Feste oder schicken Plagen aus den Tiefen der Erde. Menschen sind auf den Olymp gestiegen, drangen immer tiefer zum Erdkern vor, die Welt war nicht genug. „Ich bin durch den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen“, konstatierte der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch im All. Vielleicht suchen wir aber an den falschen Stellen. Denn was ist das „Göttliche“, was ist der Kern, der die Welt im innersten zusammenhält?
Der Erforschung dieses Kerns hat sich das Genfer Forschungsinstitut CERN verschrieben. Seit seiner Gründung 1957 beschäftigt sich das größte Forschungsinstitut Europas mit Fragen der Kernphysik und dringt, auf der Suche nach dem „Gottesteilchen“, in den Mikrokosmos vor.
Am Anfang war die Erde wüst und leer. Nicht ganz: Am Anfang war das Higgsfeld, wie Quantenphysiker des CERN vermuten. Warum die Menschen verschieden sind, haben sich nicht nur die Philosophen gefragt. Auf gleiche Weise sind Atome verschieden, haben unterschiedliche Massen. Was gibt ihnen ihre Massen? Warum sind die Dinge so wie sie sind?
Das Higgsfeld kann als eine Party in London Downing Street verstanden werden. Ein Raum ist gleichmäßig verteilt mit Partygästen. Plötzlich betritt der Premierminister den Raum. Alle Anhänger und Günstlinge scharen sich um ihn. Es wird immer schwerer für ihn, durchzukommen, der Premierminister wird träge. Betritt plötzlich hingegen der Oppositionsführer den Raum, so wenden sich alle von ihm ab. Mühelos kann er den Raum durchqueren. Trägheit ist gleich Masse. Ob das Extra-Pfund auf der Waage oder die Tonnen-Fracht eines LKWs – das Higgsteilchen soll erklären, warum die Grundbausteine des Lebens so sind wie sie sind. Gelingt es dieses Teilchen zu finden, wäre die Wissenschaft nahe dem Urknall angelangt.
Wo liegt der Kern des Internet?
Ein Produkt dieser Forschungen ist das Internet. Der britische Forscher Tim Berners-Lee erfand Ende der 1980er Jahre im CERN ein Textverarbeitungsprogramm namens Enquire. Damit ließen sich Notizen, Adressen, kurze Informationen speichern und verlinken. Vor und zurück surfen, dies war die Geburtstunde des Internet. Einheitliche Standards für die Kommunikation, das http-Protokoll, Adressen URL und eine Auszeichnungssprache HTML, legten die Basis des World Wide Web. Die erste Website ging am 13. November 1990 online. Nicht nur Wissenschaftler, sondern die gesamte Menschheit, mit inzwischen Milliarden von Usern, bekam ein neues Mittel, um miteinander zu kommunizieren, Wissen und Ideen auszutauschen und über unsere Existenz auf diesem blauen Planeten zu diskutieren. Vor wenigen Jahren vermutete man wahrscheinlich sogar, das Higgsteilchen gefunden zu haben. Aber immer noch herrschen Kriege, Hungersnöte und Gewalt. Ist das „Göttliche“ also nur ein Produkt der blühenden Phantasie des Menschen?
Ist das „Göttliche“ nur ein Hirngespinst?
Vielleicht sieht die Neurotheologie Licht am Ende des Tunnels. Der kanadische Neurowissenschaftler Michael Persinger entwickelte einen „Gotteshelm“, der bestimmte Hirnregionen von Probanden elektrisch stimuliert. Daraufhin berichteten die Versuchspersonen von übersinnlichen Erfahrungen – wie die Anwesenheit einer höheren Existenz zu spüren, eine fremde Stimme zu hören oder sogar von Zuständen der Angst und Ohnmacht. Diese Zustände hielten nach Ende des Versuchs teilweise noch an. Untersuchungen mit buddhistischen Mönchen und katholischen Nonnen im Kernspintomographen lieferten ähnliche Ergebnisse. Die Versuchsteilnehmer berichteten davon, im Nichts (Nirwana) aufzugehen, oder von der Anwesenheit Gottes. Während der Scheitellappen besonders aktiv war, wurde das Zentrum für die Wahrnehmung von Raum und Zeit vermutlich deaktiviert. Hierin sieht der Biologie Andrew Newberg den Grund für die transzendentale Erfahrung der Geistlichen. Wer sich selbst auf diese Reise begeben möchte, der Helm ist käuflich im Onlineshop von Shakti Technology zu erwerben.
Neurowissenschaftler haben bereits viele Regionen des menschlichen Gehirns untersucht und kartiert. Nur in ein Röhrchen gespuckt, dann können User durch ihr eigene Erbmasse am Rechner surfen. In der Fähigkeit des Menschen, sich immer wieder neu anzupassen, sehen die Evolutionsbiologen den Erfolg der menschlichen Spezies. Insbesondere die Fähigkeit, Sinneseindrücke wahrzunehmen, aufzunehmen und zu bestimmten Mustern zusammenzufügen, begründenden Erfolg der menschlichen Evolution. Heute sind „Muster“ unter anderem als Memes im Netz vorzufinden. Der Theorie des Evolutionsbiologen Richard Dawkins zufolge würden sich solche Verhaltensweisen erfolgreich durchsetzen, die das Genom der Menschen übergehen.
Ähnlich wie bestimmte religiöse Symbole und Verhaltensweisen für die Interpretation der Welt herangezogen werden, werden heute Katzenvideos und andere virale Klassikergeteilt und im kollektiven Gedächtnis der ganzen Internetgemeinde gespeichert. Religion sei damit nichts weiter als ein Produkt erfolgreicher Verhaltensweisen, kurz: Memes.
Reicht ein nüchterner Blick?
Dem stimmt die virtuelle Gemeinde der „Church of Virus“ zu. Zeitgleich mit der Ausbreitung des Internet hat sie sich auf ihre digitale Mission begeben. Als einzigen Heiligen verehren sie Charles Darwin, den Begründer der Evolutionstheorie. Die Neurotheologie ist zentrale Glaubensbasis dieser Gemeinschaft. Demnach sei der Glaube an eine höhere Existenz mit der Bezeichnung „Gott“ lediglich das Produkt eines Überlebensvorteils der Spezies Mensch. Die „traditionellen“ Religionen seien überholt, Sünde sei der Glaube an eine höhere transzendentale Kraft. Die Tugend der frommen Gläubigen der Church of Virus bestehe nur in einem klaren nüchternen Rationalismus.
Doch ist alles wirklich mit einem nüchternen Rationalismus erklärbar?
Noetik und die verborgene Kraft des Bewusstseins
Was ist das Internet? Täglich nutzen Milliarden Menschen diese Technologie, doch bewusst eine Definition ist angesichts der zunehmenden Komplexität kaum mehr zu fassen. Frei nach Hegel kann das Internet als eine Weltseele im platonischen Sinne, also ein Geist, verstanden werden, der sich noch sich selbst bewusst werden muss, was er sein will. Im Gegensatz zu Platons Weltseele ist das Internet jedoch, ähnlich dem Contract Social, ein Bewusstsein, welches durch Menschenhand geschaffen wurde. Erst durch die Gemeinschaft der Netzgemeinde existiert das Internet als globales digitales Netzwerk.
Insofern ist das Internet eine Ansammlung von Informationen, ein komplexes System aus Prozessen. Es existiert fernab des Zutuns eines einzelnen Surfers, ist aber permanent präsent. Es ist etwas materiell kaum mehr begreifbares, wie nicht nur meine Oma (91) als Internetabstinente in einem Gespräch meinte. Ab hier beginnt ein wissenschaftlich umstrittenes Feld der Noetik. Abgeleitet vom griechischen Wort Nous für Verstand bzw. Noesis für Denktätigkeit beschäftigt sich diese Wissenschaft mit den Grenzen des menschlichen Bewusstseins und geht sogar über sie hinaus.
Grüße aus der Noosphäre
Das Bewusstsein und sein Potenzial sind es, was die Noetik umtreibt. Trotz modernster Messmethoden geschehen noch „Wunder“. Warum bekommt man plötzlich einen Anruf von einer Person, an die man gerade denkt? Warum scheint das gemeinsame Liken und Posten uns glücklich zu machen, Trauer und Schmerz zu lindern? Auch das Potenzial der „Intentionalität“, also der Erforschung des Einflusses von bewussten Gedanken auf ein physisches System, ist Forschungsgebiet der Noetik. In anderen Worten: Wenn ich einen Lichtschalter betätige, so geht das Licht an. Kann ich aber auch nur durch meine Gedanken den Stromkreis zum Laufen bringen; ein Licht aufgehen lassen?
Begonnen haben die neurowissenschaftlichen Forschungen nach dem Erlebnis des Apollo14 Astronauten Edgar Mitchell und späteren Gründer des Insitute of Noetic Science. Er beschrieb während des Rückflugs auf die Erde das Gefühl, plötzlich Teil eines großen Ganzen zu sein. Dieses große Ganze erforschte erstmals das Princeton University´s Engineering Anamolies Research Laboratory, kurz PEAR.
Probanden bekamen eine lose Folge von 200 zufälligen Bit-Sequenzen, also eine Reihenfolge von Nullen und Einsen, die sie mit einem Schalter betätigen konnten. Aufgabe der Probanden war es, nur durch ihren Willen (Intentionalität) die zufällige Abfolge zu beeinflussen. Seit 1998 gibt es im Global Consciousness Project über 50 dieser Apparaturen in den gesamten Vereinigten Staaten verteilt, welche bis zu drei Milliarden dieser Bit-Sequenzen pro Tag produzieren und direkt durch das Internet nach Princeton weiterleiten. Insbesondere bei großen globalen Ereignissen – wie Naturkatastrophen, Terroranschlägen, aber auch Sportveranstaltungen oder religiösen Großereignissen – meinen die Noetiker, markante Abweichungen vom Zufall der Bit-Sequenzen wahrzunehmen. Hierin sehen sie einen Beweis für ein globales menschliches Bewusstsein, welches die Menschheit beeinflusst und lenkt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, durch unser Bewusstsein könnten wir unser Schicksal selbst beeinflussen wie Dean Radin, Mitglied des Institute of Noetic Science, meint. Daraus schließt er, ein einzelner Gedanke sei nur ein Tropfen im Ozean. Dächten aber viele Menschen denselben Gedanken, so hätte dies Einfluss auf jeden Menschen. In dem, was religiöse Menschen als „göttlich“ bezeichnen, sehen die Noetiker das Bewusstsein als die schöpferische einende Kraft der Menschen. Dem Glauben zu schenken, fällt angesichts der Unvorstellbarkeit und durchaus wissenschaftlich umstrittenen Methodik der Noetik nicht leicht. Ob die weltweite Vernetzung der Menschheit durch das Internet, die schnellere Übertragung von Informationen und Nachrichten, Antworten auf die Frage nach dem „globalen Bewusstsein“ der Menschen finden kann, bleibt weiterhin offen.
Wozu braucht es noch „Gott“?
„Ich suche Gott. Ich suche Gott“ schreibt der Nihilist Friedrich Nietzsche. Vielleicht können wir das „Göttliche“ gar nicht finden? Zumindest die evolutionären Humanisten oder Transhumanisten gehen davon aus, dass der Mensch nur ein Zufallsprodukt auf dem Staubkorn Erde mitten in den unendlichen Weiten des Weltalls ist. Traditionen und Religionen seien nur ein Produkt der Evolution, der Mensch selbst nicht mehr als ein „zivilisiertes“ Tier. Viel eher stünden diese traditionellen „Wurzeln“ der modernen Gesellschaft dem Menschen im Wege. Der Begründer des Transhumanismus und erste Generalsekretär der UNESCO, Julian Huxley, formulierte dies so: “It has defined man’s responsibility and destiny—to be an agent for the rest of the world in the job of realizing its inherent potentialities as fully as possible”.
Dieses Streben nach einer stetigen Verbesserung ist Kern des Transhumanismus. Technik soll dem Menschen helfen, stets ein größeres Potenzial auszuschöpfen. Als Beispiel für die Verschmelzung von Mensch und Technik lässt sich das Smartphone anführen. Ist unser digitaler Begleiter einmal nicht verfügbar, so haben deren Besitzer häufig das Gefühl, etwas fehlt. Moderne Technologien können Taube wieder hören und Blinde wieder sehen lassen Doch nicht nur Krankheiten sollen geheilt werden, auch Gesunde sollen die Grenzen ihres Leistungsvermögens hinausschieben können. An diesem Fortschritt müsse die gesamte Menschheit teilhaben. Die Cyborg Foundation setzt sich für das „Menschenrecht“ ein, dass jeder die Möglichkeit habe, zu einem Maschinenmenschen bzw. Cyborg zu werden. „Ich glaube an den Menschen, den Schöpfer der Kunst und Entdecker unbekannter Welten“, lautet das Glaubensbekenntnis dieser Technikoptimisten. In einer solchen Welt solle Wissenschaft die Fakten liefern, Philosophie sie ordnen und Kunst die Erkenntnis ausdrücken, wie auf den Seiten der transhumanistischen Giordano Bruno Stiftung Deutschland zu lesen ist. Der Mensch solle sich als eigenständiges Lebewesen begreifen, das sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen habe.
Autoritäre Strukturen, biologische Grenzen bis hin zum Tod sollen überwunden werden. Jedoch besteht die Gefahr dieser ambitionierten Absichten darin, den Menschen zu vergessen.
Jeder Einzelne wird gezwungen, den technischen Fortschritt mitzumachen. Gelten Menschen ohne Smartphone momentan noch als „nur“ rückschrittlich, könnten sie in wenigen Jahren die Teilhabe am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben aufs Spiel setzen. Bereits heute werden Menschen auf Eis gelegt, lassen sich kryogenisch einfrieren – in der Hoffnung auf Heilung in einer fernen Zukunft. Der Mensch überwindet seine natürlichen, durch die Biologie gesetzten, Grenzen und kann durch neue Bauteile sein Leben immer mehr verlängern. In Zukunft, vermuten Wissenschaftler, könnte es möglich sein, die gesamte Persönlichkeit eines Menschen digital zu speichern. Solche digitalen Identitäten könnten dann in verschiedene digitale Welten geladen werden. Der Wechsel des Geschlechts, des Alters und der biologischen Beschaffenheit wären damit kein Problem mehr. An dieser Stelle hätte der Mensch alle seine natürlichen Grenzen überschritten und letztlich sich selbst als Mensch überwunden. Die Frage bei allem technischen Fortschritt und des Technikoptimismus an die Transhumanisten ist also schlicht: „Wo bleibt der Mensch?“ „Denn der Mensch heißt Mensch, weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt, weil er lacht und weil er lebt“, wie der Musiker Herbert Grönemeyer in seinem Song „Mensch“ festhält.
Wenn Geistliche forschen, beginnen Wissenschaftler zu glauben
„Ich finde, dass Religion ebenso wenig in der Schule unterrichtet werden sollte, wie Wissenschaftler in der Kirche dozieren sollten“, meint die Musterschülerin Lisa Simpson. Noch immer liefern sich Wissenschaft und Glaube, sogar verschiedene Glaubensrichtungen untereinander, einen erbitterten Kampf um die „Wahrheit“. Es bleibt dem Leser überlassen, sich ein eigenes Urteil über die vorgebrachten Ansätze und Theorien zu bilden. Jedoch können alle Seiten voneinander lernen und profitieren, sich unterstützen. Dazu muss nur die Chemie stimmen. Dem würde Papst Franziskus I. als Chemiker sicher zustimmen. Es gibt nicht eine letzte „Wahrheit“, es gibt nur verschiedene Wege, sich dieser zu nähern. Menschen sind verschieden, sie glauben, sie glauben nicht und treten mal mehr und mal weniger für ihre Überzeugungen ein. So verschieden die Ansichten auch sind, eint sie doch alle der Wunsch nach einer besseren Welt. Ob wir es Gottesdienst, Ritual oder Flashmob nennen, Gemeinschaft tut nachweichlich Jedem gut, ist Grundlage unserer eigenen Existenz als soziale Wesen.
Moderne Kommunikationen haben eine neue Verbindung der Menschheit geschaffen, die uns einander näher bringen, Verständnis und Menschlichkeit unter den Bewohnern dieses blauen Planeten beflügeln könnte. Wie Charlie Chaplin in seiner Rede an die Menschheit fordert:
„Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert“.
Dies ist ein Crosspost von wahl.de, der Artikel ist zuerst dort erschienen.
Alle Artikel der Sommerreihe
Prolog: Religion und Internet: Glaube im digitalen Wandel
Teil 1: Auf einer Wellenlänge mit Gott? Zwischen Godspots und Social Media
Teil 2: Ecclesia 2.0 – Ein Like für die frohe Botschaft
Teil 3: Judentum und Internet – 613 Mitzwot und einen digitalen Sabbat
Teil 4: Fatwas on the Internet – Wenn der Glaube digital wird
Teil 5: Glaube in Korea: Digitalisierte Traditionen
Teil 6: Glaube in Indien und China: Von Mantren und Tablets als digitalem Höllengeld
Teil 7: Der Gottesalgorithmus? – Digitale Suche nach dem „Göttlichen“
Teil 8: Sterben 2.0 – Auf dem Weg zur (digitalen) Unsterblichkeit?
Titelbild: Galaxy von Wikilmages via pixabay, licenced CC0 Public Domain