Tim Renner hat in seinem Leben schon viele Rollen eingenommen – Punkrocker, Publizist und der mächtigste Mann der deutschen Musikbranche sind nur drei davon. Ein „kraftvoller Visionär“ für die einen, ein „überschätzter und aufgeblasener Kerl“ für die anderen – im persönlichen Gespräch wirkt der Medienmanager seiner Umstrittenheit zum Trotz völlig unaufgeregt .

Der gebürtige Berliner mit dem rotblonden Haar ist ein jugendlicher Typ, dessen Erscheinung so gar nicht zum Klischee eines aalglatten Managers passen will. Im Jeans-und-Turnschuh-Look, der auch dem Frontmann einer Indie-Band gut zu Gesicht stünde, sitzt er in seinem Büro in Berlin Mitte und begegnet dem Gesprächspartner mit Interesse, ja Neugierde. Seine blauen Augen leuchten, er wirkt sehr aufmerksam und entspannt zugleich. Wenn Tim Renner spricht, liegt seine Ausstrahlung irgendwo zwischen der eines Dozenten (er hat eine Professur an der Mannheimer Pop-Akademie inne) und eines Kumpeltypen. Man sollte den Sympathie-Faktor, den er zweifelsohne hat, jedoch keinesfalls mit einem Mangel an Biss verwechseln. Tim Renner war nicht umsonst der Chef von Universal Deutschland. Er weiß, was er kann und was er will. Doch nicht nur das macht ihn zu einem interessanten Player in der Musikbranche einerseits und in der Netzszene andererseits.

Dabei schien in seiner Jugend zunächst alles möglich und nichts gewiss zu sein. Lange war unklar, wohin der Berufsweg führen würde. Dass er heute die Führungsposition bei Motor Music einnimmt, hat sich, so sagt er, wie so vieles in seinem Leben „einfach ergeben“. Gelassen geht Renner mit der Tatsache um, dass er als Entdecker der weltweit erfolgreichen Berliner Band Rammstein für viele Musikfans eine der Lichtgestalten der Branche ist. Mit an Understatement grenzender Beiläufigkeit spricht er davon, dass er bei Universal Music in der Firmenhierarchie einfach „immer weiter hinaufgerutscht“ sei.

Nein, explizit berufen habe sich der Musikliebhaber nie gefühlt, wenn es um seine vielseitigen Betätigungsfelder geht. „Ich habe nie einen konkreten Traum vor mir hergetragen“, versichert er glaubhaft und nippt an einer knallbunten Kaffeetasse. Angesichts einer solchen Aussage erscheint sein Werdegang schon fast filmreif: Der junge Tim Renner wurde als Undercover-Journalist in eine Plattenfirma eingeschleust, um ein Enthüllungsbuch zu schreiben, und stieg schließlich selbst zum mächtigsten Mann der hiesigen Musikbranche auf.

Der Torten-Vergleich: fest und fluffig

Doch man sollte Tim Renner keinesfalls auf seine Zeit als Universal-Chef reduzieren. Vor bereits acht Jahren nahm er dort seinen Hut, weil er sich zusehends fremdgesteuert fühlte – und ist seither gemeinsam mit seiner Frau Petra Husemann-Renner Geschäftsführer des Berliner Indielabels Motor Music. Auch wenn das zunächst nach Kontinuität und etablierten Strukturen klingen mag: Tim Renner ist keiner, der aus Angst vorm Risiko an Bewährtem festhält. Seinerzeit von Universal-Firmenpsychologen als „Change Manager“ klassifiziert, ist er auch bei den Motor Music-Mitarbeitern für seinen Willen zum Wandel, seine Lust am Experiment berüchtigt. „Wenn du mir Freiheiten lässt, bin ich jemand, der auf gewissen Ebenen viel ausprobiert und verändert“, sagt er über sich selbst. Gleichzeitig wehrt er sich aber dagegen, auf dieses Querdenkertum reduziert zu werden. So betont Renner, dass er seit 19 Jahren mit derselben Frau verheiratet ist, mit der auch er zwei Töchter hat. „Für die Medienbranche ist das relativ konservativ-verharrend“, ist er sich sicher. Um die Mischung aus beruflicher Abenteuerfreude und privater Beständigkeit auf den Punkt zu bringen, greift Tim Renner zu einem erheiternden Vergleich: „Ich sehe mich da immer wie eine Torte mit festem Boden und fluffigem, beweglichem Obersatz“.

Der Provokateur und die Piraten

An seiner lässig-unbekümmerten Art, aber auch an seiner häufigen Einmischung in den politischen Diskurs (was er nach der Musik als seine „zweite große Leidenschaft“ bezeichnet), scheiden sich die Geister. Ist er sich dessen bewusst, dass er polarisiert und wie geht er damit um? Offenbar kein großes Drama für Renner. Im Gegenteil, heftige Reaktionen auszulösen, findet er durchaus erstrebenswert: „Ich habe den Menschen mein ganzes Berufsleben lang gepredigt, dass sie möglichst polarisieren sollen“. Mit dem Brustton der Überzeugung fügt er hinzu: „Am Ende des Tages würde ich immer lieber da stehen als jemand, der polarisiert, denn als jemand, der furchtbar unkonkret versucht, alles unter einen Hut zu bekommen und daher keinen so richtig erreicht“. Es sei besser, „etwas zu äußern, das einen Denkprozess in Gang setzt oder den Diskurs verschärft als etwas zu sagen, das lediglich zur Kenntnis genommen wird, weil es eh schon mal gesagt wurde. Das finde ich einfach extrem langweilig.“

Gegenwind aushalten, Freude am Widerspruch empfinden: klingt eigentlich ganz einfach. Wie so vieles in Tim Renners Selbstverständnis. Vielleicht ist diese scheinbare Leichtigkeit des Seins, dieses völlige Gegenteil von Verkopft- und Verkrampftheit, eines seiner Erfolgsrezepte. Und das ist etwas, das er mit der Piratenpartei gemein hat. Auf die Shooting-Stars der deutschen Politik angesprochen, findet er grundsätzlich positive Worte: „Die Piraten sind kein Medien-Hype, sondern berechtigter Teil der Parteienlandschaft“. Dies habe vor allem damit zu tun, dass es einen Bedarf nach einer netzpolitisch orientierten Partei gebe – weil die Mehrzahl der etablierten Politiker den Lebensraum Internet „vielleicht intellektuell, nicht aber emotional verstehen“. Renner bricht die Relevanz der Piraten auf zwei Punkte herunter: Sie seien heutzutage die „Ersatz-Grünen“, d.h. eine frische, unverbrauchte Protestströmung. Zweitens „Vertreter einer neuen Lebenswirklichkeit“, der Digitalisierung unseres Alltags. Wo auch immer ihr Weg hinführen mag, für Renner steht fest: Erfolg werden die Piraten weiterhin dann haben, „wenn sie den Mut haben, neugierig und naiv zu bleiben“.

Fortschrittlicher Verteidiger von Künstlerinteressen

Bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber der Piratenpartei: Im aktuellen Urheberrechtsstreit geht Renner mit ihnen nicht konform. Während die Piraten bekanntermaßen User-orientiert sind und freie Netzinhalte fordern, stellt sich der ehemalige Punkrocker auf die Seite der Künstler – da sie im Dreieck „Urheber-Verwerter-Konsumenten“ die schwächste Stelle seien. Konsumenten haben laut Renner die Kraft der Masse und die Verwerter die Kraft des Kapitals – der Kulturschaffende, mit dem alles beginnt, sei letztlich jedoch relativ machtlos. Ein Dilemma, wie der Musikliebhaber findet: „Es kann nicht richtig sein, Kapitalinteressen und Konsumenteninteressen vor Kulturinteressen zu stellen“.

Zwar räumt er ein, dass das Urheberrecht „für eine analoge Welt gemacht worden ist“ und „auf eine digitale Welt schlichtweg nicht mehr zutrifft“ – doch das entbinde niemanden von seiner Verantwortung gegenüber den Künstlern. Der Motor Music-Chef ist sich sicher: „Die Künstler sind das Schützenswerteste im ganzen Diskurs, und eine Lösung ist für mich nur dann eine Lösung, wenn sie für die Künstler tragbar ist“. Wie die konkret aussehen könnte? „Wir müssen wegkommen vom Verbieten hin zum Vergüten“, fordert der Label-Chef, denn „die althergebrachten, analogen Geschäftsmodelle werden durch die digitale Verfügbarkeit von Kulturgütern angegriffen – egal ob legal oder illegal.“ Neue, digitale Geschäftsmodelle (wie Spotify) müssen also in weitaus größerem Umfang her, um illegale Angebote wie kinox.to „auszutrocknen“. Eine „Umsonstkultur“ könne man der Internetszene keinesfalls unterstellen, so Renner – die Verwerter hätten es nur versäumt, der Digitalisierung in vollem Maße Rechnung zu tragen, was Piraterie begünstigt habe.

Eine ungewöhnliche Position für jemanden, der als Label-Chef im Grunde doch der Gruppe der Verwerter angehört – denjenigen also, die traditionell auf Kontrolle bei der Vermarktung von Kulturgütern setzen. Aber auch das ist typisch für Tim Renner – unkonventionell und freigeistig aufzutreten, wo andere nur von Status und Prestige getrieben sind. Renner ist ein Freigeist, der seine Standpunkte mitunter mit derart viel Nachdruck und Hartnäckigkeit vertritt, dass man meinen könnte, an ihm sei ein Missionar verlorengegangen. Lächelnd und mit feiner Selbstironie bekennt der Musikliebhaber daher: “Man kann zu Recht der Meinung sein ‘Der Typ nervt‘“. Es scheint eine von Renners Prämissen zu sein, Kritik bloß nicht persönlich zu nehmen – und so ist ihm Widerspruch stets höchst willkommen, da er ihn konstruktiv aufzufassen und zu nutzen versucht.

Online-Sucht und Reisefieber

Man könnte meinen, dass jemand, der so gelassen mit Kritik umgeht, Refugien hat, in denen er sich bei Bedarf von allen zermürbenden Diskursen frei machen kann. Wandern, Reiten, Gartenarbeit… irgendein praktisches Hobby, bei dem man so „offline“ ist, wie es nur irgend geht. Doch weit gefehlt. Tim Renner sieht sich selbst als „Online-Junkie“, der seine jüngeren Mitarbeiter zwar davor warnt, ihre Zeit permanent im Netz zu verbringen, aber selbst kaum die Finger von seinem Smartphone lassen kann. Er sagt, er sei „einfach zu neugierig“, auch wenn er sein ständiges Online-Sein als Schwäche sieht. Für andere Menschen, denen es auch so geht, hat er einen Tipp: Reisen, am besten an eher extreme und abgelegene Orte. Ihn selbst zieht es als Rucksackreisenden immer wieder an eher karge Schauplätze. So war er zum Beispiel schon mit den Aborigines im australischen Buschland campen und träumt davon, die Mongolei, Grönland und die Arktis zu bereisen.

Tim Renners reflektierte Unbekümmertheit, die im Laufe des Gesprächs immer deutlicher zutage tritt, lässt kaum einen Zweifel daran, dass der Chef von Motor Music auch diese Orte irgendwann betreten wird. Am nötigen Kleingeld dürfte es bei dem erfolgreichen Medienmanager jedenfalls nicht scheitern. Ganz anders als bei jenen jungen Kulturschaffenden, denen der große (kommerzielle) Wurf nicht gelingen kann, weil sie gezwungenermaßen „zu beschäftigt sind mit Taxifahren und Kellnern“, wie Renner ausführt. Dabei ist er ihnen im Kern gar nicht so unähnlich.

Als ehemaliger Germanistikstudent hätte auch Tim Renner ein gesellschaftlich gestrandeter Geisteswissenschaftler werden können. Es kam anders. Seine Erfolgsstory kann Ansporn für all jene jungen Menschen sein, die ihr Hobby zum Beruf machen und dazu noch eine lebendige Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen wollen. Dass es gelingen kann, wenn man mit Spaß und Leidenschaft bei der Sache ist, hat Tim Renner vorgemacht. Und fast noch wichtiger: Er hat gezeigt, wie bodenständig man dabei bleiben kann.