Die SZ-Redakteure Ulrich Schäfer und Marc Beise haben mit ihrem Buch „Deutschland digital“ einen lesenswerten Beitrag zur Digitalisierungsdebatte beigetragen. Gestern wurde es in der Factory Berlin vorgestellt. Anschließend debattierten Vertreter aus Wirtschaft und Politik über die Kernaussagen der frischen Publikation.
„Nirgends erlebt der Bürger den Staat so unmittelbar und handgreiflich wie auf dem Amt. Und genau so ist der Behördenalltag in Deutschland: hoffnungslos von gestern. Formulare, Formulare, Formulare, analoge Registratur, undurchsichtige Kompetenzen, knappe Öffnungszeiten, lange Schlangen: Für manchen Digital Native ist es ein negatives Entwicklungsszenario, wenn er mit 16 oder 18 das erste Mal mit dieser Welt konfrontiert wird, von der er gar nicht ahnte, dass es sie überhaupt noch gibt.“ (Auszug: 228)
Die bildliche Schreibkraft der beiden Autoren Ulrich Schäfer und Marc Beise, Wirtschaftsredakteure der Süddeutschen Zeitung in München, prägt das komplexe Thema der Digitalisierung in ihrem Werk „Deutschland digital. Unsere Antwort auf das Silicon Valley“. Nicht nur die angestrebte Digitalisierung der Verwaltung, sondern auch die des Gesundheitssektors, der Politik und Wirtschaft sowie das Internet der Dinge porträtieren die beiden Autoren umfassend.
9.131,54 km trennen das Silicon Valley von der deutschen Hauptstadt in Luftlinie. Viele befürchten, dass die technische Entfernung der beiden Orte noch viel größer ist. Aus dem Grund haben sich die Buchautoren auf die Reise in das digitale Tal Amerikas gemacht, um herauszufinden, ob unsere Angst, in baldiger Zeit vom Silicon Valley wirtschaftlich und technisch verschlungen zu werden, berechtigt ist. Das Ergebnis: Die erste Runde der Digitalisierung haben wir verschlafen. Aber in der zweiten Runde haben wir die Chance aufzuwachen und mitzumischen – „vielleicht sogar ganz vorne“, so die Autoren.
Silicon Country statt Silicon Valley: Produktion, Präzision, Perfektion
Durch vielseitige Beispiele und Interviews im Silicon Valley und Deutschland zeigen die Herausgeber, dass auf der einen Seite der Technologievorsprung Amerikas existiert, aber andererseits die Stärken Deutschlands in Sachen Produktion, Präzision und Perfektion oft in Vergessenheit geraten. Die verschiedenen Kapitel zum „Angriff aus dem Silicon Valley“ und der möglichen Chancen Deutschlands in Form einer digitalen Transformation finden ihren Abschluss in einer Art Rat gebenden Wirtschaftsbibel – dem „Zwölf-Punkte-Plan“. Dieser Plan der Autoren lehrt uns u. a., auch mal Bewährtes infrage zu stellen, die digitale Bildung in Angriff zu nehmen sowie New und Old Economy miteinander zu kombinieren, während wirtschaftliche Innovationsstandpunkte innerhalb Deutschlands dezentral verteilt werden sollten. Heißt: Silicon Country statt Silicon Valley. Auch plädieren die Autoren für Werte und Regelungen, die es im Silicon Valley bereits gibt und in Deutschland bislang ausbleiben: schnelles Giga-Netz, finanzielle Privatinvestoren, kreatives Storytelling und inspirierende Vorbilder im Start-up-Bereich sowie unternehmerisches Denken.
Einen gefährlichen Allmachtsanspruch beobachteten Schäfer und Beise auf ihrer Reise in das Silicon Valley vor knapp anderthalb Jahren. Während das pulsierende Arbeitsleben am bedeutendsten IT-Standort der Welt sich selbst feiern lässt, habe Deutschland nun die Möglichkeit, seine bereits vorhandenen Stärken zu digitalisieren. Denn: Geschwindigkeit sei nicht alles, betonen die Autoren in ihrem Buch: „Tempo ist auch in der digitalen Welt nicht der entscheidende Maßstab.“ Neue Werte – wie Freiheit der MitarbeiterInnen, Kreativität und flache Hierarchien – sollen mit traditionellen deutschen Qualitäten Synergieeffekte erzielen: traditionelle Produktion trifft auf innovative Kreation. Hinzu komme dabei aber auch die in Amerika stärker beobachtbare Disruption, das unvermittelte Entstehen von etwas wirtschaftlich Neuem durch die Zerstörung der Konkurrenz: „Die digitalen Disrupter gehen dabei wie hungrige Wölfe vor“, heißt es im Buch. Die digitale Zukunft Deutschlands bleibt offen. „Tradition und Disruption“ lautet die Zauberformel der Autoren, durch die Deutschland auch selbst zum internationalen Angreifer in Sachen digitale Fabrik, Internet of Everything und Künstliche Intelligenz werden kann.
Auf der Buchpremiere: Digitale Standpunkte zu Politik- und Kulturwandel
Deutschland als möglicher Gewinner und globaler Akteur – so sahen auch die Panelisten der Buchpremiere weitestgehend die, zumindest theoretisch, mögliche Zukunftsprognose Deutschlands. Vor der Diskussion positionierten sich die Autoren klar zur Digitalisierung im Allgemeinen: „Eigentlich sehen wir mehr Chancen als Risiken“, so Schäfer. Neben den bisher genannten Inhalten des Buches beschäftigte das durchgehend männliche Panel aber vor allem auch der Wunsch nach einer digitalen Regierung und nach einem Kulturwandel. Für letzteres sprach sich vor allem SPD-Staatssekretär Matthias Machnig (BMWi) aus, der noch schnell in Vertretung für Sigmar Gabriel anreiste. Machnig ist sich sicher: „Ein Kulturwandel ist in der Tat notwendig.“ Dieser Wandel sei nicht nur politisch zu verstehen, es sei auch mehr Mut für Fusionen mit Start-ups und hinsichtlich der großen Datenschutz-Debatte notwendig, so Machnig. Einen Nerv hatte der Staatssekretär damit besonders bei Udo Schloemer (CEO / Founder Factory Berlin) getroffen, der die Forderung nach einem Kulturwandel nun schon seit Jahren hört und Machnig eine Hausaufgabe mit auf den Weg gab: „Dann schaffen sie doch endlich mal eine neue Kultur.“
Große Kontroversen wurden in der Podiums-Diskussion nicht ausgetragen, stattdessen erklärten die Panelisten fast einträchtig nacheinander ihre digitalen Standpunkte. Auch die Frage nach einer politisch-operativen Handhabung der Digitalisierung stieß weitestgehend auf Konsens: Nicht ein digitaler Minister sei die Lösung, sondern ganze viele davon bzw. gleich eine gesamte digitale Regierung. So pflichtete auch Maximilian Viessmann (Chief Digital Officer der Viessmann Group) bei, dass ein Ministerium als Multiplikator dienen sollte. Machnig plädierte dabei – halb ernst, halb scherzhaft – für den Vorschlag einer „heiligen Vierfaltigkeit der Digitalminister“ zwischen den Bereichen Inneres, Sicherheit, Forschung und Wirtschaft. Wer dabei seiner Meinung nach die Führungsposition einnehmen könnte, liege auf der Hand, entgegnete Moderatorin Inga Michler süffisant. Das Wirtschafts-Panel sprach sich, abgesehen von kleinen Unstimmigkeiten, für die Vorteile und Potenziale Deutschlands als zukünftiges Silicon Country aus.
Zurück zum Buch: Wie sieht es eigentlich mit der Digitalisierung der Gesellschaft aus?
Durch zahlreiche szenische Einstiege sowie eine bildliche und verständliche Sprache gelingt es Beise und Schäfer, den LeserInnen einen unübersichtlichen Themenkomplex, anhand zahlreicher Geschichten großer und kleiner Unternehmen, in Form eines Puzzle-Stils näherzubringen. Jede einzelne Geschichte, jedes Interview und jede Idee, die im Buch porträtiert wird, erweitert das große Gesamtbild ein kleines Stück mehr. Eine gelungene sprachliche und journalistische Leistung: Unterhaltung trifft auf inhaltlichen Mehrwert. Auch wenn soziale Komponenten der Digitalisierung anfangs im Buch als eine Stärke Deutschlands skizziert werden, sucht man diese Facetten in ihrer notwendigen Ausführlichkeit jedoch vergebens. So ist leicht ersichtlich, aus welchem Ressort der Süddeutschen Zeitung beide Autoren stammen: Die wirtschaftliche Akzentuierung hat an den meisten Stellen ihre Berechtigung durch die thematische Verankerung selbst, jedoch liegt sie hin und wieder etwas fern von einer inter- bis transdisziplinären Denk- und Schreibweise. Nationale Identitäten mit ihren Stärken und Schwächen werden als absolut und gegeben dargestellt. Der ethische Gehalt hinter den großen Begriffen ‚Digitalisierung‘, ‚Fortschritt‘ und ‚deutsche Werte‘ wird nicht hinterfragt. Auch der Begriff der Modernisierung wird innerhalb des Buches lediglich ökonomisch und finanziell ausgelegt, wie auch an dieser Stelle deutlich wird: „Die Gesundheitskarte könnte so zu einem entscheidenden Faktor für die unvermeidliche Modernisierung unseres überteuerten Gesundheitswesens werden.“ Wie sieht nun aber der ‚moderne‘ Mensch dazu aus?
Generell sind begriffliche Konstrukte wie Innovation und Digitalisierung von einer stark positiven Konnotation umgeben. Auch wenn dies Anlass zu Kritik gibt, da die Betrachtung idealistisch und auch an mancher Stelle utopisch scheint – Nein: genau darum geht es in diesem Buch: „Think Positive!“ Und dieses Credo haben Schäfer und Beise wirklich stringent und überzeugend durch ihre Wortwahl transportiert, auch wenn die ein oder andere Forderung nach sehr fernliegender Zukunftsmusik klingt – wie allein die schnelle Schaffung des flächendeckenden Giga-Netzes. Die Digital-Optimisten Beise und Schäfer reißen einen mit in ihrem Gegenwerk zu all dem digitalen Pessimismus, der und sonst umgibt. Dennoch: Individuell kommen wir mit den Facetten einer digitalen Transformation der Gesellschaft auf sehr verschiedene Art und Weise zurecht. Gerade dieser Individualismus, der neben den genannten Werten Deutschlands – wie „Präzision und Perfektion, Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit, Ingenieurskunst und Industriewissen“ – in der Digitalisierung eine wichtige Rolle spielt, kommt in den universellen Ratschlägen und im absoluten Nationen-Denken noch etwas zu kurz.
Fazit: Wirtschaftlich fokussierter Lesetipp für digitale Laien und bereits Transformierte!
„Dies ist kein Plädoyer für ein Laisser-faire, auch nicht dafür, einfach kritiklos zu übernehmen, was im Silicon Valley gang und gäbe ist. Wir brauchen in Deutschland nicht den digitalen Wilden Westen; was wir aber brauchen, das sind wohldosierte Reformen und kluge Maßnahmen, um die Früchte der Digitalisierung zu ernten, sie einzufahren, sie zu genießen.“ (Auszug: 238)
Titelbild: Buch-Cover “Deutschland digital” von Jana Donat / politik-digital.de, licenced CC BY SA 3.0