Universität„Für eine Universität der Zukunft würde ich mir wünschen, dass sie den Mut hat anders zu sein“, erklärt Sascha Friesike, Professor für digitale Innovation der Vrije Universiteit Amsterdam im Interview.

Das deutsche Bildungssystem ist zunehmender Kritik ausgesetzt. Seit der Bundestagswahl vergangenen September rückte das Thema Digitale Bildung mehr in den Fokus von Medien und Politik. Die Diskussion thematisierte besonders Vermittlung von Medienpädagogik, Medienkritik und die Ausstattung von digitalen Lehrmitteln an Schulen. Doch wie sieht es an Universitäten aus? Wie verändert der Wandel zur Wissensgesellschaft die Lehre an Universitäten? Und was können Studierende, Dozierende und die Politik konkret verbessern? Sascha Friesike plädiert im Interview für mehr Diversität in der Lehre und bei Lehrenden. Studierenden rät er, auch mal wieder persönlich mit neuen Ideen und Verbesserungsvorschlägen auf Dozierenden zu zugehen.


Sascha Friesike ist Professor für digitale Innovation an der  Vrije Universiteit Amsterdam und assoziierter Wissenschaftler am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

 

politik-digital e.V: Durch die Digitalisierung und den Wandel zur Wissensgesellschaft kommen gerade auf Universitäten viele neue Anforderungen hinzu. Welche Probleme und Chancen begegnen Ihnen dabei in der Lehre an Universitäten?

Sascha Friesike: Also zu der Frage könnte man mehrere Bücher schreiben, daher fange ich vielleicht mal mit einer einzigen Herausforderung an und zwar wie intensiv sich unser Wissen erweitert, also nicht unser persönliches Wissen, sondern das „Weltwissen“. In jedem Fach, das wir unterrichten, gibt es mehr und mehr Inhalt, der eigentlich auch irgendwie beigebracht werden sollte. Dadurch werden die Lehrpläne immer praller gefüllt, was erhebliche Kosten hat. Studenten haben weniger Zeit sich Inhalte selbst zu erarbeiten und es wird immer wieder festgestellt, dass die Universität dadurch verschulter wird. Es wird zunehmend zu einer Herausforderung für Hochschullehrer, jungen Menschen beizubringen, selbstständig Informationen zu suchen, diese zu interpretieren und anzuwenden. Dabei würde man ja eigentlich denken, dass das genau die Kernfunktion einer Universität ist, nämlich reflektierende Menschen hervorzubringen.

Wie müsste eine Universität aussehen, die auf die Wissensgesellschaft vorbereitet?

Es gibt im englischsprachigen Raum das „Four C“-Konzept des Lernens, man kann das mehr oder weniger mit „vier Ks“ übersetzen. Das Konzept sagt, dass man für die Wissensgesellschaft vier Schlüsselfähigkeiten ausbilden muss und praktischer Weise fangen sie im Englischen alle mit einem C an: Kritisches Denken (Critical Thinking), also die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, die darauf beruht, dass man Fakten eingeholt, verstanden und bewertet hat. Zusammenarbeit (Collaboration), also die Fähigkeit, in einer immer arbeitsteiligeren Welt gut im Team zusammenarbeiten zu können. Kommunikation (Communication), also die Fähigkeit in richtiger Form und Format kommunizieren zu können, und Kreativität (Creativity), also die Fähigkeit, selbstständig neue Lösungen zu entwickeln.

Wir könnten jetzt über jeden dieser vier Aspekte lange sprechen, weil jeder einen Rattenschwanz an Folgen hat. Aber im Grunde müsste eine Universität der Zukunft diese Fähigkeiten stärker in den Fokus ihrer Ausbildung rücken. Dabei ist mir aber wichtig zu erwähnen, dass es dafür keine Musterlösung gibt. Wir sollten nicht jeden Hochschullehrer in ein 4C-Korsett packen, sondern viel eher für Diversität in der Lehre werben und Studenten diese Fähigkeiten in ganz unterschiedlichen Formaten beibringen, ohne Professoren dabei auf die Füße zu treten mit endloser Bürokratie und gut gemeinter Gleichmacherei, was leider oft die Konsequenz von „strategischen Änderungsprozessen“ in der Lehre ist.

“Wir suchen immerzu nach Musterlösungen, den idealen Kandidaten, die ideale Lehrumgebung, die ideale Uni und dabei fällt der Wert von Diversität schnell unter den Tisch.”

Wie verändert sich dabei ihre Rolle als Dozent?

Das kommt drauf an. Das kann man immer sagen und ist in aller Regel richtig. Hier, weil Lehre sehr unterschiedlich ist; wenn man im Bachelor Grundlagen der Statistik unterrichtet, dann hat man eine andere Aufgabe als wenn man im Master einen sehr spezialisierten Kurs hat. Aber um noch einmal auf die Zunahme an Wissen zurückzukommen, so kann man schon feststellen, dass es für Hochschullehrer immer schwieriger wird, selbst die eigenen Gebiete vollumfänglich zu kennen. Es passiert also immer öfter, dass Studenten sich Inhalte erarbeiten, die man als Dozent nicht kennt. Auch hier, wer Grundlagen der Statistik unterrichtet, wird hoffentlich selten in die Situation kommen, wie der Ochs vorm Berge zu stehen.

Aber ich unterrichte beispielsweise gerade einen Kurs zu neuen Technologien und deren Anwendungen. Und in diesem Kurs kommen Studenten immer wieder mit Konzepten oder Quellen, die teilweise tagesaktuell sind, so dass ich die unmöglich alle kennen kann. Für mich hat das den Vorteil, dass ich selber jedes Mal, wenn ich den Kurs unterrichte, wieder etwas lerne. Aber als Dozent ist das auch wirklich eine Herausforderung, weil man zugeben muss nicht alles zu wissen, geschweige denn alles wissen zu können.

Änderungen im Bildungssystem brauchen Zeit, sehr viel Zeit. Was können Universitäten und Dozierende trotzdem jetzt schon ändern (z.B. Aufbau der Vorlesungen, Prüfungen, Struktur der Seminare etc.)?

Durch die Lehrfreiheit hat man ja doch eine ganze Menge Spielraum in der Art und Weise, wie man unterrichtet. Daher glaube ich, dass man gar nicht auf systemische Änderungen warten muss, um etwas zu erreichen. In jedem Fach kann man sich fragen, was genau eigentlich das ist, was man vermitteln will, und wie man am besten dorthin kommt. Ich stelle beispielsweise inzwischen keine Klausuren mehr. Weil ich in meinen Fächern einfach festgestellt habe, dass die Anwendung von Wissen in einem Kontext einen ganz anderen Lernerfolg bringt als das Auswendiglernen für eine Klausur. Auch hier wieder der Disclaimer, dass das natürlich für andere Fälle anders sein kann. Und vielleicht ist eine Klausur in anderen Fächern eine gute Methode, um abzufragen, wie gut Studenten verstehen.

Ich habe allerdings oft das Gefühl, dass Klausuren deshalb geschrieben werden, da auf Grund der hohen Anzahl von Studenten andere Prüfungsformen schon an den Ressourcen scheitern. Wenn Klausuren also keine bewusste Entscheidung sind, sondern die einzige Option, dann ist tatsächlich ein systemisches Problem, dass ma nur schwer selber lösen kann.

Und den Studierenden: Was raten Sie diesen?

Die Sache auch mal selbst in die Hand zu nehmen und mit Dozenten direkt darüber zu sprechen, was besser laufen könnte. Es ist ja nicht so, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten und es dann nur vortanzen. Wir haben, wenn wir Kurse entwickeln, bestimmte Annahmen und es kann immer sein, dass wir falsch liegen. Viele Verbesserungen meiner Kurse kamen von Studenten selber, die auf mich zugekommen sind und gesagt haben, dass sie Ideen haben, was man anders oder besser machen könnte.

Ganz typisch ist, dass sich Kurse mit anderen überschneiden. Für Dozenten ist das schrecklich schwer genau dies zu wissen, weil wir ja nicht regelmäßig alle anderen Kurse in einem Studiengang besuchen können. Da ist der Input von Studenten Gold wert. Es gibt in vielen Fächern Evaluierungen, wo Studenten angeben können, wie zufrieden sie mit dem Kurs waren. Die kann man ausfüllen, klar. Aber nach meiner Erfahrung bringt es viel mehr, mit einem Dozenten direkt zu sprechen. Einfach mal drei bis fünf Ideen mitbringen, was man tun könnte, um einen Kurs besser zu machen. Ich für meinen Teil bin immer dankbar, wenn Studenten sich diese Mühe machen. Und ich glaube Studenten ist gar nicht klar, wie viel sie schon alleine dadurch verbessern können, dass sie die Idee für einen besseren Unterricht überhaupt mal vorschlagen. Also ich meine damit wirklich Verbesserungen eines Kurses, nicht einfach die Aussage, dass einem der Stoff zu umfangreich ist.

Welche Strukturen müssen von bildungsökonomischer und politischer Seite etabliert werden?

Wir haben eine Zunahme an Studenten, die aber nicht im gleichen Maße einer Zunahme der Lehrkörper entspricht. Gleichzeitig ist das ganze Bildungssystem durchzogen von prekären Arbeitsbedingungen (beispielsweise Dozenten, die pro Unterrichtsstunde aber nicht für die Vorbereitung bezahlt werden) und Zeitverträgen. Und das hat ziemlich üble Folgen: Ich kenne so viele talentierte Leute, die dem System den Rücken gekehrt haben und jetzt irgendwo in der Industrie arbeiten. Diese Leute hätte man wirklich gebraucht. Stattdessen werden Positionen sehr eindimensional vergeben, so dass sich die Professoren, die feste Stellen haben in ihrem Profil zu oft ähneln.

Dabei will man als Bildungssystem ja eigentlich genau das Gegenteil, man will Diversität in der Lehre. Man möchte, dass Studenten unterschiedliche Blickwinkel bekommen und lernen, dass es nicht „die eine reine Lehre“ gibt. Hier müssen wir deutlich flexibler werden. Die zunehmende Quantifizierung von Forschungsleistungen, die oft das einzige Einstellungskriterium sind, tut aber im Grunde genau das Gegenteil und schafft statt Vielfalt eine Art Monokultur, um es mal überspitzt darzustellen.

“Viele Verbesserungen meiner Kurse kamen von Studenten selber, die auf mich zugekommen sind und gesagt haben, dass sie Ideen haben, was man anders oder besser machen könnte.”

Und was ist mit den MOOCs und vielen e-Learning Plattformen – werden diese die klassische Präsenz-Universität ersetzen?

Erstmal gehe ich davon aus, dass wir in Zukunft mehr und nicht weniger Bildung brauchen werden. Die Welt wird zunehmend komplexer, eigentlich jedes einzelne Wissensgebiet nimmt rasant zu. Dazu hatten wir ja eingangs gesprochen. Es gibt Studien, die sagen, dass es weniger als zehn Jahre dauert, bis die Menschen das Weltwissen verdoppelt haben. Und um von dieser Zunahme an Wissen zu profitieren, müssen wir es in die Köpfe der Menschen bekommen, zumindest Teilweise. Daher brauchen wir viel Bildung und ich gehe nicht davon aus, dass es dafür in Zukunft einen einzigen goldenen Weg gibt. Die Frage ist also eigentlich nicht: Schaffen MOOCs die Präsenz-Universität ab, sondern eher: Wofür nutzen wir was? Ich sehe bei meinen Studenten einen unglaublichen Bedarf nach einem sozialen Lernumfeld. Der größte Wert einer Universität für Studenten sind in aller Regel die Kommilitonen. Das ist natürlich schwer zu schlucken als Professor, ist aber trotzdem so.

Bei MOOCs habe ich erstmal kein soziales System, in dem ich lernen kann. Daher sind die Abbruchraten bei MOOCs auch so hoch. Aber sie können ein wunderbares Werkzeug sein, wenn ich sie mit einem bestehenden sozialen System kopple. Sagen wir mal eine Abteilung in einer Firma möchte sich zu einem bestimmten Thema besser informieren, dann wäre ein MOOC über den man innerhalb der Firma spricht, eine gute Option. Gerade wenn wir das Zauberwort des lebenslangen Lernens in den Ring werfen, werden wir sehen, dass unsere Universitäten das kapazitiv gar nicht könnten. MOOCs und andere Formate sind daher ungemein wichtig.

Zum Schluss: Die Universität der Zukunft – wie sollte sie Ihrer Meinung nach aussehen? (Stichwort: Ort, Lehrinhalte, Lehrstruktur, Ausbildung von Dozierenden)

Auch hier bin ich für Vielfalt. Die Universität der Zukunft sollte eben anders aussehen als die nächste Universität. Wir suchen immerzu nach Musterlösungen, den idealen Kandidaten, die ideale Lehrumgebung, die ideale Uni und dabei fällt der Wert von Diversität schnell unter den Tisch. Für die Universität der Zukunft würde ich mir daher wünschen, dass sie den Mut hat, anders zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: jarmoluk via pixabay, CC0, bearbeitet.

Beitragsbild: Sascha Friesike, CC0, bearbeitet.

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