netneutrality_cropIn den USA wird sie festgeschrieben, in Europa steht sie auf der Kippe – die Netzneutralität ist derzeit ein viel diskutiertes Thema. Doch worum geht es bei der Debatte um das freie Internet eigentlich genau und was spricht für und gegen die Priorisierung von Daten im Netz? Wir haben die wichtigsten Fakten zusammengetragen.

Worum geht’s?

Internationale Geschäftsmodelle, Musik und Videos, die über Nacht die Welt erobern, ein den Globus umspannendes Netzwerk: Der weltweite Siegeszug des Internets wäre ohne den freien und unabhängigen Zugang und die wertneutrale Übertragung von Daten niemals möglich gewesen – sie sorgen für eine gleichberechtigte Teilhabe am digitalen Informationsaustausch. Unabhängig von der Herkunft kann im World Wide Web jeder Inhalte generieren und abrufen – eine demokratische Errungenschaft, ohne die sich die kreativen und ökonomischen Innovationspotentiale des Internets nicht hätten entfalten können. Um diesen egalitären Charakter zu erhalten, wird seit jeher Netzneutralität gefordert: In einem neutralen Netz werden alle Daten gleich schnell und mit gleicher Qualität übermittelt, unabhängig davon, welcher Kunde welche Inhalte von welchem Anbieter anfordert. Eine Nachricht von Merkel an Obama würde dann genauso schnell transportiert werden wie eine beliebige Spam-Mail. Nach diesem „Best-Effort-Prinzip” werden alle Daten im Rahmen der verfügbaren Ressourcen immer schnellstmöglich übertragen – oder eben alle gleich langsam, wenn die Kapazitäten ausgeschöpft sind.

Befürwortern der Netzneutralität fassen das Internet als öffentliches Gut auf, ähnlich der Versorgung mit Strom und Wasser. Da interessiert es schließlich auch niemanden, wer den Strom abzapft und ob er damit einen Fernseher oder ein Rührgerät zum Laufen bringt.

Seitdem im Internet jedoch immer mehr Daten übertragen werden, kommt es vermehrt zu Staus. Deshalb bieten schon jetzt einige Dienstanbieter die Möglichkeit an, Daten zu priorisieren, also kostenpflichtige Überholspuren zu nutzen. Sollte dagegen die Netzneutralität gesetzlich verankert werden, wird es Internetanbietern verbotens sein, Daten zurückzuhalten oder gegen Zuzahlung schneller zu transportieren. Denn ein Inhalteanbieter kann zwar über viele Netze ausliefern, auf dem letzten Abschnitt jedoch werden die Daten im Netz des Endkunden-Providers übertragen – hier herrscht kein Wettbewerb alternativer Routen mehr.

Bin ich beispielsweise Vodafone-Kunde und möchte über Netflix die Serie „Game of Thrones” streamen, dann kann Netflix die Daten zunächst auf beliebigem Weg zu mir senden – kommt aber nicht darum herum, sie mir im letzten Abschnitt in meinem Vodafone-Netz zu übermitteln. Ohne festgeschriebene Netzneutralität könnte Vodafone dazwischengrätschen und von Netflix für die störungsfreie und schnelle Übermittlung der Daten zusätzliche Gebühren verlangen. Netflix könnte sich das vermutlich leisten – so mancher kleinere Anbieter aber wohl kaum. Auf die Spitze getrieben wird diese Praxis durch sogenannte Zero-Dienste: Beim Kauf der Sim-Card eines bestimmten Providers ist das Surfen auf einzelnen Websites, meist Facebook, gratis. Vor allem in Entwicklungsländern, wo sich nur wenige Nutzer einen Internetanschluss leisten können, ist Facebook somit oft die einzige Informationsquelle und der exklusive Draht in die digitale Welt.

Der Provider nimmt damit eine Schlüsselposition ein, die durch die Netzneutralität vermieden werden soll. Auch bei der Zusammenschaltung von Providernetzwerken haben Inhalteanbieter keine Alternative zu Endkunden-Providern, Kunden sind folglich also immer nur über ein einziges Netz erreichbar.

Die Argumente der Gegner

Das Hauptargument der Gegner der Netzneutralität: Der Platz im Internet ist begrenzt, wie auf einer vollen Straße kommt es auch auf den Datenautobahnen zu Staus. Kostenpflichtige Überholspuren sollen den teuren Ausbau der Netze finanzieren; wer möchte, dass seine Inhalte schneller übermittelt werden, soll dafür extra zahlen können. Bestimmte Daten müssten auch bevorzugt werden können, weil etwa Spezialdienste wie die Telemedizin oder der Katastrophenschutz darauf angewiesen seien, störungsfreie Hochgeschwindigkeitsleitungen zu nutzen.

Den Neutralitätsgegnern geht es aber auch um Gerechtigkeit. Schließlich sei es nicht fair, dass eine Minderheit einen Großteil der Bandbreite durch das regelmäßige Streamen großer Datenmengen beanspruche und dass die dadurch entstehenden Kosten von den Gelegenheitsnutzern mitfinanziert würden. Wer mit dem Angebot seines Anbieters nicht zufrieden sei, solle wechseln, empfehlen sie. Denn Netzbetreiber würden letztlich auf unverhältnismäßig hohe Kosten für schnelle Verbindungen verzichten und ihre Macht im eigenen Interesse nicht ausnutzen – dafür sorge schließlich der freie Markt. Und nur weil man nach neuen Wegen suche, Kosten und Gewinne zu verteilen, sei nicht automatisch die Freiheit des Internets bedroht. Ein Mehrklassen-Internet verstoße auch gar nicht gegen die Netzneutralität, solange der Kunde die Wahl hat und nicht der Provider. Betreiber hätten dann lediglich die Möglichkeit, auf ein und derselben Plattform optimierte Netze für unterschiedliche Verkehrsarten anzubieten – aus denen der Nutzer das am besten geeignete Netz für die jeweiligen Aktivitäten wählen könne. Vergleichbar sei das mit dem Nebeneinander von Autobahnen, Bundes- und Landstraßen – dort sei die Neutralität der Fahrzeuge im Straßenverkehr ebensowenig gefährdet.

Gegner der geplanten Netzneutralität sind vor allem die Netzbetreiber. Das überrascht nicht, beklagen sie doch immer wieder das fehlende Geld für den Breitbandausbau, der von ihnen vorangetrieben werden soll. Um das Loch in den Kassen zu stopfen, erhoffen sie sich nicht nur Geld für Zusatzdienste vom Endkunden, sondern auch von globalen Webdiensten wie Google oder YouTube, die große Datenmengen benötigen. „Wir brauchen sozusagen Verkehrsregeln, weil Produkte unterschiedliche Anforderungen haben”, sagte Vodafone-Deutschlandchef Jens Schulte-Bockum der Nachrichtenagentur dpa. Er begründete das damit, dass zum Beispiel Echtzeit-Angebote eine gesicherte Übertragungsqualität benötigten.

Und was spricht für die Netzneutralität?

Auf Seiten der Netzneutralitäts-Befürworter stehen unter anderem Netzaktivisten im Ring. Sie fordern einen diskriminierungsfreien Zugang aller Nutzer zum Internet und wollen vor allem eines verhindern: das „Zwei-Klassen-Internet”. Die Anhänger befürchten, dass ohne die gesetzlich verankerte Netzneutralität nur wenige Firmen ihre Inhalte bevorzugt behandeln lassen könnten. Insbesondere große, bereits etablierte Anbieter wie YouTube oder Netlfix könnten es sich dann leisten, ihre Videos störungsfrei in HD-Qualität laufen zu lassen, während kleinere Unternehmen oder gar Start-Ups keine Chance dagegen hätten. Innovation und echte Konkurrenz gäbe es dann kaum noch, denn das hieße, dass sich nicht der Beste langfristig auf dem Markt durchsetzt, sondern der mit der dicksten Geldbörse. Damit wäre auch die Meinungs- und Pressefreiheit in Gefahr, befürchten die Befürworter der Netzneutralität. Denn der Zugang zum Internet gehöre mittlerweile zur Grundversorgung, der Breitbandausbau sei deshalb vor allem Aufgabe der Politik – sie müsse in eine bedarfsgerechte Versorgung investieren, fordern sie. In einer Marktwirtschaft müsse der Staat eine Infrastruktur schaffen, von der alle Unternehmen gleichermaßen profitieren können. Außerdem werde Bandbreite nicht unwiederbringlich verbraucht wie Wasser, alleine zu viel gleichzeitige Nutzung könnte zu Datenstaus führen. Wenn man hier wirklich Gerechtigkeit schaffen wollte, müsste man die Tarife also dynamisch in Abhängigkeit von der aktuellen Belastung berechnen – äußerst schwierig.

Auch Datenschützer liefern Argumente pro Netzneutralität: Damit sie Inhalte unterschiedlich behandeln können, müssten Netzbetreiber alle Daten im Detail analysieren. Nur so könnten sie herausfinden, ob es sich um die Daten eines digitalen Herzschrittmachers (wichtig) oder um das Video eines tanzenden Babys (unwichtig) handelt. Diese so genannte Deep Packet Inspection (DPI) werten Datenschützer als einen Verstoß gegen das Kommunikationsgeheimnis und sehen die Privatsphäre der Kunden bedroht.

Wenn Zuzahlungen vermieden werden, profitieren auch Online-Anbieter von der Netzneutralität, insbesondere kleinere Unternehmen und gemeinnützige Anbieter, die nur dann mit größeren Playern konkurrieren können, wenn diese nicht die Möglichkeit haben, ihre Kunden mit Luxusleitungen zu locken. Zudem ist Medienvielfalt im Netz allein schon aus netzarchitektonischer Sicht eine Notwendigkeit: Das neutrale Ende-zu-Ende-Prinzip macht es Übermittlern von Daten bislang unmöglich, vereinzelte Anwendungen an den Endpunkten des Netzes auszuschließen – jeder Empfänger kann auch Anbieter sein, jeder Anbieter kann jeden Empfänger erreichen – zumindest bislang, denn zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine zentrale Kontrollinstanz.

Wie hält Europa es mit der Netzneutralität?

Die Europäische Union hatte vor, den gesamten Telekommunikationsmarkt zu regulieren: Neben der Verankerung der Netzneutralität sollten bis Ende dieses Jahres auch die Roaming-Gebühren wegfallen – eigentlich. Damit wollte das EU-Parlament ursprünglich erreichen, dass alle Daten im Netz gleich behandelt werden: Im April 2014 stimmte es deshalb einem entsprechenden Vorschlag der Kommission zu – allerdings schon damals mit vielen Änderungen und erst nach massiven Protesten aus der Bevölkerung.

Die europäischen Trilog-Verhandlungen von Kommission, Rat und Parlament über den Entwurf konnten jedoch zunächst nicht beginnen, da keine Einigung der Mitgliedsstaaten auf einen gemeinsamen Standpunkt in Sicht war, Einwände kamen beispielsweise von Italien. Die deutsche Bundesregierung hingegen wollte im EU-Rat eine Mehrheit für ihre „Netzneutralität Plus” erreichen, die Sonderregelungen zulässt. Wie es scheint, ist ihr das geglückt – und die Netzneutralität in der Europäischen Union gefährdet. Denn Anfang März 2015 kippten die europäischen Minister im EU-Rat nicht nur die vollständige Abschaffung der Roaming-Gebühren, sondern verwässerten auf Betreiben der Provider-Lobbyisten zudem den Beschluss zur Netzneutralität. Sie einigten sich darauf, bestimmten Diensten die Nutzung von Überholspuren zu gestatten und Netzsperren möglich zu machen. Konkret wurde beschlossen, dass es öffentlichen Telekommunikationsanbietern gestattet sein soll, entsprechende Vereinbarungen mit „Endnutzern” zu treffen.

Mit dieser Position wird der Rat nun in die Trilog-Verhandlungen eintreten – Experten sehen die Verantwortung hierfür vor allem bei Deutschland, das die Debatte stark in die Richtung der Industrie gedrängt und eine sinnvolle Einigung blockiert habe. Angesichts der vagen Formulierungen schrillen bei der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi) die Alarmglocken – sie glaubt, dass der Text absichtlich unklar gehalten wurde, um Eingriffe in Datenpakete zu ermöglichen.

Und was sagt unser EU-Digitalkommissar Günther Oettinger zur Netzneutralität? Der sprach sich noch im Januar für einen diskriminierungsfreien Qualitätsstandard für alle aus, Ausnahmeregelungen hielt er für denkbar. Im Industrie-Ausschuss des Europäischen Parlaments Ende Februar hatte Oettinger dann doch „noch keine abschließende Meinung” zur Netzneutralität, und nur eine Woche später meinte er bei strikten Befürwortern der Netzneutralität gar „Taliban-artige” Züge zu erkennen. Sollten sich EU-Rat und EU-Parlament nun einig werden, so würden die Beschlüsse das bestehende nationale Recht ersetzen. Für eine einheitliche Netzneutralität in Europa wäre das der Todesstoß. Dabei gibt es bereits jetzt in Deutschland und Europa zahltreiche Verstöße. Es wird davon ausgegangen, dass europaweit 35 Prozent der Internetanbieter die Netzneutralität einschränken. Und Mobilfunkverträge für das Smartphone haben fast alle Volumenbegrenzungen – Apps mit hohem Datenaufkommen werden dadurch schon heute benachteiligt.

Lediglich in zwei europäischen Ländern ist aktuell ein neutrales Netz gesetzlich verankert: In den Niederlanden ist es Mobilfunkanbietern seit 2011 verboten, Kunden die Nutzung von internetbasierten Kommunikationsservices extra zu berechnen, Slowenien folgte diesem Beispiel 2013. Erst vor Kurzem wurden die Netzbetreiber Vodafone und KPN wegen Verstößen gegen das Gesetz der Netzneutralität verurteilt. Vodafone bot mit einem Abonnement drei Monate kostenfreien Zugang zu Online-TV-Angeboten. Dieses Angebot schränkt Internetnutzer in ihrer Wahlfreiheit und Innovation ein, wurde geurteilt – Vodafone muss 200. 000 Euro Strafe zahlen. Dass sich die Niederlande und Slowenien nun auf europäischer Ebene im Alleingang für die Netzneutralität und somit gegen die Position des Rates dauerhaft durchsetzen werden, ist äußerst fraglich. Nur in sehr engen Grenzen können nationale Parlamente versuchen, EU-Gesetzesinitiativen zu kontrollieren oder zu Fall zu bringen, und für das ablehnende Votum eines Gesetzesentwurfs sind unterschiedliche Schwellenwerte notwendig.

Netzneutralität – ein amerikanischer Traum?

Eine klare Ansage wurde dagegen in den USA gemacht: Ende Februar 2015 stimmte die FCC, die oberste Aufsichtsbehörde für Telekommunikation, für die Netzneutralität in den Staaten. Der Vorschlag von FCC-Chef Tom Wheeler erhielt eine knappe Mehrheit, Internetanbieter dürfen in den USA in Zukunft also weder Daten zurückhalten, noch diese gegen eine Gebühr schneller durchstellen. Wheeler möchte, dass das Internet „heute und künftig für alle Amerikaner” offen zugänglich bleibt.

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die Amerikaner diesen Schritt gehen, denn in den Vereinigten Staaten gibt es weniger als ein Dutzend Provider, über die Hälfte der Bevölkerung kann ihren Internetanbieter nicht frei wählen. Folglich herrscht keine Konkurrenz auf dem Markt – und Anbieter können den Verbrauchern ihre Spielregeln diktieren. Große Konzerne wie Facebook oder Netflix wollen zudem kein Geld in den allgemeinen Netzausbau stecken und bauen lieber ihre eigenen Netze auf. Wheeler befürchtete, dass sich das für die Unternehmen abseits der Ballungsräume nicht lohnt und ländliche Regionen so vom Netz abgeschnitten werden. Durch die Netzneutralität soll sich all das nun ändern. Allerdings wird erwartet, dass die Internetprovider die Entscheidung der FCC anfechten – vor allem aufgrund einiger sehr allgemein gehaltener Passagen, die der FCC im Zweifelsfall viel Ermessenspielraum einräumen.

EU USA

Europäische Netzaktivisten träumen nach Wheelers Vorstoß von amerikanischen Verhältnissen, was in Sachen Digitalpolitik durchaus Seltenheitswert hat. EU-Politiker zeigen sich dagegen distanziert. Worin sich aber alle einig sind: dass man den deutschen und den US-amerikanischen Markt kaum miteinander vergleichen kann. In Deutschland und Europa gibt es eine Vielzahl verschiedener und frei wählbarer Kommunikationsunternehmen, in den USA dagegen ist das Angebot stark begrenzt und extrem von den großen Kabelnetzbetreibern dominiert.

Hinzu kommt, dass viele europäische Internetprovider ehemalige Staatskonzerne sind, die vergleichsweise stark reguliert werden. Dennoch: Anbieter wie Google und Netflix werden auch hierzulande genutzt, demnach hat der amerikanische Beschluss auch Einfluss auf europäische Märkte. Ob die USA ein Vorbild in Sachen Netzpolitik für die EU sein können, bleibt bislang offen. Auf beiden Seiten des Ozeans änderte sich die Position zur Netzneutralität in den vergangenen Jahren mehrfach.

Sehen Sie zum selben Thema auch unser 18. Berliner Hinterfhofgespräch mit Katharina Nocun, Hubertus Gersdorf und Jürgen Brautmeier unter der Leitfrage: “Netzneutralität – ein amerikanischer Traum oder bald europäische Realität?”

Foto: Backbone Campaign

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