Anke Domscheit-Berg über Buzzwords, das bedingungslose Grundeinkommen und nachhaltige Technologien. Das Gespräch führten Steffen Wenzel und Sarah Heuberger

Frau Domscheit-Berg, wir gehen mal davon aus, dass Sie momentan nicht sonderlich zufrieden sind mit der Digitalstrategie und den Digitalinitiativen der Bundesregierung. Aber was kann man denn besser machen?

Das was zuallererst fehlt, ist eine vernünftige Governance-Struktur und eine Strategie, die auch eine ist. Es wurde ein Papier veröffentlicht, in dessen Titel das Wort steht, aber davon wird es noch lange keine Strategie. Da wurden nur irgendwelche Projekte aufgelistet. Es kommen nicht mal Begriffe wie Digitalrat vor. Warum hat man den denn? Open Access oder Netzneutralität spielen offenbar auch keinerlei Rolle, weil sie kein einziges Mal vorkommen. Aber es kommt 56 mal „Cyber“ vor und 30 mal „Blockchain“. Ich habe wirklich das Gefühl, die Bundesregierung hat sich die buzzigsten Buzzwords rausgesucht und gehofft, dass ihre Digitalstrategie dadurch innovativ wird.

Dann haben Sie jetzt die Chance, es besser zu machen. Was sind Ihre Vorschläge?

Über allem steht doch die Frage, in welcher Art Gesellschaft wir leben wollen und wie wir Technik dafür nutzen können. Das ist das Erste, das wir uns überlegen müssen. Dann brauchen wir eine vernünftige Infrastruktur. Das muss eine der höchsten Prioritäten überhaupt sein. Das fängt an bei ordentlicher Glasfaser, wo viel Zeit verloren wurde. Die Infrastrukturfrage hat auch mit der Angleichung der Lebensverhältnisse von Stadt und Land zu tun, etwa wenn es darum geht, dass gerade in der digitalen Gesellschaft Zukunft wieder stärker im ländlichen Raum stattfinden kann. Da müssen wir erst recht dafür sorgen, dass die Dörfer und Provinzen an das globale Netz angeschlossen sind. Dann muss niemand, der nicht will mehr in die Städte ziehen. Wir brauchen die Infrastruktur also nicht in “selten und teuer” oder nur für die Städte, sondern für alle als Grundrecht und als Daseinsvorsorge.

Im Interview mit der Chip letztes Jahr haben Sie 5G „das Netz für Reiche“ genannt. Was können wir tun, um digitale Teilhabe für alle zu gewährleisten?

Teilhabe setzt voraus, dass es die Infrastruktur gibt und dass man sich ihre Nutzung leisten kann. Wir haben eines der teuersten und löchrigsten Mobilfunknetze Europas. Für Zugang zum Gigabit-Netz fehlt uns die Glasfaser und wo es sie gibt, ist sie zu teuer. Dabei ist Glasfaser als Infrastruktur der digitalen Gesellschaft, ein natürliches Monopol: Jeder braucht sie, aber nur einmal, einmal in richtig. Das ist ein bisschen wie bei Abwasserrohren: Das Leben ohne Abwasserrohr ist ein unschönes. Aber ich brauche doch keinen Wettbewerb über Abwasserrohre. Ähnlich ist es mit Stromleitungen. Ich habe genau eine Stromleitung in mein Haus, kann aber trotzdem von fünf Anbietern Strom kaufen. Auch bei der Glasfaser sollte der Wettbewerb auf der Dienstebene stattfinden, nicht bei der Infrastruktur. Man muss nicht gleich die Telekom verstaatlichen, aber man kann die Versorgung mit der digitalen Infrastruktur zur Daseinsvorsorge erklären und mit den Milliarden für Breitbandförderung aus Steuermitteln primär Kommunen ermöglichen, damit, ihr eigenes Glasfasernetz auszubauen und über die Stadtwerke zu betreiben – genau wie die Abwasserrohre. Dann wird es gut und preiswert – wie in Schweden, wo zwei Drittel aller Kommunen ihr eigenes Glasfasernetz besitzen.

Ist das auch ein Bürokratieproblem in Deutschland? Man hört ja immer wieder von Kommunen, die ihre Fördergelder für den Glasfaserausbau zurückgeben, weil es ihnen zu kompliziert ist.

Bei uns vor dem Haus wurde neulich Glasfaser verlegt, man erkennt diese Art Spezialfahrzeuge für Glasfaser ja sofort. Mein Mann hat die Bauarbeiter angesprochen und sich nach oben durchgefragt. Die Mitarbeiter des skandinavischen Unternehmens erzählten ihm, wie die Bürokratie in Deutschland ihnen alle Pläne durchkreuzte. Denn alle hundert Meter sei jemand anders verantwortlich für die Genehmigung: Es ist jemand anderes für die Böschung eines Flusses zuständig, als für das Flussbett selber. Es gibt zum Beispiel untere und obere Forstbehörden, untere und obere Wasserbehörden, untere und obere Straßenbaubehörden. Und es gibt Naturschutzbehörden, falls ein geschütztes Biotop auf dem Weg liegt. Manche Behörden reagieren schnell, andere ewig nicht. Dann hat man eine wahnsinnig teure Maschine, die in einem Ritt von Skandinavien bis Berlin Glasfaser verlegen könnte. Aber zwischendurch fehlen immer wieder Genehmigungen. Dafür stelle ich mir als Lösung einen Runden Tisch Breitband vor, wo alle Beteiligten einmal im Monat gemeinsam die vorliegenden Anträge abarbeiten. In Schweden klappt das viel besser.

Abgesehen von der Infrastruktur, welche anderen großen Herausforderungen bei der Digitalisierung sehen Sie noch?

Wir brauchen eine soziale Revolution, die die digitale begleitet, also einen Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme. Das gehört nach ganz oben, ins Kanzleramt. Das Thema hätte im Koalitionsvertrag stehen müssen, da kommt es aber nicht vor. Da hätte drin stehen müssen, dass man sich auch mit den langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft und der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme beschäftigt. Was passiert denn, wenn die Lohnquote immer weiter sinkt? Was ist, wenn ich künftig Fabriken habe, in denen fast ausschließlich Roboter Sachen produzieren, die keine Lohnsteuer bezahlen und auch keine Sozialbeiträge? Wir Menschen werden aber immer noch da sein und wir werden alt und zu Pflegefällen. Wir werden keinen Mangel an Wertschöpfung haben, aber sie muss anders verteilt werden, wenn das über Löhne immer weniger passiert.

Das böse Wort Umverteilung. Vielleicht müsste man es anders nennen.

Anke Domscheid-Berg by Johannes F. RäbelDas wäre aber auch wieder in die Tasche gelogen. Aber wenn wir mal zurückschauen zur letzten großen industriellen Revolution: Auch die ist mit extremen sozialen Verwerfungen einher gegangen. Auf einmal hatte man Kinderarbeit und 16 Stunden lange Arbeitstage – auch an Wochenenden, Arbeitsschutz war ein Fremdwort. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren unerträglich. Wegen dieser sozialen Verwerfungen entstanden damals Errungenschaften der heutigen sozialen Sicherungssysteme. So entstanden Gewerkschaften, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung – das war nichts weniger als eine soziale Revolution. Die damaligen Maßnahmen reichen heute nicht mehr aus. Die aktuelle industrielle Revolution wird ihre eigenen sozialen Erfindungen brauchen, um die negativen Auswirkungen der Umbrüche zu mildern.

Auch viele CEOS im Silicon Valley haben dieses Problem erkannt und setzen sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ein. Was gäbe es denn Ihrer Meinung noch für andere Optionen?

Es gibt möglicherweise andere, aber ich habe noch keine andere und schon gar keine bessere Idee als das BGE gehört. Ich glaube im übrigen nicht, dass es einen Mangel an Arbeit geben wird. Aber bezahlte Arbeit wird weniger werden, deshalb muss sowohl die bezahlte als auch die unbezahlte Arbeitszeit gerechter verteilt werden. Es wird auch Phasen geben, in denen man länger keine bezahlte Erwerbsarbeit hat und stattdessen neue Dinge erlernt. Da brauche ich mir jetzt aber kein lebenslanges Bildungs-Bafög ausdenken, denn das BGE passt auch hier, es ist ein lebenslanges Bildungs-Bafög.

Würde das BGE vielleicht auch dabei helfen, dass mehr Leute sich trauen, zu gründen?

Ich beschäftige mich sehr viel mit dem Thema Frauen in Startups und Innovationen und den Folgen unserer Sozialisierung. Ich weiß, dass Frauen tendenziell risikoaverser sind und eher nicht gründen, wenn sie nicht ein gewisses Sicherheitsnetz haben. Es gibt aber auch Männer, auf die das zutrifft. Momentan muss man drei Kriterien erfüllen, um erfolgreich zu gründen: Man muss eine gute Idee haben. Man muss von der Kompetenz her in der Lage sein, sie umzusetzen. Leider muss man aber auch noch extrem risikofreudig sein. Es gibt aber viele, die erfüllen Kriterium eins und zwei, aber Nummer drei nicht. Das heißt aber nicht, dass ihre Innovation nicht wichtig ist. Als Gesellschaft verzichten wir auf einen großen Teil an Innovationen, weil wir potenziellen Gründern nicht die Existenzangst nehmen. Mit dem BGE könnten wir das tun.

Das BGE könnte also insofern ein Instrument sein, wie man die sozialen Umbrüche durch die Digitalisierung nachhaltig gestalten könnte. Inwiefern gehören Digitalisierung und Nachhaltigkeit für Sie zusammen?

Ich finde, man muss sie sogar zwingend zusammen denken. Wir müssen nicht erst der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg zuhören, um zu wissen, dass da wirklich die Kacke am Dampfen ist. Und natürlich muss man alles, was die Digitalisierung hergibt, dafür nutzen, diese Veränderung zu erreichen. Gleichzeitig macht die Digitalisierung das Problem manchmal auch noch größer. Ob durch die Server, die einen Haufen Strom verbrauchen, der möglicherweise nicht sauber ist, oder durch die seltenen Erden in der Elektronik, die ständig weggeworfen wird. Mit dem Internet of Things wird das noch schlimmer. Aber auch wenn die GroKo kein nationales Roaming im Mobilfunk ermöglicht, werden vielerorts drei Basisstationen nebeneinander stehen, obwohl man eigentlich nur eine bräuchte. Das ist Ressourcenverschwendung!

Wo sehen Sie denn das Potential der Digitalisierung zu mehr Nachhaltigkeit beizutragen?

Zum Beispiel bei wirklich gut integrierten Mobilitätskonzepten in Smart Cities, wo man sinnvollen Nutzen aus dem Datenaustausch schöpft, weil ÖPNV, Fahrräder, und gemeinsam genutzte Autos, die mit sauberem Strom fahren, einfach kombiniert werden können, um von A nach B zu kommen. Das macht Mobilität einfacher, mit viel, viel weniger CO2 Ausstoß. Das ist keine Science Fiction, aber man muss es zur Priorität machen. Gerade im ländlichen Raum. Ich hatte noch nie ein Auto. Jetzt wohne ich glücklicherweise in Bahnhofsnähe, der Zug fährt stündlich nach Berlin. Aber die Leute im Ort wollen nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Himmelpfort oder in einen der anderen umliegenden Orte. Da fahren teilweise Rufbusse dreimal am Tag zu festen Zeiten, die man anderthalb Stunden vorher anrufen muss. Wenn es eine App gäbe, mit der ich ein Fahrzeug rufen kann, das mich zu jeder Zeit an jedem Ort 365 Tage im Jahr zum Beispiel nachts um drei von Steinförde nach Fürstenberg fahren könnte – wie perfekt wäre das denn? Wenn das dann ein 3D-gedrucktes autonomes Fahrzeug wie zum Beispiel der kleine Olli von Local Motors ist, der sich ohne fossile Brennstoffe bewegt, umso besser. Wer braucht dann noch ein eigenes Auto? Das muss nur intelligent organisiert sein und man muss zum Beispiel flexibler arbeiten können, damit nicht alle zur gleichen Zeit von A nach B und wieder zurück wollen.

Wie kann man diese Begeisterung der breiten Masse vermitteln?

Klassische Bildung ist zu langsam und erreicht nicht die Breite, dafür brauchen wir andere Lernorte, wo man neue Technologien auch sehen und anfassen kann. Dafür ist unser Versteh-Bahnhof ein gutes Beispiel, den wir letztes Jahr hier in Fürstenberg an der Havel eröffnet haben. Das ist ein sogenannter Makerspace, aktuell vor allem für Kinder und Jugendliche, aber perspektivisch kann jeder vorbeikommen, sich 3D-Drucker oder Lasercutter anschauen oder ausprobieren, ein Repair-Café kommt auch dazu. Im Osten ist die Reparaturkultur eh noch viel stärker ausgeprägt. Es kamen auch schon Handwerker bei uns vorbei, die sich neugierig einen 3D-Drucker aus der Nähe anschauten, um zu sehen, ob er für sie nützlich sein könnte.

Helfen diese Orte, Digitalisierung greifbar zu machen?

Auf jeden Fall, denn jeder kann so neue Technologien kennenlernen und dabei Ängste abbauen und das nicht nur gruselig finden. Viele sehen Digitalisierung vor allem als Bedrohung, dabei bietet sie auch jede Menge Potenzial. Menschen haben Angst vor dem, was sie nicht kennen. Und wo es Wissenslücken gibt, werden sie oft mit schwarzen Vorurteilen ausgefüllt. Auch deshalb müssen wir diese Lücken schließen.

 


Anke Domscheit-Berg
Die 51-Jährige ist Publizistin, Netzaktivistin und parteilose Bundestagsabgeordnete für Brandenburg in der Linksfraktion. Beruflich, politisch und ehrenamtlich engagiert sie sich vor allem für die Themenbereiche Digitale Gesellschaft, Open Government und Geschlechtergerechtigkeit. Sie lebt mit ihrer Familie im Norden von Brandenburg in Fürstenberg/Havel.


Bilder: Johannes F. Räbel

Die „Digitale Debatte“ ist eine neue Interviewreihe von politik-digital und dem Print- und Online-Magazin Berlin Valley, in der wir uns mit PolitikerInnen, ExpertInnen und VordenkerInnen über den digitalen Wandel unterhalten.