Seit knapp einer Woche sind die Nachrichten voll von Informationen über die Katastrophe in Japan und wir wissen nicht, was noch passieren wird. Wahrscheinlich ist kein anderes Land der Welt auf die Folgen einer solchen Katastrophe so gut vorbereitet gewesen, und dennoch sind die Auswirkungen so stark, dass der Mensch dem nur wenig bis gar nichts entgegensetzen kann. politik-digital.de bewertet die Rolle des Internet als Krisenmedium in Japan.

Auch wenn eine Woche nach dem Erdbeben und dem Tsunami noch längst keine abschließende Bilanz zur Krisenkommunikation gezogen werden kann, bewertet politik-digital.de heute die Rolle des Internet in dieser Notlage sowie die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure.  

Auf allen Nachrichtenkanälen wird über die aktuelle Situation in Japan informiert. Fast jede größere Zeitung, jeder TV-Sender hat auf der Homepage einen Live-Ticker eingerichtet, der eine Echtzeitkommunikation möglich macht. Aber – und das haben wir in dieser Form noch nicht erlebt – auch die sozialen Netzwerke spielen eine zentrale Rolle beim Austausch von Informationen. Japan als stark vernetztes Land konnte insbesondere diese Kanäle für sich nutzen. Trotz des teilweisen Zusammenbruchs des Telefonnetzes konnten Informationen über Twitter versendet werden, die es gleichzeitig erlaubten, die Katastrophe sehr schnell publik zu machen. Hierin kann eindeutig ein Vorteil des Social Media-Netzes gesehen werden, denn anders als beispielsweise nach dem Erdbeben auf Haiti ist eine unvergleichlich größere Informationsdichte möglich und Massen können über diese Netzwerke erreicht werden.

Um sich gegenseitig zu informieren und zu vernetzten, nutzen viele Japaner Online-Tools und schaffen sich somit in gewisser Weise eine Unabhängigkeit von den öffentlichen Medien. Es entsteht folglich eine eigenständige Handlungsebene, eine Art Gegenmacht zur Regierung. Zu erwähnen ist insbesondere der Personen-Finder von Google, der nach der Katastrophe gelauncht wurde. Daneben werden private Strahlungsmessungen über das Netz öffentlich gemacht, beispielsweise über die Facebook-Gruppe „Tokyo Radioactive NOW“. Dadurch wurden Austauschmöglichkeiten geschaffen, die informieren und ermutigen sollen. Der Microblogging-Dienst Twitter wird zum gegenseitigen Austausch aktueller Meldungen, Suchanzeigen und Benachrichtigungen genutzt, er hat zusätzliche Hashtags angelegt, für medizinische Information, für Informationen zur Evakuierung und für Hilferufe. Einen guten thematischen Überblick und Diskussionsverlauf bietet Trendistic.

Doch neben den enormen Vorteilen, die das Internet als Krisenmedium in dieser Situation bietet, sollte der Aspekt nicht außer acht gelassen werden, dass eine unqualifizierte Masse an Informationen über die Japaner hereinbrach. Stephan Ruß-Mohl, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Lugano, macht in seinem bei CARTA erschienenen Artikel darauf aufmerksam, dass manche Facebook-Nutzer "sich selbst mit einer Nachrichtenagentur verwechseln". Er stellt zur Diskussion, ob hierin nicht eine Herabsetzung des seriösen Journalismus gesehen werden könne und fragt: "Darf man das?" An diesem Punkt setzt auch Krystian Woznicki, Herausgeber der Berliner Gazette, an. In seinen "7 Thesen zum Erdbeben in Japan: Live-Internet, Crowdsourcing und der Disaster-Capitalism-Complex" ruft er dazu auf, sich aktiv an der Gestaltung seines Textes zu beteiligen, um im Sinne des Bürger- und Prozessjournalismus am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Am Beispiel seines Textes wird ersichtlich, dass durch Crowdsourcing verschiedene Blickwinkel auf die Diskussion gerichtet werden können. So sind seit Erstveröffentlichung von Woznickis Thesen am 12.03. an die 100 Kommentare erschienen, die der Autor inzwischen in drei Updates eingearbeitet hat. 

Indem Journalisten und Blogger informieren, können sie unmittelbaren Einfluss auf das Geschehen in Japan nehmen – jenseits von Panikmache und Betroffenheitsjournalismus. Substanzielle Informationen tragen im Gegenteil dazu bei, die Lage besser einschätzen zu können und den Betroffenen damit die Angst zu nehmen. Bei der Teilhabe durch das Live-Internet sollten nach Woznicki jedoch vier Forderungen erfüllt sein: 1. das Herausstellen der politisch relevanten Fragestellung, 2. die Sicherung der Qualität, 3. die Erstellung moderierter Plattformen, 4. die Initiierung von Informationsnetzwerken für die Kommunikation der Betroffenen und der Außenwelt. Im Gespräch mit politik-digital.de fordert Woznicki die breite Masse auf, Öffnungen innerhalb der Massenmedien zu nutzen, um aktiv am Geschehen teilzunehmen.

Schließlich stellt sich die Frage, wie die japanische Regierung das Internet für die Krisenkommunikation nutzt. Die Menschen fühlen sich nicht ausreichend informiert und viele, gerade außerhalb Japans, halten die Informationspolitik der Regierung und des Atomkraftwerkbetreibers von Fukushima, Tepco, für wenig transparent. Diesbezüglich bemerkt Woznicki gegenüber politik-digital.de, dass die Informationen durch die Beschleunigung früher und umfassender vorliegen, wodurch Medien und Regierung der Annahme unterliegen, die Kontrolle zu haben. Doch gerade mit dem Mittel des Ausnahmezustands setzt die Regierung ein zutiefst undemokratisches Mittel zur Kontrolle ein. Beide Seiten unterschätzen somit nicht nur die Katastrophe, sondern auch das Internet und hierbei besonders die Bedeutung sozialer Netzwerke. Woznickis Fazit besteht in der notwendigen Zusammenarbeit von Regierung und Medien: "Erst die umfassende Kollaboration ermöglicht es Regierung und Massenmedien, von der Beschleunigung durch das Internet zu profitieren." An dieser Win-win-Situation könne auch die Zivilbevölkerung Anteil nehmen.

Zur Erklärung des Handelns der Regierung führt Woznicki mehrere Begründungen an, unter anderem die Komplexität der Situation, die eine gewisse Zeit für die Reaktion beanspruche – ohne dass er das Verhalten der Regierung rechtfertigt. Gegenüber politik-digital.de ordnet er das Handeln der japanischen Regierung auch im kulturellen Zusammenhang ein: Die Regierung sei nicht unvorbereitet, sondern gefasst, und es gelte, das Gesicht zu wahren.

Auch der Krisenforscher Frank Roselieb meint, dass die japanische Regierung angemessen gehandelt habe, da sie eine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung habe und bei einer solchen Katastrophe nicht vorschnell
der Alarmzustand ausgerufen werden dürfe. Spätestens eine Woche nach dem Unglück solle die Regierung jedoch mehr Informationen herausgeben und die Bevölkerung in "Echtzeit" über das Geschehen unterrichten – das Verschweigen von Tatsachen sei dabei nicht akzeptabel. 

Japan hat die Chance, das Internet als das zentrale – auch grenzübergreifende – Krisenmedium zu nutzen und sich der Welt zu öffnen. Das Ausland hat dem gegenüber die Möglichkeit, mithilfe des Internet nicht mehr länger nur passiv, sondern – neben Spenden und logistischer Unterstützung – auch aktiv  über das Internet Anteil zu nehmen, etwa durch Web-Initiativen wie das Open Home Project, das Erdbebenopfern ein Bett in Berlin über das Netz anbietet. Das Nutzen sozialer Netzwerke und weiterer Online-Tools ermöglicht einen umfassenden und vielschichtigen Informationsfluss, um die Situation differenziert bewerten und entsprechend handeln zu können. Ob diese Chance in ihrer ganzen Dimension genutzt werden wird, wird sich erst zeigen.

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