Die Berichterstattung über die Situation in Ägypten ist angesichts der aktuellen dramatischen Ereignisse in Nordafrika in den Hintergrund geraten. Im November stehen jedoch in Ägypten erste freie Wahlen an. politik-digital.de sprach mit dem ägyptischen Sozialwissenschaftler Ahmed Khalifa über die politischen Verhältnisse in seiner Heimat.

Seit Februar berichtet politik-digital.de über den Einfluss sozialer Medien auf die Arabischen Revolutionen. Die Folgen der Aufstände für den politischen Aufbau und die Demokratisierung in Ländern wie Ägypten ist jedoch in den vergangenen Wochen anlässlich der dramatischen Situation in Libyen und der Aufstände in Ländern wie Syrien in den Hintergrund geraten.

politik-digital.de wollte wissen, wie sich die Situation in Ägypten heute darstellt und die Demokratisierung voranschreitet. Dazu sprachen wir mit dem Sozialwissenschaftler Ahmed Khalifa, dessen Spezialgebiet die Politikwissenschaft mit dem Fokus auf Friedens- und Konfliktforschung sowie Vergleichende Religionslehre ist. Der gebürtige Ägypter, der seit über 20 Jahren in Deutschland lebt, hat im Januar an den Protesten auf dem Tahrir-Platz teilgenommen: „Ich wollte dieses Ereignis unbedingt live miterleben“. Er verbrachte mehr als zwei Monate in Kairo, führte Interviews mit jungen Politikern und beobachtete die politische Parteienentwicklung in Ägypten. Des Weiteren sprach er mit der Bevölkerung im Landesinneren, um ihre Gedanken und Bedürfnisse besser zu verstehen. Khalifa will mit seiner Recherche die Vorbereitungen zu den Wahlen dokumentieren und schon jetzt zur Transparenz im Land beitragen.

Herr Khalifa, es gibt Berichte, die Wahlen für den November ankündigen. Wie ist Ihr aktueller Stand?

Ein festes Datum gibt es nicht, aber am 18. September soll die Wahlkommission ihre Arbeit beginnen. Die Wahlen sollen dann im November stattfinden.

Laut der neuen Verfassung dürfen sich jegliche Parteien neu gründen. Die Armee verbietet lediglich Parteien, die sich auf religiösen Grundlagen formieren. Warum dürfen dann Parteien wie die Muslimbrüder kandidieren? Sie gelten als Hort des politischen Islams. Stellen sie eine Gefahr für die Demokratie dar?

Nein. Die Muslimbrüderschaft ist ein Teil der ägyptischen Gesellschaft. Manche Experten sprechen sogar davon, dass sie 16 bis 30 Prozent der ägyptischen Gesellschaft repräsentieren. Sie nicht zu berücksichtigen, wäre eine Gefahr für die Demokratie. Der Fehler des alten Regimes war es, dass sie dies nicht getan haben. Eines steht aber fest: Die Muslimbrüder wollen auch weiterhin am politischen Geschehen teilnehmen. Die USA haben Kontakt zu ihnen aufgenommen. Alles Weitere wird sich in den kommenden Monaten, vor allem während der Wahlvorbereitungen zeigen.

Die neue Verfassung beruht bisher noch auf der alten Verfassung. Mit dem Verfassungsreferendum vom 19. März hat man sichdarauf geeinigt, eine neue Verfassung erst nach den Parlamentswahlen zu verabschieden. Die dann gewählten Parteien werden eine neue Verfassung aufstellen, die ab diesem Zeitpunkt gültig sein wird.

Es wird erwartet, dass sich bis zu 100 politische Parteien in Ägypten zur Wahl stellen werden. Wie viele davon haben reale Chancen, ins Parlament gewählt zu werden?

Es gibt einige Parteien, die eine reale Chance haben. Das sind die, die eine gute politische Infrastruktur und die nötigen finanziellen Mittel haben. Momentan werden Parteibündnisse gebildet, die rein strategische Bündnisse sind. In der jetzigen Übergangsphase, die noch sehr instabil ist, geht es vor allem darum, die Überzeugungen und die Organisation der anderen Parteien zu beobachten. Aber es ist zu erwarten, dass sich dies noch ändern wird kurz vor den Wahlen, da Macht kollegiale Bündnisse und Ideen auch verändern kann.

Welchen Parteien rechnen Sie Chancen zu?

Die größten Parteien mit den besten Chancen sind die „Al-Wasat“-Partei, die der Muslimbrüderschaft entstammt, und die „Freedom and Justice“-Partei, die von den Muslimbrüdern abgekapselt wurde. Ihnen gehört die jüngere Generation der Muslimbrüder an. Dann gibt es die Justice Party, die sich um den Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei gegründet hat, und die „Free Egyptians“. Ihre Anhänger gruppierten sich um Naguib Sawiris. Er ist ein ägyptischer Geschäftsmann in der Telekommunikationsbranche und Kopte. Seine Partei folgt liberalen Ansichten. Die Wafd-Partei spielt heute nur noch eine minimale Rolle, sie musste über die letzten Jahre deutlich an Einfluss einbüßen.

Wie gut ist der Wahlkampf der einzelnen Parteien organisiert? Wenn sie sich zu Wahlbündnissen zusammenschließen, erhöht das ihre Chancen auf Erfolg? Sind Parteien, die nicht Teil eines Bündnisses sind, auch gut aufgestellt?

Ja, es gibt einzelne allein kämpfende Parteien, die gut organisiert sind. Ich kann von einer Partei berichten, deren Organisation ich mir vor Ort angesehen habe, die erwähnte „Justice Party“ um el-Baradei. Sie hat keine einzelne Führungsspitze, sondern ein Führungskomitee. Dieses bietet eine gewisse Infrastruktur an, von Kairo aus gründet sie sich auch in anderen Städten. Die Partei organisiert Workshops, in denen versucht wird, ein Demokratieverständnis zu vermitteln. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass die politischen Systeme Deutschlands und Frankreichs verglichen werden, um zu sehen, welches das passendere System für Ägypten wäre. Da werden die Rolle der Verfassung, die Machtbefugnisse des Präsidenten, des Parlaments, die Rolle der Parteien und der Medien analysiert. Sie versuchen aber auch, sich intern demokratisch zu organisieren, indem sie interne Wahlen durchführen. Die Organisation einer Partei ist sehr schwierig und alle Parteien und Mitglieder stehen unter enormen Zeitdruck.

Nutzen die Parteien das Internet, um den Wahlkampf zu organisieren und Wähler für sich zu gewinnen?

Natürlich! Alle, wirklich alle haben die Bedeutung und die Stärke dieses Mediums erkannt und nutzen es sehr, sehr intensiv, und zwar Twitter und vor allem Facebook. Die Parteien kommunizieren sehr stark mit der Bevölkerung über soziale Netzwerke. Es sind die wichtigsten Beteiligungs- und Kommunikationsportale für die Parteien geworden. Die Parteien stellen dort öffentlich Fragen, die sie diskutieren lassen, und beobachten sehr genau die Reaktionen der Bürger. Es werden Gruppen gebildet, die Veranstaltungen und Workshops organisieren. Davon werden dann wiederum Videos oder Fotos hochgeladen, um den Bürgern und potentiellen Wählern Nähe zu vermitteln. Man versucht vor allem, durch das Internet Transparenz zu schaffen, denn das ist momentan die wichtigste Aufgabe.

Haben die Parteien eigene Internetseiten?

Ja, viele haben eigene Internetseiten. Die Muslimbrüderschaft hat eine sehr gute Internetseite, auf der man alles findet. Diese ist sowohl in Englisch als auch in Arabisch abrufbar und wird ständig aktualisiert. Aber auch andere haben sehr ansprechende und gute Seiten. Viele kleine Parteien ohne Zugang zu finanziellen Mitteln haben aber auch noch keine sonderlich guten Webauftritte.

Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass während der Aufstände das Internet und soziale Netzwerke eine wichtige Rolle gespielt haben?

Soziale Netzwerke und das Internet hatten während der Aufstände sowohl Vorteile als auch Nachteile. Zu den Vorteilen zählt, dass die Aufstände und Demonstrationen leichter und umfassender organisiert werden konnten. Menschen konnten schnell mobilisiert und Treffen konnten koordiniert werden. Des Weiteren tauschten sich Ägypter mit Tunesiern über ihre positiven und negativen Erfahrungen während der Revolution über das Internet aus. Auch Politiker nutzten das Netz, um ihre Meinungen auf Foren auszutauschen und um über den Regierungswechsel zu diskutieren. Junge Ägypter, die eine politische Karriere anstrebten, nutzten es, indem sie beispielsweise auf Blogs geschrieben haben. Natürlich wurde und wird auch sehr viel die internationale Presse gelesen, um ausländische Reaktionen auf die Revolution zu erhalten. Außerdem haben viele Ägypter Zeitungsartikel, wissenschaftliche Texte, Regierungs- und Organisationserklärungen online gelesen, um sich umfassend zu informieren.

Doch das Internet brachte auch schwerwiegende Nachteile mit sich. Viele Aktivisten und ihre politisch motivierten Aktivitäten im Internet wurden von der Regierung überwacht. So konnten sie leicht ausfindig gemacht und verhaftet werden. Das Erschreckende war, dass die Regierung Zugang zu all unseren Internetdaten hatte und zum Teil sogar nachverfolgen konnte, wo wir uns wann bewegten. Wir waren quasi ein offenes Buch für die Regierung. Die Software, die es ermöglicht, geheime Unterlagen sowie Internetaktivitäten von Regimekritikern in sozialen Netzwerken oder auf Skype zu überwachen, wurde übrigens von einer deutschen Softwarefirma verkauft.

Können die kommenden Wahlen frei, unabhängig und transparent sein, oder werden sie noch von dem alten Regime beeinflusst?

Das alte Regime versucht immer noch Einfluss auszuüben und probiert mit allen Mitteln zu sabotieren. Das führt häufig zu blutigen Straßenschlachten. Es wird vielfach behauptet, dass das alte Regime mit Schlägertrupps in solche Auseinandersetzungen verwickelt ist. Damit sind sie teilweise erfolgreich, da sie die Sicherheit im Land mit solchen Taten destabilisieren. Sie jagen den Bürgern Angst ein und versuchen ihre Präsenz zu demonstrieren. Das läuft natürlich alles verdeckt ab.

Dazu kommt, dass die Bevölkerung unzufrieden ist. Sie will schnelle Resultate sehen und erkennt nicht an, dass die Demokratisierung ein Prozess ist. Das trifft vor allem auf die ärmere Bevölkerung zu. Sie hatte gehofft, dass sofort nach der Revolution eine gerechte Verteilung stattfinden würde. Das sind alles Faktoren, die mit in die Wahlergebnisse einspielen werden und die eine Prognose über freie Wahlen fast unmöglich machen. Man muss auch bedenken, dass es die ersten freien Wahlen sind, seit Ägypten 1953 als Republik gegründet wurde.

Nachdem der Prozess gegen Mubarak gestartet ist, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Mubaraks und seinen Gegnern. Wer geht für Mubarak auf die Straße?

Das ist schwer zu sagen. In der ägyptischen Bevölkerung spielen Emotionen eine sehr große Rolle. Mubarak war lange Zeit lang der charismatische Führer. Es wird oft von den ersten Jahren gesprochen, in denen er äußerst viel Zuspruch erhielt. Hinzu kommt, dass er ein alter Mann ist, der krank ist und leidet – all das spielt in der patriarchalischen Bevölkerung eine sehr große Rolle. Es ist auch möglich, dass Schlägertrupps engagiert wurden,die in der Lage sind, die emotional gesteuerte Bevölkerung zu mobilisieren.

Es wird oft behauptet, der Prozess sei nur eingeleitet worden sein, um die Bevölkerung ruhig zu stellen. Wie schätzen sie das ein?

Für die Bevölkerung, die jahrelang unterdrückt wurde, ist eine Wahrheitsmission sehr wichtig. Sie muss psychologische Hilfe erhalten, indem die alten Regimeführer zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist wichtig, sie vorzuführen und zu befragen. Das ist im Prinzip eine psychologische Rache. Wie das jetzt ablaufen wird, ob Mubarak ins Gefängnis kommt, oder wie er bestraft wird, spielt im Moment noch keine bedeutende Rolle. Entscheidend für die Bevölkerung ist es, zu sehen, dass Mubarak und andere Verantwortliche genauso wie alle anderen Bürger vor Gericht kommen und bestraft werden.

In Tunesien resignieren viele junge und arbeitslose Menschen und wollen die Wahlen boykottieren, da sie die Vorteile der Revolution nicht direkt spüren. Ist das in Ägypten ähnlich?

Es fehlt einfach an Transparenz. Aber es gibt in Ägypten noch keine politische Kultur, die mit der Demokratie umzugehen weiß. In Deutschland wird man in eine politische Kultur hineingeboren. Aber für die Ägypter ist das alles neu. Sie wissen noch nicht, ob sie einen Teil des Kuchens abkriegen werden, und momentan steht es ökonomisch noch schlecht um das Land. Die arme Bevölkerung hat wenig zu essen.

Deshalb hilft die neue junge, politische und wirtschaftliche Elite den Armen. Auch die Partei um el-Baradei, die Muslimbrüderschaft und die Free Egyptians Party versuchen, Nähe zur Bevölkerung zu demonstrieren. Sie organisieren beispielsweise „Essen auf Rädern“ und wollen damit zeigen: „Wir sind für euch da, wir sind eine Nation und wollen das Land demokratisch aufbauen und Chancengleichheit für alle garantieren.“

Wie sind Sie persönlich mit der Situation in Ägypten zufrieden?

Momentan herrscht in Ägypten ein großes Chaos. Wie sollte es auch anders sein, nach einer sogenannten Revolution und dem Rücktritt von Mubarak am 11. Februar. Bis vor kurzem gab es ein System, zwar ein autokratisches System, aber es hat versucht, Ordnung in das Chaos zu bringen, jedoch mit Tyrannei und Gewalt.

Jetzt auf einmal ist alles frei und die Bürger versuchen sich zu orientieren. Es gibt sehr viele junge Leute, die gute politische Arbeit leisten mit sehr viel Geduld und Ausdauer. Ich bin froh über jede Hilfe, die auch von außen ins Land kommt. Deutschland ist da sehr aktiv, es bereitet zum Beispiel unsere Journalisten darauf vor, über die Wahlen und während der Wahlen zu berichteten. Wenn von innen und außen Hilfe kommt, denke ich, dass die Wahlen gut laufen werden und die Demokratie eine Chance hat.