Derzeit herrscht Krisenstimmung in Europa. Angst, Hilflosigkeit und Protest beherrschen die öffentlichen Diskussionen. Aber während die Einen über die Fehler der Eurozone streiten und versuchen, das Schlimmste zu verhindern, hat der Blogger Ronny Patz sich entschieden, die europäische Idee einfach zu leben.

Er führt ein europäisches Nomadenleben zwischen Moldawien, Belgien und Estland, um nur einige seiner Stationen der vergangenen Jahre zu nennen. Aktuell lebt der Politikwissenschaftler Ronny Patz in Berlin und promoviert an der Uni Potsdam über Informationsflüsse bei EU-Entscheidungen. Patz bezeichnet sich selbst als Transparenz-Aktivist und wird ab August hauptamtlich für Transparency International in Brüssel arbeiten. Schon seit Jahren bloggt er über Europapolitik auf seinem persönlichem Blog Polscieu. Als Mitbegründer von Bloggingportal.eu, wo 900 Blogs zu europäischen Themen gelistet sind, treibt er seit 2009 die Vernetzung europäischer Blogger voran. Ihn interessieren das Zusammenführen von Argumenten und die anschließende Diskussion darüber.

Eine Woche, nachdem das EU-Parlament das ACTA- Abkommen nicht zuletzt auch aufgrund gesamteuropäischer Massenproteste abgelehnt hat, kommt Ronny Patz zum Interview in die politik-digital.de-Redaktion. Im Gespräch gibt sich der 29-Jährige aufmerksam und unkompliziert. Er redet schnell und geradeheraus, ohne viele Umschweife. Hin und wieder schleichen sich französische oder englische Wörter ein. Unverkennbar ist er nicht nur in seiner Muttersprache Deutsch zu Hause.

Aktivist statt Diplomat

Aufgewachsen ist Patz in Sachsen-Anhalt. In der Kleinstadt Gommern besuchte er die Europaschule, wo bereits fünf Jahre nach dem Mauerfall Austauschprogramme mit der französischen Partnerschule zum Schulalltag gehörten. Lange Zeit wollte er Informatiker wie seine Eltern werden, erzählt Patz. Die Fahrt nach Frankreich in der elften Klasse habe seinen Fokus von „Ich und mein Computer“ auf „Ich und die Welt“ gelenkt, erzählt er weiter.
Es entstand der Wunsch, Diplomat zu werden, und so begann Patz ein Studium der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Schon damals fing er an, für die liberale Hochschulgruppe zu bloggen und wurde deren deutscher Vertreter auf internationaler Ebene. Während eines Praktikums bei der deutschen Vertretung beim Europarat in Straßburg und anschließendem Job für den Europarat in Moldawien erfuhr er, wie Europapolitik hinter den Kulissen gemacht wird. Konfrontiert mit der Realitätsferne des diplomatischen Betriebs und seiner eigenen Ungeduld, verabschiedete er sich rasch von dem Gedanken, in den diplomatischen Dienst einzusteigen.

Stattdessen entschied er sich für ein Promotionsstudium in Potsdam und bloggte weiterhin über Europapolitik – diesmal im von ihm gegründeten Euroblog. Dort kann er frei und kritisch über Europapolitik nachdenken. In der Blogosphäre könne man einfach mal miteinander diskutieren, ohne die Ereignisse in ein „fertiges Narrativ“ zu pressen, wie es von Journalisten und Berufspolitikern erwartet würde, beschreibt Patz die Vorteile des freien Schreibens im Internet. Als Blogger genießt er es, Themen nach persönlichen Interessen auszuwählen und unabhängig von ökonomischen Zwängen, Auflagenstärke oder Klickzahlen zu sein.

In der europäischen Blogosphäre diskutieren nur Experten

Wie kann man sich die europäische Blogosphäre vorstellen? Derzeit bestehe die Brüsseler Blase, jener abgeschottete Mikrokosmos aus Politikern, EU-Beamten und Lobbyisten, auch in den Blogs fort, bedauert Euroblogger Ronny Patz. Dort schreiben hauptsächlich „Berufseuropäer“ über EU-Politik, die sich nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch in ihrer Funktion mit Europa beschäftigen. Die einen schreiben über Minderheitenpolitik, während die anderen die neusten Entwicklungen der Eurokrise kommentieren oder über Sicherheitspolitik bloggen. Zwar verfügen die Euroblog-Autoren über ein enormes Hintergrundwissen, aber tauschen sich in ihrer eigenen Sprache aus, die den meisten Bürgern Europas verschlossen bleibt. Auch er selbst sei mittlerweile so ein Insider geworden, gesteht Patz. Man könne also nicht von einer echten europäischen Öffentlichkeit innerhalb der Blogosphäre sprechen, so Patz.

Die erfolgreichen ACTA-Proteste zeigen jedoch laut Patz bereits: Wenn Menschen sich online vernetzten und europaweit auf den Straßen demonstrieren, um gegen fehlende Transparenz zu protestieren, dann können sie durchaus Einfluss auf die Politik in Brüssel und Straßburg nehmen.

Doch noch fehlen die Beiträge „normaler“ Bürger, die in ihren eigenen Worten über Europa schreiben und reden und ihre Fragen stellen. Um diese in die Diskussionen miteinzubeziehen, müssten jedoch zuallererst die Sprachbarrieren überwunden werden. Mithilfe von Online-Übersetzungsdiensten könne man Texte mittlerweile relativ gut übersetzen lassen, meint Patz. Er lese sogar ungarische Blogs, die er sich ins Deutsche, Englische und Französische übersetzen lasse. Eine echte europäische Öffentlichkeit könne sich jedoch wohl erst dann im Internet entfalten, wenn auch Videos automatisch untertitelt und übersetzt würden.

Lobbygruppen profitieren von intransparenten EU-Behörden

Auch trauten sich viele Bürger nicht an eine Diskussion über europäische Politik heran, beklagt Ronny Patz. Das liege auch daran, dass EU-Institutionen zu intransparent arbeiten und so den öffentlichen Diskurs behindern. Angesichts der Tatsache, dass auf EU-Ebene wichtige Gesetze verabschiedet werden, fordert er, den normalen Gesetzgebungsprozess – wie auf nationaler Ebene auch – für den Bürger nachvollziehbar zu gestalten. Bei der EU-Kommission und dem EU-Ministerrat gebe es in dieser Hinsicht noch viel Handlungsbedarf. Beim EU-Parlament hingegen würde schon relativ transparent gearbeitet. „Es ist oft schwieriger, Informationen vom Bundestag zu bekommen als vom EU-Parlament“, betont Patz.

Dabei seien EU-Dokumente bereits in einem frühen Stadium und vor ihrer eigentlichen Veröffentlichung für Vertreter von Interessengruppen in Brüssel zugänglich. Diese „Brüssel-interne Öffentlichkeit“ sei früh in alles eingeweiht und könne sich dementsprechend einbringen. Die breite Öffentlichkeit werde jedoch erst viel später informiert. In seiner Doktorarbeit versuchte Patz die Entstehung der jüngsten Fischereipolitikreform nachzuvollziehen. Anhand von geleakten Dokumenten und von Dokumenten, die er über den Informationsfreiheitsweg und mithilfe der Mediation des EU-Ombudsmann von der EU-Kommission erhalten hat, stellte Patz fest, dass sich 50 Prozent des Reformtextes in der Zeit geändert hatte, in der Brüsseler Lobbygruppen bereits von der Reform wussten, die gemeine Öffentlichkeit jedoch noch nicht.

EU-Politik braucht keine Gespräche im Hinterzimmer

Viele EU-Beamte agieren, so Patz, aus einer gewissen Diplomatenmentalität heraus. Um die in der Europapolitik nötigen Kompromisse eingehen zu können, bedürfe es in ihren Augen eines privaten Raums hinter den Kulissen, wo Politiker im Stillen von ihrer Ausgangsposition abweichen können. „Wer behauptet, es sei nicht möglich, Kompromisse auf EU-Ebene zu schließen, sobald die Öffentlichkeit dabei ist, der hat Demokratie falsch verstanden. Demokratie bedeutet ja gerade, Kompromisse zu schließen. Man muss dann als Politiker der Öffentlichkeit besser erklären, warum man Kompromisse eingeht“, entgegnet Ronny Patz solchen Geheimniskrämern. Ein erster wichtiger Schritt von Seiten der Kommission und des Ministerrats wäre seiner Meinung nach, dass sie klar ausformulieren, welche Teilbereiche sie öffentlich machen und welche nicht. Denn zurzeit sei diese Grenze verschwommen, so dass manche Entscheidungen in der Öffentlichkeit willkürlich erschienen.

Mehr Tranzparenz in den EU-Institutionen würde die Brüsseler Blase entzaubern und versteifte Konventionen könnten aufgebrochen werden. Patz wünscht sich, dass auch Jugendliche im Schneidersitz über Europa diskutieren. Europa würde so noch ein Stück normaler werden.

Spricht man Ronny Patz auf seinen kosmopolitisches Leben an, so betont er, dass er es als Privileg empfinde, in den vergangenen Jahren an so vielen verschiedenen Orten gelebt und so viele unterschiedliche Menschen kennengelernt zu haben.
In seiner Antwort auf die Frage, warum er sich politisch engagiert, wird deutlich: Patz wünscht sich für die europäische Politik möglichst durchlässige Ländergrenzen und ein politisches Gemeinwesen, das grenzüberschreitend an globale Probleme wie den Umweltschutz herangeht. Europa ist aus seiner Perspektive der Prototyp eines Staatenbundes, den er sich für die ganze Welt wünscht. Was bleibt ihm da anderes übrig als es einfach zu tun, europäisch zu leben?