von Susanne Kirner und Heinrich Oberreuter
Manch einer, der mitten im Erwerbsleben steht, hat schon mal ausgerufen: “Wenn ich nur weniger arbeiten müßte, dann hätte ich mehr vom Leben!” Stimmt diese Vermutung, daß weniger Arbeit ein Gewinn an Zufriedenheit und Lebensgenuß ist? Für die Arbeitslosen sicher nicht!
Wie paßt es zusammen, daß die einen schuldlos mit Arbeitsentzug – und damit mit knappen Finanzen und sinkendem Ansehen – geschlagen sind und andere viel, manchmal zuviel Arbeit haben? Solche Fragen stellten die Evagelische Akademie Tutzing und der Bayerische Rundfunk neun Persönlichkeiten. Die Antworten, die Sie gaben, sind in dem kürzlich im Olzog-Verlag erschienenen Bändchen vereinigt. Einer der Herausgeber, Heinrich Oberreuter, faßt in seinem einleitenden Beitrag die wissenschaftliche Diskussion der letzten 25 Jahre über Wertewandel, materielle und postmaterielle Wertorientierung und über die Zentralität der Arbeit für das Leben der Menschen zusammen. Er kommt in seiner fundierten Darlegung zu dem Schluß, daß die Arbeits-, die Freizeit- und die Familienorientierung in den letzten Jahrzehnten gleichermaßen gestiegen sind. Während andere traditionelle Bindungen abnehmen, steigt die Bedeutung der Arbeit an, weil nur sie Einkommen und soziale Sicherheit verschafft. Immerhin: die immateriellen Ansprüche an die Arbeit sind gestiegen: sie soll Spaß machen und Sinn haben. Oberreuters Beitrag hätte eine Bibliographie und ein wenig statistische Untermauerung z. B. durch Ergebnisse der empirische Sozialforschung gut getan. Solche “Zugaben” fehlen den Beiträgen aller Autoren, auch denen der beiden Arbeitgeber-vertretern, Georg Obermeier (VIAG AG) und Dieter Hundt (Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände). Beide erklären die Ausgangsfrage der Tagung und des Buches für unzutreffend. Obermeier spricht über die Globalisierung und die Rezepte, mit denen der deutsche Staat ihr seiner Meinung nach begegnen sollte: Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkung und “Reform” des Sozialstaates. Was er anführt bzw. vorschlägt, ist nicht neu und zum Teil auch bedenkenswert – aber eigentlich doch etwas am Thema vorbei. Besonders dürftig ist aber der Beitrag Hundts. Auf die Ausgangsfrage antwortet er mit einem sturen “Weiter so”: “Arbeit bleibt das Zentrum unseres Lebens, unserer Arbeitsgesellschaft, ja unseres Lebenssinns.” Er richtet sein Augenmerk deswegen auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und schlägt dreierlei vor: Förderung von Innovationen, mehr Selbständigkeit und “Stärkung der Selbstverantwortung”. Unter Stärkung der Selbstverantwortung ist – man ahnt es schon – ein drastischer Rückbau des Sozialstaates zu verstehen, der nur noch eine sogenannte “Basissicherung” bieten soll. Ich frage mich oft: Was würde eigentlich der Philosoph Hans Jonas empfinden ob des inflationären Gebrauchs des Begriffs der Eigenverantwortung, wäre er nicht 1993 gestorben? Er, der ein konservativ-liberales Gegenmodell zum utopisch-kommunistischen “Prinzip Hoffnung” entwickelt hat: das Prinzip Verantwortung, welches in der Verantwortung für andere Menschen und für das Überleben der Erde besteht. Ich jedenfalls bin entsetzt über die Begiffsverwirrung, die aus dem noblen Prinzip der Hinwendung zum anderen und der Orientierung des eigenen Handelns an langfristigen Interessen der Menschheit ein Feigenblatt für Entsolidarisierung gemacht hat. Hundt behauptet, der Sozialstaat sei ein “Rundumsorglos-Paket”, das noch dazu nicht effizient sei: eine Behauptung, die eine empirische Analyse des EU-Statistikamtes EUROSTAT erst kürzlich widerlegt hat. Manche Mythen halten sich eben lange, wenn sie nur von starken Interessen gefördert werden.
Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG), Möllenberg, vertritt in seinem Beitrag Interessen, die der Arbeitnehmer. Er lehnt ein amerikanisches Modell der Vollbeschäftigung, bei dem das obere Drittel der Gesellschaft so gut verdient, daß es das untere Drittel als Dienstboten anstellen können, ab. Beschäftigugschancen ergeben sich – so seine keynesianische Argumentation – vor allem aus der Stärkung der Binnennachfrage, also des Konsums durch steigende Arbeitseinkommen – denn Unternehmensgewinne und Export seien heute schon gut, ohne daß es deswegen Vollbeschäftigung gäbe. Möllenberg leugnet die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzungen (bei mehr Arbeitszeitflexibilisierung) und mehr Teilzeitarbeit nicht. Obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, scheint ihm, anders als den Unternehmervertretern, die Grundthese “weniger Arbeit, mehr vom Leben” wohl nicht unplausibel.Hans-Jörg Bullinger, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, entlastet den Produktivitätsfortschritt von dem Vorwurf, zur Arbeitsplatzvernichtung zu führen. Während C. Christian von Weizsäcker die reine Lehre des Neoliberalismus von sich gibt (Der Sozialstaat ist schuld an der Arbeitslosigkeit), nimmt erst Warnfried Dettling, der Autor des letzten Beitrags, den Titel des Sammelbandes ernst und beschreibt die “Reformperspektive Bürgergesellschaft”. Ausgehend von der herrschenden Knappheit an bezahlter Arbeit und den gleichzeitig allerorten vorfindbaren sinnvollen Aufgaben, denkt er darüber nach, wie das bürgerschaftliche Engagement der Menschen gefördert werden kann: ein Engagement, das nötig ist, das auch vielen Menschen möglich ist und noch mehr Menschen möglich wäre, wenn geeignete Maßnahmen zur (organisatorischen, steuerlichen, finanziellen) Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeit ergriffen würden.
Fazit: nur die Beiträge von Oberreuter und Dettling erfüllen im wesentlichen die Erwartungen, die der Titel weckt. Es fehlt eine Analyse empirischer Befunde über die Zufriedenheit von Menschen, die weniger arbeiten. Ein Blick nach Holland hätte da vielleicht einiges zutage gebracht. Auch eine Studie über die psychosozialen Auswirkungen der 28,8 -Stunden-Woche bei Volkswagen hätte diesen Band bereichert. Statt dessen ist dieser Band ein Spiegel der Diskussion über Globalisierung und Sozialstaat: umtriebige Funktionseliten greifen mit neoliberalen Argumenten den Sozialstaat an, welchen die Gewerkschaften im Bunde mit der Mehrheit der Bürger verteidigen. Allerdings kennt man dies zur Genüge und hat es anderswo schon besser gelesen.