Spam oder Bürgerwille? Partizipation oder kontraproduktives Druckmittel? Eine Aktion der Nichtregierungsorganisation Avaaz.org, in deren Verlauf die Delegierten der Bundesversammlung mit über 28.000 E-Mails überflutet wurden, hat nicht nur Zustimmung erfahren. Der Deutschlandsprecher von Avaaz.org, Julius van de Laar, äußert sich dazu gegenüber politik-digital.de.
Die unter dem Motto "Wählt den Präsidenten des Volkes" auf der Webseite von Avaaz.org vorformulierte Botschaft an die 1244 Wahlfrauen und -männer der Bundesversammlung ruft dazu auf, "Parteipolitik und Fraktionszwang außer Acht zu lassen und im Sinne der Bürger unseres Landes zu wählen". In dem Brief äußerten die Absender die Meinung, dass nach "meinem Verständnis […] das Amt des Bundespräsidenten überparteilich [ist] und […] moralische Autorität und Führungsqualitäten aufweisen [sollte], die alle Deutschen miteinander vereint".
Den Vorwurf, der massenhafte Versand der fast immer gleichlautenden E-Mails sei eine Spam-Aktion, wies Julius van de Laar gegenüber politik-digital.de zurück. „Wir sehen eine beispiellose Mobilisierung von Zehntausenden Bürgerinnen und Bürgern, die die Online-Aktion nutzen, um ihrer Stimme bei der Präsidentschaftswahl Gehör zu verschaffen", so van de Laar. Das als Spam zu bezeichnen sei befremdlich.
Gelebte Partizipation
Auch die Kritik, die Aktion sei eine versteckte Pro-Gauck-Kampagne und gegen Christian Wulff gerichtet, versteht van de Laar nicht, denn in den E-Mails sei nicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten geworben worden. Für ihn ist die große Resonanz ein "fantastisches Zeichen, dass die Bürger mitmachen wollen" und damit gelebte Partizipation.
Mehr dazu im Videointerview von van de Laar mit politik-digital.de (3:31 Min, bitte auf das obere Bild klicken).
Der Hauptvorwurf zielt bei den Betroffenen auf den “immer gleich lautenden Text” und auf den verständlichen, aber unvermeidlichen Ärger rappelvoller Email-Postfächer. Dazu ist zweierlei zu sagen:
(1) Standardisierter Text
Solange ich denken kann haben z.B. Amnesty International und andere Organisationen an Bürger vorgefertigte Briefe, Karten, … mit gleichlautendem verschickt, damit man diese nur noch unterschreiben und mit Absender versehen brauchte. Diese sollte man dann an Diplomaten, Politiker, … verschicken, um so Solidarität mit politischen Gefangenen, einem politischen Anliegen, etc. auszudrücken. Mir ist nicht bekannt, daß jemals ein Adressat das bisher als z.B. “Gesinnungs-Terror” (Christan Möbius MdL NRW, CDU Köln, auf facebook) oder “undemokratisch” (Huber MdL BY, CSU München in der Presse) bezeichnet hat.
(2) Überfordert mit Politik digital/online
Meines Erachtens sind die betroffenen klagenden Politiker schlicht und ergreifend von den Möglichkeiten der politischen online-Kommunikation überfordert. Wenn ich heute meine Email-Adresse als Parlamentarier im Netz kommuniziere, muß ich damit rechnen, daß da, wo früher der Postbote waschkörbeweise Postkarten brachte, mir heute das Email-Postfach überläuft. Dem Bürger wird eine Anschrift kommuniziert und da können schon mal schnell über 1000 Leute eine Email schreiben. Es sollte technische Lösungen geben, die gleichlautenden Emails von individuellen Anschreiben zu trennen (banal: Nach Betreff sortieren) und dann entsprechend die gleichlautenden mit einer standardisierten Antwort zu beantworten. Mein MdL in NRW und Ministerpräsident Rüttgers in NRW können das offenbar. Jedenfalls im Wahlkampf in NRW bekam ich letzthin so von beiden eine vernünftige Antwort.
Was aber höchst unprofessionell und unberechtigt ist, sind die Klagen, abstrusen Vorwürfe (s.o.) und die Kommentare im Netz von Politikern wie: “Ich habe schon 1700 Emails ungelesen gelöscht”. Ein Bekannter, der die betreffende Partei in Sachen PR/PA berät, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Schon rührend naiv mutete dagegen die Forderung von MdL Huber aus München an, Herr Gauck solle diese Emails abstellen. Das hier parteiunabhängig mehrere Bürgerinitiativen aktiv wurden und nicht durch Gauck, die SPD oder GRÜNE steuerbar waren, hat man schlicht übersehen und die Lage völlig verkannt. Den PA/PR-Beratern ist zu raten, mit den Abgeordneten und ihren Mitarbeitern Workshops zur Online-Kommunikation zu machen.
Das Thema ist aber ernst, da sich eine Tendenz abzeichnet, daß sich Bürger, motiviert durch diesen Wahlkampf der anderen Art für Gauck, künftig öfter jenseits von Parteien organisieren und online einmischen, ihrer Stimme Gehör verschaffen werden. Das nächste Mal sicher auch noch professioneller. Dis Politik sollte darauf vorbereitet sein.
P.S.: Wer einen Abgeordneten persönlich kennt oder böse Fangfragen stellt, merkt auch schnell, ob der Mann/die Frau selber chattet oder ein Mitarbeiter … . Das ist dann besonders peinlich bzw. läßt einen verärgerten Bürger = Wähler zurück.