türkeiAm 7. Juni 2015 wurde für die kommenden vier Jahre ein neues türkisches Parlament gewählt. Der Wahlkampf lief die vergangenen Wochen auf Hochtouren. Politiker aller Parteien bereisten die verschiedenen Landesteile. Doch auch das Netz wurde ausgiebig einbezogen. Warum waren die verschiedenen Onlinedienste bei der Mobilisierung am Bosporus wichtig? Wir haben vor dem Hintergrund der innenpolitischen Konflikte der Vergangenheit einen Blick auf die komplizierte Beziehungsstruktur zwischen Politik und Internet in der Türkei geworfen.

Europaweit haben seit der Schließung der Wahllokale vor allem die krachenden Verluste der AKP, der Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, für medialen Aufruhr gesorgt. Die Politik Erdogans war in den vergangenen Jahren ob seines mitunter harten Durchgreifens gegen innenpolitische Widersacher weltweit kritisiert worden. Welches Potential kann bei einer solchen innenpolitischen Gemengelage das Netz bei der Information und Mobilisierung der Wählerschaft spielen?

Erste Hinweise auf die mögliche Bedeutung des Internet bei der Mobilisierung liefert ein Blick auf die demografischen Daten: Die türkische Bevölkerung liegt hier mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 42 Jahren. Diese strukturellen Daten und die Annahme, dass besonders junge Menschen internetaffin sind, lassen einen Blick auf die digitale Mobilisierungsfähigkeit in der Türkei lohnenswert erscheinen. Und tatsächlich: empirische Untersuchungen zeigen einige bemerkenswerte Fakten über die Nutzung von Internet-Diensten. Pro Kopf warten die Türken im europäischen Vergleich mit der zweithöchsten täglichen Nutzungsdauer auf, hinter dem Vereinigten Königreich. In der Altersgruppe der 15- bis 64-Jährigen verfügen 90 Prozent über einen Facebook-Account und 70 Prozent haben sich bei Twitter angemeldet. Im weltweiten Vergleich stehen die Türkinnen und Türken auf dem vierten Platz der fleißigsten Twitterer und generieren soviel Traffic wie deutsche und französische Zwitscherer zusammen. Das Internet dient besonders jungen Menschen als Hauptinformationsquelle und erreicht in der Gruppe der 15- bis 24jährigen nahezu den gleichen Wert wie das Fernsehen. Fast die Hälfte aller Befragten in dieser Altersgruppe nutzen soziale Medien als Nachrichtenkanäle. Diese genannten Daten beeindrucken, vor allem vor dem Hintergrund einer im OECD-Vergleich noch ausbaufähigen Breitbandinfrastruktur.

Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass sich die türkische Politik, insbesondere in Wahlkampfzeiten, die Breitenwirkung diverser Onlinedienste zu Nutze macht. Im Vorfeld der Wahl liefen die Parteiaktivitäten bei Twitter, Facebook & Co. auf Hochtouren.

Ob nun Regierungspartei oder Opposition: sie alle greifen intensiv auf die Möglichkeiten der digitalen Wähleransprache zurück und teilen beinahe stündlich Beiträge. Diese werden von den Nutzern – wie sich in den vergangenen Tagen und Wochen beobachten ließ – ebenso engagiert kommentiert und „geliked“. Zahlreiche türkische Politiker sind aktive Twitterer. Auffällig ist die große Anzahl an Unterstützern für die türkischen politischen Parteien auf Facebook. Ein vergleichender Blick auf die verifizierten Facebook-Präsenzen der türkischen Parteien zeigt im Vergleich zu den digitalen Auftritten in der deutschen Parteienlandschaft eine erheblich höhere „Gefällt mir“-Ausbeute. Selbst eine kleine Oppositionspartei wie die pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) erreicht das Zehnfache an Likes der deutschen CDU. Für die politische Kommunikation ist das Internet mittlerweile eine feste Größe in der Türkei.

Kritisches Verhältnis zwischen Politik und Online-Diensten

Wie die türkische Denkfabrik TEPAV in einer Studie zum Wandel des Internets aus dem Jahre 2011 feststellt, nehmen die Internetnutzung und die Relevanz des Internetsektors für den heimischen Markt zu. Dennoch, so das abschließende Fazit, wirft die Regulierungspolitik die Frage auf, welches Verhältnis die politischen Entscheidungsträger gegenüber den verschiedenen Onlinediensten pflegen.

Ein zentrales Problem stellt bis heute die restriktive Zensurpraxis dar. Wenngleich die Gesetzeslage zur Regulierung schon zuvor verschärft wurde, gab es in Folge verschiedener innenpolitischer Krisen weitere beschränkende Maßnahmen. Im Mai 2013 kam es zu Protesten gegen ein geplantes Bauprojekt im zentral gelegenen Gezi-Park in Istanbul, wobei die Demonstrationen sich mit zunehmender Dauer der Proteste gegen die Regierungspolitik allgemein richteten.

Soziale Medien spielten hier als Kommunikations- und Organisationsplattformen eine wesentliche Rolle, weshalb politische Beobachtern wiederholt Analogien zu den Aufständen des „Arabischen Frühlings“ im Frühjahr 2011 zogen. Zudem kam es ab Dezember 2013 zu Korruptionsvorwürfen gegen Personen aus dem Umfeld der Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Verbreitet wurden diese über die Videoplattform YouTube sowie über Twitter.

Die Reaktion der türkischen Behörden? Im März 2014 kam es zur temporären Sperrung dieser Dienste, wobei das Verfassungsgericht die Blockaden wenig später für rechtswidrig erklärte. In der jüngeren Vergangenheit kam es zudem wiederholt zur vorübergehenden Sperrung verschiedener Webseiten wie WordPress, Geocities, Facebook und anderen. Der heutige Präsident Erdoğan verteidigte sein Vorgehen dereinst mit martialischen Worten: „Twitter und solche Sachen werden wir mit der Wurzel ausreißen“. Unterstützung bekam er von AKP-Anhängern die sich unter dem Hashtag #TwitterTurkiyedenBuyukDegildir (zu Deutsch: „Twitter ist nicht größer als die Türkei“) mit der Twittersperre solidarisierten, im Rahmen des 140-Zeichen-Dienstes, versteht sich. Der Bürgermeister von Ankara und AKP-Politiker, Melih Gökçek, ließ sich auch nicht durch offizielle Sperren vom Twittern abhalten.

Die wiederholten Sperren der Onlinedienste spiegeln nicht nur den Einflussgrad der staatlichen Kontrolle über Massenmedien wider, sondern werfen auch ein düsteres Licht auf die Wahrung von grundlegenden Rechten wie der Redefreiheit. Das Verhältnis zu den verschiedenen Diensten im Internet erschwert somit auch die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union. Ob das aktuelle Wahlergebnis zu einem Umdenken der türkischen Regierung oder gar zu einer weiteren Verschärfung der restriktiven Innenpolitik führt, werden wohl erst die kommenden Wochen zeigen.

Bild: Özgür Elbir (CC BY-NC 2.0)


 

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