Schöne neue (digitale) Welt. Sie lockt mit selbstfahrenden Autos, algorithmen-basierter Partnersuche und könnte letztendlich die Grenzen menschlicher Leistungskraft mit Hilfe künstlicher Intelligenz sprengen. Das ist zwar Zukunftsmusik, doch liegt schon lange nicht mehr im Bereich des Unvorstellbaren. Aber wollen wir das wirklich? Und was passiert dann mit unseren “analogen” Wertvorstellungen? Die Gesellschaft für innovative Marktforschung (GIM) hat für die repräsentative Studie “Values & Visions 2030” Bürger und Experten nach ihren Wünschen und Erwartungen bezüglich der Entwicklung der Digitalisierung befragt. Herausgekommen ist eine “Landkarte”, die vor allem eines zeigt: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Selbstbestimmung.

Es gab Zeiten, da versprach man sich von der Digitalisierung vor allem eine Stärkung der Position des Einzelnen in der Gesellschaft. Die offene Form des World Wide Web gebe jedermann die Möglichkeit, seine Meinung einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und so der wirklichen Vielfalt des modernen Lebens Ausdruck zu verleihen. Was zunächst Hoffnung auf einen geradezu revolutionären Anstoß hinsichtlich der Verwirklichung aufklärerischer Ideale machte, scheint sich, wenn man der neuen GIM-Studie Glauben schenkt, zumindest in einigen Bereichen ins Gegenteil verkehrt zu haben. Nicht zu Unabhängigkeit und Individualismus habe besonders die Social-Media und Smartphone-Welle geführt, sondern vielmehr zu dem, was die Studienleiter unter der Bezeichnung “Verwertung” als einen der digitalen “Megatrends” aufführen.

Selbstvermarktung und Kontrollverlust

Der Individualismus ist hier zu einer Art gnadenloser Selbstvermarktung geworden. Im virtuellen Hamsterrad gefangen, wird versucht, den neuen digitalen Anforderungen mit stetiger Selbstoptimierung zu begegnen. So dienen körperliche Fitness, gesundes Essen und schöne Kleidung längst nicht mehr nur dem Wohlbefinden. Sie dienen als Mittel zum Zweck, um den eigenen digitalen Wert zu erhöhen. Das Individuum wird selbst zu einer Ressource im freien Markt und konkurriert mit anderen Akteuren um Likes, Follower und neuerdings auch Arbeitsplätze. Je attraktiver das Profil, je besser die Bilanz, desto höher der Profit. Es geht jedoch nicht nur um Geld: Der soziale Status innerhalb der digitalen Gemeinschaft ist, ganz anti-stoisch, zur Droge mit verheerenden Nebenwirkungen verkommen. Obwohl diese Art der Leistungssteigerung von 54 % der befragten Bürger kritisch gesehen wird, glauben gleichzeitig 71 % an eine deutliche Verschärfung der innergesellschaftlichen Logik der Selbstoptimierung bis 2030. Nebenwirkungen: Abhängigkeit in Reinform, absoluter Kontrollverlust über die eigenen Grenzen.

Kontrolle. Auch darum geht es vielen befragten Bürgern in der GIM-Studie, jedoch nicht in dem Gebiet, in dem das angesichts der akuten Bedrohungen von Islamismus und Terroranschlägen in Europa zunächst vermutet werden könnte. Nur 24 % der Befragten befürworten eine zunehmende Einschränkung der digitalen und persönlichen Freiheit durch Maßnahmen wie automatische Gesichtserkennung und mehr Überwachung im Internet zugunsten erhöhter Sicherheit. Generell sehen Sie dort jedoch auch keinen langfristigen Trend. Die Frage der Kontrolle erstreckt sich vielmehr auf andere Bereiche, wie etwa die Produktion und das Konsumverhalten.

Dementsprechend boomt die sogenannte “Re-Lokalisierung”. Bürger und Experten legen der Studie zufolge wieder mehr Wert auf lokal erzeugte Güter; Besonders die häufig zitierten Bio-Produkte vom “Bauernhof nebenan” stehen hoch im Kurs. Ein Grund hierfür ist sicherlich die Gewissheit, dass diese aus einem bekannten Umfeld stammen, dem folglich auch mehr vertraut wird, was Qualität und Herstellungsbedingungen betrifft. Ein anderer könnte die klassische Sehnsucht nach Heimat bzw. einem Heimatgefühl sein, das durch die Dekonstruktion der Ortsgebundenheit im digitalen Zeitalter schlicht verlorengegangen scheint.

"Wertelandkarte" der GIM-Studie "Values and Visions 2030"
“Wertelandkarte” der GIM-Studie “Values & Visions 2030”

Algorithmen machen Angst

Einerseits rückt die Welt, zumindest gefühlt, durch Globalisierung und digitalen Austausch näher zusammen. Gleichzeitig ist sie aber unheimlich komplex und wirkt dadurch häufig nicht nur undurchschaubar, sondern sogar bedrohlich. Besonders die klugen Algorithmen der Cyberwelt 4.0 machen Vielen Angst. Ihre Fähigkeiten sind schon jetzt wahnsinnig ausgeprägt, ihr Potential riesig. Der Gedanke, dass Maschinen dem Menschen einen großen Teil seiner Entscheidungen abnehmen und so zu einer autonomen Steuerungsgröße im Alltag werden könnten, weckt bei den Bürgern große Befürchtungen. So wünschen sich nur 47 % der in der Studie Befragten eine Fortsetzung dieses Trends, während sich 63 % sicher sind, dass die “Algorithmisierung” in den nächsten Jahrzehnten zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wird.

Der Verlust von Autonomie, Kontrolle, aber auch sozialer Nähe könnte das entscheidende Thema in der künftigen Digitalisierungsdebatte sein. Trotz aller technischen Errungenschaften: Vor allem Geborgenheit und Sicherheit scheint die digitale Zukunft nicht zu bieten. Interessant hierbei: Während die Erleichterung des Alltagslebens durch digitale Helfer immer noch ein zentrales Pro-Digitalisierungs-Argument darstellt, sind die Befragten durchaus bereit, im Gegenzug zu mehr Autonomie auch mehr Verantwortung zu übernehmen. 72 % der Bürger wünschen sich generell mehr Verantwortung im Internet, sehen darin aber nur einen verhältnismäßig kleinen Trend. Einfachheit, verantwortungsvoller Genuss und mehr Mitbestimmung stehen für sie im Mittelpunkt. Andere wichtige Werte, von denen viele glauben, sie seien langfristig besonders gefährdet, sind Heimat und die klassische Familie.

Digitalisierung muss menschlich sein

Was sagen uns diese Ergebnisse? Sie zeigen, dass die soziale Komponente der Digitalisierung so wichtig ist wie nie zuvor. Online-Kommunikation und Roboter können soziale Gemeinschaft und Nähe nicht ersetzen. Wir müssen aufpassen, dass der technologische Fortschritt keine Distanzen schafft, die schlussendlich zu einer radikalen Gegenbewegung führen. Einer ideologischen Strömung, die den Gedanken einer digitalisierten Welt vollständig ablehnt, weil sie darin eine Entfremdung des Einzelnen und der Gemeinschaft von Menschlichkeit und Selbstbestimmung sieht. Dies ist eine große Herausforderung für uns alle, die wir nur bewältigen können, indem wir den technischen Fortschritt sozial verträglichen gestalten. Indem wir ihm normative Grenzen setzen, die auf der Basis von Respekt, Solidarität und gegenseitiger Anerkennung funktionieren. Damit es uns nicht über den Kopf wächst.

Titelbild: Photo by Tim Graf on Unsplash

Grafik: “Wertelandkarte”, Quelle: GIM

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