sicherheit und freiheitFreiheit und Sicherheit müssen immer in der Balance gehalten werden. Deshalb muss alles dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehorchen.” So sprach Angela Merkel im vergangenen Juli in Reaktion auf den NSA-Skandal. Ähnlich formulierte es soeben Frank-Walter Steinmeier auf dem EuroDIG. Aber wie sieht es nun aus mit der schwierigen Balance von Freiheit und Sicherheit, Privatsphäre und freier Meinungsäußerung? Eine Betrachtung.
Privatsphäre ist eine wichtige Voraussetzung für Freiheit. Ihre Bedrohung „hat weitreichende Konsequenzen. Die UNESCO merkte bereits 2012 an, dass „der Schutz der Privatsphäre eine wichtige Rolle für die Stärkung der Meinungsfreiheit und der politischen Rechenschaftspflicht“ spielt. Gleichzeitig sei „das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Achtung der Privatsphäre… vielschichtig“,  wahrscheinlich ist es ebenso kompliziert wie das Verhältnis von Privatsphäre und Sicherheit.
Daraus resultierende Probleme wurden jüngst offenbar, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) Internetnutzern gegenüber Google ein „Recht auf Vergessen“ zusprach. Im Zuge dieses Urteils wurde das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Privatsphäre und freie Meinungsäußerung beziehungsweise dem Recht auf Informationsbeschaffung hitzig diskutiert. Zum Beispiel kritisiert der Jurist Thomas Stadler: „Der EuGH unternimmt… erst gar nicht den Versuch einer ergebnisoffenen Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht einerseits und der Meinungs- und Informationsfreiheit andererseits, sondern postuliert einen regelmäßigen Vorrang des Datenschutzes.“
Dementsprechend sah es im vergangenen Jahr so aus, als würden Regierungen vielerorts gegenüber dem Recht auf Privatsphäre regelmäßig den Vorrang der nationalen Sicherheit postulieren. So sind Grund- und Menschenrechte im so genannten “Kampf gegen den Terror”… zunehmend unter Druck geraten“. Zum Beispiel in Deutschland, wo die NSA und der britische GCHQ millionenfach Kommunikationsdaten deutscher Bürger ab- und somit massiv in die Grundrechte von Millionen Deutschen eingreifen. Eine entschiedene Reaktion der Regierung darauf steht bis heute aus.

Der Schutz der Privatsphäre ist in Deutschland rechtlich verbrieft

Dabei lautet Artikel 1 des Grundgesetzes (GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
In Verbindung mit Artikel 2, Absatz 1:  „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“  und Artikel 13, Absatz 1 – „Die Wohnung ist unverletzlich“ – ergibt sich daraus auch der Schutz der Privatsphäre. Zumal das Recht auf Privatsphäre – und damit auch das Recht, Geheimnisse zu haben – im deutschen Grundgesetz noch an anderer Stelle verankert ist: Artikel 10 GG, Absatz 1: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.“
Niemand darf einfach so Briefe öffnen oder ohne richterlichen Beschluss eine Wohnung durchsuchen. Das Fernmeldegeheimnis schützt darüber hinaus die digitale Kommunikation. Diese Grundrechte sind „als beständig, dauerhaft und einklagbar garantiert… In erster Linie sind sie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.“ Sie sollen den Bürger vor unverhältnismäßigen und rechtlosen staatlichen Übergriffen schützen und ihm einen „abgeschirmten Bereich persönlicher Entfaltung“ garantieren.
Sehr erfolgreich ist man mit dem Schutz dieses Bereiches vor NSA und GCHQ jedoch nicht. Vielen Endnutzern sind entsprechende Schutzmaßnahmen schlicht zu umständlich, während sich die Regierung, wenn überhaupt, „in Verbalkritik” übt. Man fragt sich, warum. So gab der ehemalige Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem unlängst vor dem NSA-Ausschuss zu bedenken, dass „Privatpersonen oder ausländische Behörden wie die NSA… zwar nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden [seien], sehr wohl aber an die einfachen Gesetze, die zum Schutz der Grundrechte erlassen werden“, und der Gesetzgeber könnte, so Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier „dort, wo ein fremder Staat unabhängig von der Bundesrepublik nach seinem Willen handele… dem mit dem Mittel des Strafrechts begegnen“. Zumal „Geheimdienstarbeit… eine hoheitliche Tätigkeit [ist]. Ein Land darf die Bürger eines anderen Landes nicht ohne Erlaubnis überwachen. Haben die Amerikaner es dennoch getan, dann wäre das eine Verletzung der völkerrechtlich geschützten Souveränität“.

Welche Rolle spielt die Bundesregierung?

Wieso also nicht mehr Protest seitens der Regierung, angesichts dieser scheinbaren Verletzung des Völkerrechts? Ein Grund könnte sein, dass der deutsche BND selbst verfassungswidrig gehandelt hat. Das werfen ihm zumindest Papier, Hoffmann-Riem und Staatsrechtler Matthias Bäcker vor. Die Bundesregierung mag Bedenken haben, sich gegenüber den USA moralisch aufs hohe Ross zu setzen, wenn ihr eigener Nachrichtendienst selbst nicht grundgesetzeskonform handelt.
Sollte die deutsche Regierung von den Praktiken der NSA gewusst haben, wird es erst recht haarig, denn, so heißt es in der aktuellen Printausgabe des Spiegel: „[D]ann müssen die Kanzlerin und ihr Innenminister die Öffentlichkeit darüber informieren, denn beide trügen damit Mitverantwortung für die Handlungen der Amerikaner, die offenbar in Deutschland gewonnene Daten für das Töten mutmaßlicher Terroristen nutzen“. So weit, so gruselig.
Einen weiteren Anhaltspunkt für das scheinbare Drückebergertum der Bundesregierung bietet aber auch Edward Snowdens Aussage vor dem EU-Parlament: Demnach habe Deutschland auf Druck der USA das G-10 Gesetz geändert. Das G-10 Gesetz regelt die Einschränkungen von Artikel 10 GG – also die Voraussetzungen, unter denen man das, was durch Artikel 10 Absatz 1 ausgeschlossen wird, eben doch darf. Sollte die deutsche Regierung dieses Gesetz in der Tat auf Druck der USA geändert haben, stellt sich einmal mehr die Frage nach der deutschen Souveränität. Zumal der Historiker Josef Foschepoth herausgefunden haben will, dass offenbar immer noch gültige Geheimabkommen aus der Zeit Konrad Adenauers und Willy Brandts den Amerikanern und Briten das Schnüffeln erlauben.

Vorratsdatenspeicherung im Namen der Sicherheit

Doch selbst wenn man nicht so weit gehen will, der Bundesregierung Mitwisserschaft zu unterstellen, tut man sich mit Privatsphäre und Datenschutz in Deutschland bisweilen auch so schwer genug. Etwa beim Thema Vorratsdatenspeicherung. Diese ist in Deutschland nicht erlaubt. Auch der Europäische Gerichtshof lehnte sie im April dieses Jahres ab. Seitdem plädiert der stellvertretende CDU-Vorsitzende Strobl für einen deutschen Alleingang. Begründet werden solche Vorstöße oft im Interesse der Sicherheit – sei es nun vor Kinderpornografie oder Terrorismus. Aber ist, wie die Zeit im Juli 2013 fragte, „Verzicht auf Privatsphäre… der Preis für die Sicherheit?“
Eine der beliebtesten Antworten auf diese Frage lautet, dass “wer nichts zu verbergen hat“, auch nichts befürchten müsse. Diese Einstellung übersieht jedoch, dass der Grundsatz, unbescholtene Bürger hätten nichts zu verbergen, nicht nur digitale Überwachung entschuldigen würde, sondern jegliche Art von Überwachung schlechthin. Schaffen wir also die Privatsphäre ganz ab und installieren in jedem Wohnzimmer eine Kamera – nur für den Fall, dass die dadurch gewonnenen und abgespeicherten Videos irgendwann einmal zur Terrorabwehr wirksam werden könnten. So einem Unsinn würde wohl niemand zustimmen. Niemand möchte die Unterhaltung im eigenen Wohnzimmer öffentlich zugänglich wissen. Jeder hat etwas zu verbergen. Das bedeutet aber nicht, dass der Staat seine Bürger unter „Generalverdacht“ stellen kann. Das ist schlicht „Missbrauch der Terrorismusbekämpfung, um ungesetzliche Maßnahmen zu rechtfertigen“. Ein Vorgehen, das Edward Snowden gegenüber dem US-Fernsehsender NBC zu Recht als „zutiefst unehrlich“ bezeichnete.

Ein Blick ins Grundgesetz könnte helfen

Sicherlich muss es auch darum gehen, eine verantwortungsvolle Balance zwischen Privatsphäre und Meinungsfreiheit, ebenso wie zwischen der Wahrung von Grundrechten und Sicherheit zu schaffen. Diese Balance zu finden, mag nicht immer einfach sein. Auf der Hand zu liegen scheint jedoch auch, was Georg Mascolo und Ben Scott schreiben: „Zur Freiheit [und damit zum Recht auf Privatsphäre] gehört auch das bisweilen schwer zu ertragende Risiko, nicht alles wissen zu können“.
Deutschland hat den großen Vorteil eines Grundgesetzes, das grundlegende Menschenrechte verbrieft. Als oberste Leitlinie der Politik sollte es bestimmte Entscheidungen erleichtern. Das täte es vermutlich auch, wenn sich die deutsche Regierung endlich auf ihre Pflichten besinnen und, so Hoffmann-Riem, „das Potential des Grundgesetzes voll… nutzen“ würde. Dafür, dass sie das nicht tut, muss mit Nachdruck eine Erklärung gefordert werden. Die von Frau Merkel im Eingangszitat erwähnte Verhältnismäßigkeit scheint in der aktuellen Situation jedenfalls nicht gegeben.
Bild: Wikimedia/Dirk Franke (CC BY 3.0)
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