Nach den ersten zehn Jahren im Online-Journalismus ist die Aufbruchstimmung und Risikofreude von einst verflogen: Online-Journalismus hat sich langsam aber sicher etabliert – die papierne Zeitung wird er jedoch so bald nicht ablösen, konstatiert Lorenz Lorenz-Meyer, ehemaliger Redakteur bei SPIEGEL-ONLINE und Professor für Online-Journalismus an der FH Darmstadt.

politik-digital: Welche Erwartungen an das Medium Internet hatten Sie, als Sie mit dem Online-Journalismus begannen?

Lorenz Lorenz Meyer:Ich habe ziemlich genau vor neun Jahren mit dem Online-Journalismus angefangen, damals für SPIEGEL ONLINE, das bereits seit einem Jahr im Web existierte, und seit ca. 2 Jahren bei Compuserve. Das Spannende zu jener Zeit war vor allem, dass es noch keine ausgeprägten Erwartungen gab. Es war alles neu und unbestimmt. Natürlich hatten wir ein paar Vorbilder und Anknüpfungspunkte, “Hot Wired” zum Beispiel und Joshua Quittner mit seiner Idee eines “Way New Journalism”, eines schnellen, persönlichen, extrem lesernahen Schreibens.

Für mich persönlich war es aber vor allem der Gedanke der Interaktivität, der mich faszinierte – die Vorstellung, in einen dezentralen Diskurs einzutreten und ihn publizistisch nutzbar zu machen. Einer meiner ersten Schritte im Internet bestand darin, mir einen Account bei der legendären kalifornischen Community “The Well” zu beschaffen, in der sich damals besonders viele Journalisten tummelten. “The Well” und andere US-amerikanische Foren wie “Cafe Utne” und “Salon Table Talk” wurden dann später Vorbild für das “SPIEGEL ONLINE Forum” und die “ZEIT Debatte”.

politik-digital: Es sind so viele Hypes aufgetaucht und wieder verschwunden – was waren die größten Irrglauben der Branche?

Lorenz- Meyer: Ich denke, man kann da nicht von DER Branche sprechen. Je nachdem, ob man die Journalisten betrachtet oder Leute aus den Verlagsetagen, sehen die Illusionen ganz unterschiedlich aus. Wir Journalisten haben zum Beispiel den gerade erwähnten Communities zu viel zugetraut, jedenfalls einige von uns, zu denen ich mich zähle. Wir haben auch den Aufwand unterschätzt, den es bedeutet, im laufenden Geschäft und unter hohem Zeitdruck aktuelle journalistische Inhalte wirklich „internetgerecht“ aufzubereiten, das heißt, mit Hintergründen, Archivmaterialien und Fundstellen im Web zu verlinken. Das hört sich in der Theorie wunderbar an, in der Praxis darf man froh sein, wenn man hier und da mal ein bisschen an der Oberfläche des theoretisch Machbaren kratzt.

Die Verlagsleute haben sich naturgemäß eher in puncto Erlösmöglichkeiten etwas vorgemacht, und tun dies meines Erachtens immer noch, etwa im Zusammenhang mit Paid Content-Modellen. Aber jeder Hype, den wir mitgemacht haben, die -zig erfolglosen Kooperationen mit irgendwelchen E-Commerce- oder Mobilservice- Anbietern, die Microsoft-Push-Kanäle, die hilflosen Versuche, mit Portalen, WAP-Diensten, obskuren Syndication-Partnern den wirtschaftlichen Durchbruch zu erzielen, all das hat auch positive Spuren hinterlassen. Nehmen Sie zum Beispiel die Push-Idee: sie erfährt zur Zeit mit den RSS-Feeds von Weblogs und Nachrichtensites eine grandiose Wiederkehr.

Insofern bin ich gar nicht mehr so geneigt, mich über die Hypes der späten 90er Jahre lustig zu machen. Den meisten lagen gute Ideen zugrunde, man hat nur deren Entwicklungsgeschwindigkeit überschätzt, und manchmal auch ihre Reichweite. Die Diskrepanz zwischen Hoffnung und tatsächlichem Erfolg ist meines Erachtens bislang am größten gewesen bei den mobilen Content-Diensten, Stichwort WAP oder UMTS. Aber auch das kann sich noch ändern und zum Positiven wenden.

politik-digital: In welchem Maße hat sich Ihrer Einschätzung nach der Online-journalismus in Bezug auf die Professionalisierung in der Berichterstattung, der Schnelligkeit und der Qualität verändert?

Lorenz- Meyer: Da, wo genügend finanzielle Mittel zur Verfügung standen und man mit einer gewissen Kontinuität am Ball geblieben ist, hat es zweifellos eine echte Professionalisierung geben: Das Niveau, das man von tagesschau.de, faz.net oder sueddeutsche.de erwarten kann, ist mittlerweile gleichbleibend hoch, obwohl einige der Redaktionen in der Medienkrise übel bluten mussten. Aber leider heißt das auch, dass dumpfe Routine eingekehrt ist in die Online-Redaktionsstuben. Von der Aufbruchstimmung und der Risikofreude der ersten Jahre ist wenig mehr zu spüren. Online-Journalismus in Deutschland hat sich vor allem beschränkt aufs Nachrichtengeschäft, die wenigen Ausnahmen, etwa Heises “telepolis”, sind marginalisiert, ein paar gute Formate wie die grandiosen Presseschauen der Perlentaucher oder das ebenfalls hervorragende “Altpapier” in der Netzeitung sind sekundäre Services, die vom geistigen Geschehen in den traditionellen Medien leben.

politik-digital: Wird der Online-Journalismus den klassischen Offlinejournalimus im Bereich der Tageszeitungen auf lange Sicht ablösen, also das Ende der papierenen Zeitung bedeuten?

Lorenz- Meyer: “Auf lange Sicht” ist ein sehr dehnbarer Begriff. Meines Erachtens hat die papierne Zeitung gegenüber der Internetseite immer noch das haushoch überlegene Interface: Sie ist besser transportabel und macht erheblich mehr Inhalte in kürzester Zeit auf konkurrenzlos übersichtliche Weise zugänglich, gibt dabei Aufschluss über Länge und Gewichtung der Beiträge, wie keine Website es könnte. Auf den bahnbrechenden Fortschritt bei den Computer-Displays warten wir nun schon seit vielen Jahren, und ich glaube, dass es auch noch viele weitere Jahre dauern wird, bis wir etwas in der Hand halten, das der papiernen Zeitung das Wasser reichen kann. So lange sollten wir Print und Internet als Partnermedien begreifen und uns daran machen, sie besser auf einander abzustimmen, statt sie gegeneinander auszuspielen.

politik-digital: Auch der Online-Journalismus kostet Geld. Kann man mit Journalismus im Netz überhaupt Geld verdienen? Geht das nur mit bestimmten Inhalten, aber nicht mit Nachrichten?

Lorenz- Meyer: Das lässt sich noch nicht wirklich absehen. Ich halte immer noch die Werbung für die wichtigste Erlösquelle. Außerdem entstehen nach und nach auch im Internet publizistische Produkte, für die die Nutzer bereit sind, Geld zu bezahlen. Hier müssen wir noch eine Menge Erfahrungen sammeln, sowohl in der Gestaltung dieser Produkte (Abonnements für Aktuelles oder Archiv, kostenpflichtige On-Demand-Recherchen und Themendossiers etc.) als auch in der Preispolitik: die Tatsache, dass beim Online-Kanal Kosten für Herstellung und Vertrieb kaum eine Rolle spielen, muss sich auch im Pricing niederschlagen, wenn man eine breite Käuferschaft ansprechen will. Aber dafür wird der Markt auf längere Sicht schon sorgen.

politik-digital: Bedeuten Weblogs jetzt, dass endlich jeder Nutzer selbst zum “Sender” werden kann?

Lorenz- Meyer: Weblogs sind schon jetzt kein Nischenphänomen mehr. Auch wenn in Deutschland die Zahl der Blogs nicht im gleichen Maße steigt wie in anderen Ländern, kann man getrost sagen: „Weblogs are here to stay“. Und sie sind wirklich das, was sich Brecht in seiner Radiotheorie erhofft hat: eine Ermächtigung für den Einzelnen, aus der Rolle des reinen Empfängers herauszutreten und öffentlich sein Publikum zu finden.

Für den professionellen Journalismus sind Weblogs jedoch vor allem ein mögliches Format: eine Art Kolumne, die permanent auf Sendung ist. Um so etwas im Zusammenhang eines journalistischen Online-Angebots zu umzusetzen, braucht man exzellente Autoren und/oder Themenfelder, die dauerhaft von Interesse sind. Sonst kommt dabei nichts anderes heraus als Privatbühnen für eine Reihe mehr oder weniger eitler Selbstdarsteller, die sich im Rampenlicht ihrer Marke sonnen.