Der Studentenstreik ist keine soziale Bewegung, sagt im Interview der renommierte Sozialforscher Prof. Dieter Rucht. Das Internet kann keine Machtverhältnisse verändern, sondern die Vernetzung beschleunigen.
Prof. Dieter Rucht gilt als erfahrener und renommierter Forscher im Bereich “soziale Bewegungen”. Er hat vor drei Jahren seine Forschungstätigkeit am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) wieder aufgenommen. Der 67jährige hat zahlreiche Forschungsaufenthalte, unter anderem in Harvard, hinter sich. Die Liste seiner unzähligen Publikationen füllt mehrere Seiten. Der Titel seines zuletzt herausgebenen Buches lautet: Politische Demonstrationsrituale.
politik-digital.de: Ist der aktuelle Streik der Studierenden eine soziale Bewegung?
Dieter Rucht: Nein, zumindest noch nicht. Zu einer sozialen Bewegung gehören zunächst einmal gewisse stabile Strukturen, die über eine kurzfristige Mobilisierung hinausgehen. Außerdem werden von sozialen Bewegungen die Grundlagen einer gesellschaftlichen Ordnung in letzter Instanz in Frage gestellt. Beim Hochschulstreik haben wir es in meinen Augen eher mit einer durchaus bemerkenswerten politischen Kampagne zu tun, bei der momentan von der Mehrheit der Aktiven sehr begrenzte Ziele verfolgt werden.
politik-digital.de: Könnte sich aus diesem Streik eine soziale Bewegung entwickeln?
Dieter Rucht: Es gibt erste Ansätze dazu. Dass sich eine Bewegung an einem begrenzten Problem entzündet, ist durchaus möglich. So begann der Streik der Studierenden 1997 mit Raummangel an der Universität Gießen. Jetzt bahnt sich ein Bündnis von Studierenden mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an, von dem man noch nicht weiß, ob es trägt, und ob es bei der Verbreiterung der Themen um mehr geht als die Abwehr von Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich.
politik-digital.de: Beim Streik an den Berliner Universitäten spielt das Internet eine zentrale Rolle. Stehen diese aktuellen Vorgänge nicht im Gegensatz zu Ihrer kritischen Einschätzung von der Rolle des Internets in sozialen Bewegungen?
Dieter Rucht: Nein, natürlich ist das Internet in solchen Zusammenhängen ein wichtiges und nützliches Kommunikationsmedium. Ich wollte mit meinem kritischen Beitrag ein Gegengewicht bilden zu einer Debatte, die aus meiner Sicht allzu große Hoffnungen in die weitergehenden Potenziale des Internet setzt. So meine ich zum Beispiel nicht, dass durch das Internet politische Machtverhältnisse verändert werden können.
politik-digital.de: Welche Rolle spielt das Internet Ihrer Meinung nach bei der Entstehung von sozialen Bewegungen?
Dieter Rucht: Das Internet hat vor allem einen beschleunigenden Effekt bei der Vernetzung von schon aktionsbereiten Aktivisten. Außerdem spielt die Reichweite der Kommunikation keine Rolle mehr – ob ich eine Mail nach Australien, Peking, oder ins Nebenzimmer schicke, macht kaum einen Unterschied.
Ich glaube nicht, dass über das Internet viele neue Aktivisten mobilisiert werden können. Außerdem ist zu bedenken, dass ja auch die Gegenseite das Internet nutzt. So ist es der Polizei ein Leichtes, bestimmte Mailinglisten zu überwachen. Auch besteht durch die mangelnde Absicherung der Quellen ein gewisses Misstrauen bei InternetnutzerInnen, beispielsweise gegenüber Massenmails mit Appellen. Auf Netzkampagnen selbst können große Konzerne sich gut vorbereiten, wie die Kampagne gegen Lufthansa gezeigt hat.
politik-digital.de: Könnte durch diese beschleunigten Kommunikationsprozesse die Schlagkraft von Bewegungen zunehmen?
Dieter Rucht: Es steht außer Frage, dass das Internet die Kommunikationsgeschwindigkeit auf die Spitze treibt. Dennoch, die Geschichte hat gezeigt, dass sich Nachrichten lange vor der Entwicklung des Internet wie ein Lauffeuer verbreiten konnten und kurzfristig Massenproteste zustande kamen. Bei den Studierenden-Protesten 1995 in Frankreich war beispielsweise das Fax ein wichtiges Kommunikationsmittel. Schon damals schrieben die Kommentatoren, dass es dank dieser neuen Techniken nun möglich sei, Proteste schneller und effektiver zu koordinieren.
politik-digital.de: Wie sieht es denn aus mit dem Problem des “digitalen Grabens”. Ist diese Ungleichverteilung von Internetanschlüssen auch im Zusammenhang mit der Nutzung durch Protestbewegungen ein Problem?
Dieter Rucht: Bezogen auf die Studierendenschaft würde ich eher das Gegenteil behaupten, da nahezu 100 Prozent am Netz sind. Im globalen Zusammenhang, zum Beispiel bei globalisierungskritischen Gruppen, sind von den Ländern des Südens meist nur die Kommunikationseliten im virtuellen Diskurs vertreten. Aber nicht nur die Infrastruktur, sondern auch gewisse sprachliche Kompetenzen wie gute Englischkenntnisse müssen gegeben sein. Das hat oft auch Folgen für die Unterstützung durch ausländische Geldgeber im Norden. Während bestimmte Gruppen ihre Bedürfnisse sehr gut kommunizieren können, leisten andere ebenso gute Arbeit, aber verfügen nicht über entsprechende Kommunikationsfähigkeiten.
politik-digital.de: Bei öffentlichen politischen Diskursen äußern sich meist dieselben Personen. Bietet das Internet nicht eventuell die Chance, diese oder ähnliche Dynamiken auszuschalten?
Dieter Rucht: Die diskursive Auseinandersetzung über das Internet läuft meiner Ansicht nach nicht besonders gut. Theoretisch wäre es über das Internet möglich, Informationen und Beschlussanträge vorher zu verteilen um damit zu verhindern, dass Leute auf einer bestimmten Veranstaltung von einer Situation überrollt werden, ohne dass auch nachdenkliche Stimmen zu Wort kommen. Diese vorbereitende oder auch nachbereitende Meinungsbildung ist jedoch auch ohne Internet möglich. Die empirischen Analysen haben außerdem gezeigt, dass sich die Kommunikation in bestimmten Chatrooms – wie denen der politischen Parteien – auf einen sehr kleinen Kreis bezieht, der fast schon professionell agiert. Und Diskussionen zwischen vielen sind über das Internet kaum zu realisieren.
politik-digital.de: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Sie waren als junger Student an den Protesten 1968 beteiligt. Ich kann mir heute gar nicht mehr vorstellen, wie das ohne Internet funktioniert haben soll?
Dieter Rucht: Das war ganz einfach. Die Universität ist genauso wie der Betrieb der nahezu ideale Ort, um die gesamte Gruppe, die dort tätig ist, schnell zu informieren. Andere Gruppen wie Arbeitslose sind dagegen strukturell isoliert und darum viel schwerer zu mobilisieren.
Zwar steckte ich damals als Studienanfänger noch nicht so tief in der Protestbewegung drin, doch nach meinen Beobachtungen wurden Nachrichten problemlos und schnell weitergegeben. Am 2. Juni 1967, um ein Beispiel zu nennen, gab es vormittags einen Protest mit einigen Hundert Leuten gegen den Besuch des Schahs aus Persien vor dem Schöneberger Rathaus. Als es unter den Augen der Polizei zu den Übergriffen der so genannten “Jubel-Perser” kam, wurde ein Treffpunkt für denselben Abend vor der Deutschen Oper ausgemacht, die der Schah besuchen wollte. Dort kamen einige Tausend Leute, die meist durch Mund-zu-Mund-Propaganda davon erfahren hatten.
Im Gegenteil, in diesem Zusammenhang fällt mir auf, dass das Internet eventuell auch negative Effekte haben könnte. War es früher noch notwendig, an der Universität zu erscheinen, um wichtige Informationen zu bekommen, genügt heute ein Blick in den Mail-Posteingang. Diese Beobachtung aus der Distanz fördert die Bequemlichkeit und verhindert gleichzeitig die emotionale Mobilisierung, die durch Austausch; Nähe, Gemeinsamkeit und auch das Austragen von Konflikten entsteht. In diesem Fall wäre das Internet sogar kontraproduktiv.
politik-digital.de: Vielen Dank für das Gespräch!
Erschienen am 21.01.2004
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