Trotz schwindender gesellschaftlicher Verankerung der Kirchen in Deutschland und steigender Kirchenaustritte erfreut sich Papst Franziskus großer medialer Aufmerksamkeit. Seine Twitterkanäle @pontifex in neun Sprachen erreichen über 53 Millionen Follower, was ihn zum (religiösen) Influencer macht.
In ihrer Doktorarbeit „Religion in der digitalen Gesellschaft“ widmet sich Dr.in Christina Behler der Frage, für welches Problem der twitternde Papst eine Lösung sei. Hierin werden die Tweets des Papstes zum Forschungsgegenstand der sich wandelnden gesellschaftlichen Bedeutung von Religion bei einer wachsenden Rolle Sozialer Medien. Um weiterhin den Anspruch zu erhalten am globalen Diskurs mitzuwirken, steht die Kirche vor großen Herausforderungen sich den Veränderungsprozessen ihrer Zeit anzunehmen. Neben einem Einblick in die kommunikativen Strukturen der Katholischen Kirche, ermöglicht die Arbeit ein besseres Verständnis für die Wirkungsweisen und Interaktionen digitaler Kommunikation, welche überwiegend in Sozialen Medien erfolgt.In einem Interview gibt die Autorin Einblicke in ihre Forschung an der Schnittstelle zwischen Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Theologie. Zur Erklärung: da die Arbeit vor den Übernahme durch Elon Musk und Umbenennung in X erfolgte, wird im Folgenden die alte Bezeichnung Twitter weiterhin verwendet.
Das Medium ist die („frohe“) Botschaft
Aufgrund ihres Charakters als verkündende Religion haben mediale Revolutionen die Kirchengeschichte maßgeblich beeinflusst. Prägnant bedeutete die Erfindung des Buchdrucks eine Revolution im Zugang und der Verbreitung von Wissen, führte aber auch zur Kirchenspaltung. Als Praktikantin für Radio Vatikan im Rahmen ihres Studiums der Journalistik, erlebte die Autorin die Arbeitsweise kirchlicher Kommunikationsarbeit aus erster Hand. Dabei bekam sie auch die Auswirkungen durch die vatikanische Medienreform 2016 mit.
Für die studierte Journalistin gilt zu bedenken: „Verändern sich auch Strukturen in unserer Gesellschaft, revolutionieren sich bestimmte Dinge in unserer Gesellschaft, gerade auch was Religion anbelangt, die ist davon nicht ausgenommen, wie auch jedes andere System.“ Zwei Perspektiven prägen den kirchlichen Blick. Zum einen müsse die Kirche anschlussfähig bleiben, indem von kleinen Pfarreien über die Bistümer bis hin zum Papst alle Soziale Medien für sich nutzen. Zum anderen wird in verschiedenen Dekreten eine warnende Position gegenüber den negativen Konsequenzen dieses Wandels eingenommen, wobei, wie Dr.in. Behler betont, die katholische Kirche bemühe sich insbesondere darum, eine kritische Beurteilung neuer Kommunikationsweisen zu fördern. Angeregt durch eine Masterarbeit zur vatikanischen Medienreform entstand die Faszination für das Zusammenspiel zwischen Massenmedien und Religion, weshalb sich das Thema eines twitternden Papstes anbot. Trotz vielseitiger Umbrüche besteht das Papstamt weiter, weshalb es wohl eine Funktion erfüllen muss, die nicht durch andere Systeme aufgefangen werden kann. Die Forschungsfrage lautet daher: „Für welches Problem ist der twitternde Papst die Lösung?“
Wichtig ist Dr.in Behler hier zu betonen, dass es sich gerade um keine theologische Arbeit handelt, sondern um eine soziologische Arbeit, welche Strukturen, Muster und kommunikative Spezifika Sozialer Medien am Beispiel der Katholischen Kirche, personifiziert in der Rolle des Papstamtes, als Forschungsgegenstand in den Blick nimmt.
Pop(e)-Ikone-Papst Franziskus eine Marke für sich!
Zentraler Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist, wie die Religionssoziologin betont, der Anspruch dass dem Papst qua Amt stets noch eine gewisse Handlungsmacht zugesprochen wird: „Irgendwie wird erwartet, dass er sich einmischt oder sich bspw. zur Wahl in Amerika positioniert, die wir jetzt erst hatten, wo dann aber auch heftig kritisiert wird, wenn er sich dann äußert und viele dann enttäuscht sind, weil er sich nicht so äußert, wie sie sich das vorgestellt hatten. Also da sieht man auch, dass es nicht irrrelevant ist, was religiöse Vertreter zu bestimmten, auch politischen Angelegenheiten, zu sagen haben.“
Auf die Frage, für welches Problem der twitternde Papst die Lösung sei, lassen sich in „Religion in der digitalen Gesellschaft“ (2024) darauf aufbauend drei Antworten herausarbeiten.
Erstens ermöglicht ein digital sichtbarer Papst auf Twitter eine neue, wenn auch simulierte, Nähe. Es ist nun nicht mehr zwingend nötig nach Rom zu fahren, um am Leben und Wirken des Papstes teilhaben zu können.
Zweitens ermöglicht die Kommentarfunktion unter den Tweets des Papstes potenziell in Interaktion zu treten, somit einen Dialog zu eröffnen, der analog kaum möglich sein würde.
Drittens schafft eine digitale Diskussionsplattform Platz für Kritik und Protest, spiegelt somit die Meinungsvielfalt kirchennaher und kirchenferner Gruppen wider. Es wird ein digitaler Raum geschaffen, um Zuspruch und Ablehnung kontroverser Themen sichtbar zu machen.
Immer wieder ist Papst Franziskus ein beliebtes Motiv für KI-generierte Bilder. Der vermeintliche Auftritt des Pontifex in modischer Daunenjacke sorgte für großes mediales Interesse. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin Dr.in Behler blickt aufgeschlossen auf diesen Trend: „Es wäre eigentlich eine schöne Vorstellung von Lockerheit und Coolness, die der Katholischen Kirche tatsächlich auch mal ganz guttun würde. Also ich finde die Bilder eigentlich ganz amüsant. Und klar, sie sind extrem realitätsfern, aber es wäre eigentlich ganz schön, wenn ein bisschen von dem auch Realität wäre.“ Zugleich betont sie aber auch, dass es ethische Grenzen geben müsse, etwa wenn der Papst auf einmal Waffen in der Hand trägt. Immer wieder ist das Auftreten des Papstes Thema von massenmedialer Berichterstattung. Wie keine andere religiöse Persönlichkeit besitzt der Pontifex ein besonderes Alleinstellungsmerkmal, steht als personifiziertes Symbol des katholischen Glaubens. Daher ist es nicht abwegig von einem religiösen Influencer oder auch anders gesagt Pop(e)-fluencer zu sprechen. Egal ob religiös oder nicht religiös, der Papst gilt als Pop(e)Ikone, was daran deutlich wird, dass trotz fehlender realer wirtschaftlicher oder politischer Macht: „Staatschefs, egal welcher Konfession oder aus welchem Land sie kommen immer freudig herbeieilen, wenn der Papst sie zu einer Audienz ruft oder bei Staatsbesuchen ihnen wichtig ist, mit ihm gesehen und auch fotografiert zu werden“, wie Dr.in. Behler unterstreicht.
Ein Blick in den digitalen Alltag von Papst Franziskus
„Religion, wenn sie digital sichtbar wird, wird auch beobachtbar, also zum Beispiel eben durch so einen twitternden Papst, und dann wird sie auch noch mal zugänglich für ganz andere Personengruppen“ erläutert die Autorin im Bezug auf die sich verändernde Rolle von Religion einer sich wandelnden Gesellschaft. Gerade für einen religiösen Influencer mit über 53 Millionen FollowerInnen ist es daher umso verwunderlicher, wenn Papst Franziskus von sich selbst behauptet, er kenne sich mit digitalen Medien wie Twitter kaum aus und könne diese kaum bedienen. Im Gegenteil warnt er doch sogar vor den negativen Auswirkungen von Sozialen Medien, dass sich viele Menschen dort vollkommen anders darstellen, als sie wirklich sind.
Auf diesen Widerspruch reagiert die Religionssoziologin, indem sie verdeutlicht, dass sich Papst Franziskus selbst nicht als Digital Native bezeichnen würde. Der Fokus der Arbeit liegt darauf, wie der Papst als Person des öffentlichen Lebens in den Sozialen Medien von außen wahrgenommen wird: „Ich denke mir, die wenigsten würden davon ausgehen, dass der Papst da jeden Tag am Handy sitzt und seine Tweets selber absetzt, darum geht es auch gar nicht, sondern es geht mehr darum zu sehen, wie wird er denn wahrgenommen? Er wird als authentischer religiöser Sprecher wahrgenommen.“ Als Nachfolger des Apostel Petrus ist der Papst qua Amt zu religiöser Kommunikation, sprich der “Verkündigung des Wortes Gottes“ verpflichtet.
Das Twitter-Verhalten des Papstes erlaubt hierbei einen Einblick in den Alltag des Papsttums. Auf der digitalen Präsenz werden etwa Ausschnitte aus Predigten, Gebeten oder Ansprachen von Papst Franziskus geteilt. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit flexibel den Alltag der Kirche zu erleben: „Man kann in Ausschnitten am Weihnachtsgottesdienst teilnehmen, an der Ostermesse, am Urbi Orbi Segen, an allem, was der Papst in seinem kirchlichen Alltag macht und was ihm wichtig ist. Die Menschen können daran partizipieren, ohne dass sie sich auch aktiv und bekennend dazu verhalten müssten.“ Dieser Einblick wird auch kirchenfernen gewährt, wie die Wissenschaftlerin betont: „Man kann am religiösen Alltag der Kirche oder des Heiligen Stuhls teilnehmen, obwohl man vielleicht gar nicht zu dieser Kirche gehört, obwohl man nicht vor Ort ist.“
Dialog im digitalen Raum - Ein Kommentar für den Papst
Gerade diese neue Form der Zugänglichkeit ermöglicht eine andere Interaktion mit der Institution des Papstamtes und neue Formen religiöser Kommunikation. Hierunter ist mehr als der Austausch von Informationen oder nur Kommunikation mit oder über Gott zu verstehen. Religion wird als Betrachtung des Immanenten aus der Perspektive des Transzendenten verstanden. Entscheidend ist für Dr.in Behler, dass Menschen religiöse Kommunikation unabhängig von ihrer Sozialisation erkennen können. Folglich werden die Tweets des Papstes, einem anerkannten religiösen Sprecher, selbst als religiöse Kommunikation wahrgenommen.
Das Spannende, wie die Religionssoziologin betont, ist, dass potenziell durch die Kommentarfunktion eine Interaktion mit dem Papstamt geschaffen wird, welche sonst kaum möglich ist, da die wenigsten die Gelegenheit für ein persönliches Gespräch mit dem Papst haben. Zwar reagiert der Account des Papstes niemals auf Kommentare jeglicher Art, es bestünde jedoch das Potential. Gerade hier bietet Twitter eine einmalige Chance, findet Behler: „da twittert jetzt der Papst und ich kann mit dem direkt interagieren, das ist ja das Faszinierende an Sozialen Medien, dass ich eine Simulation habe von Ansprechbarkeit und Nähe zu Personen, die ich im realen Leben nie hätte. Wer von uns hat schon die Gelegenheit, dem Papst mal Feedback zu geben oder seine Meinung generell irgendwie kundzutun, ob er das dann liest ist natürlich fraglich.“
Vom Beobachter zum Beobachteten - die neue Bedeutung des Papstes
Eine dritte und entscheidende Funktion von Twitter ist die Möglichkeit, Kritik zu äußern und diese sichtbar zu machen. Vielseitige Kontroversen rund um kirchliche Reizthemen werden erkennbar. Eine Analyse der Tweets macht deutlich, dass sich Papst Franziskus inhaltlich von spirituellen Inhalten, hin zu mehr ethischen Themen wie dem Klimawandel, Armut und Frieden wendet. Hierbei hat sich durch den gesellschaftlichen Wandel die Rolle der Kirche verändert. War diese im Mittelalter noch in der Lage, ein moralisches Wertesystem vorzugeben und ein hieran entsprechend ausgerichtetes Verhalten einzufordern, muss sich die Kirche heute selbst zunehmend legitimieren, ihren Anspruch auf Mitsprache im globalen Diskurs durchzusetzen.
Einerseits agiert Papst Franziskus hier als Beobachter des Weltgeschehens, äußert sich kritisch über globale Fragen wie den Klimawandel oder globale Ungleichheit und tritt zunehmend deutlich auch als politischer Akteur in Erscheinung. Andererseits wird der Papst selbst zum Beobachteten, welcher sich selbst dem kritischen Blick einer digitalen Öffentlichkeit gegenüber seinen Äußerungen und seinem Verhalten stellen muss. Auf diese Weise, unterstreicht die Religionssoziologin Dr.in Behler, wird die Meinungsvielfalt gegenüber und innerhalb der Kirche digital und für jeden sichtbar gemacht. Ein Vergleich der verschiedenen Twitterkanäle, welche in neun Sprachen bedient werden, macht dabei deutlich, dass jede Region ihre eigenen Schwerpunkte setzt. Während im deutschsprachigen Raum vor allem Themen wie der Synodale Weg, die Frauenordination oder der Missbrauchsskandal dominieren, ist es im amerikanischen Raum der Umgang mit Trump oder die Diskussion um die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen. Auf dem spanischsprachigen Account wird besonders die Korruption in Lateinamerika angesprochen, wobei Papst Franziskus aufgrund seiner argentinischen Heimat hierzu besonders in die Verantwortung genommen wird.
Erstaunlich ist hierbei, dass Papst Franziskus gerade von kirchenfernen, teils sogar offen atheistischen Personengruppen, viel Zuspruch für sein politisches Engagement bekommt. Hingegen erfährt das Kirchenoberhaupt besonders von jenen Kirchenmitgliedern, die sich oft als konservativ bezeichnen, für selbige Inhalte viel Ablehnung und Kritik, da er seinen spirituellen Pflichten immer weniger nachkomme und sich viel zu sehr politisch äußere. Für die Wissenschaftlerin ist vor allem entscheidend, dass hier ein Raum für Diskussionen entsteht, welche die Meinungsvielfalt innerhalb und außerhalb der Kirche sichtbar macht, wobei keine Moderation erfolgt: „Ich finde es gut, dass man auch wirklich unliebsame Kommentare stehen lässt und diese nicht unterbindet und ein Bild reproduziert, dass nicht alle zustimmen, was der Papst da macht, weil das ist ja in der realen Welt auch nicht der Fall und digital wird das dann eben nochmal beobachtbar.“
Aus Twitter wird X, sonst ändert sich nichts
Zufälligerweise erfolgte die Umbenennung von Twitter in X nur einen Tag nach der Abgabe der Doktorarbeit. Dennoch scheinen die Veränderungen der Plattform seit der Übernahme durch Elon Musk keine Spuren beim twitternden Heiligen Stuhl hinterlassen zu haben. Weiterhin wird der Account beschrieben als „offizielle Twitter-Seite Seiner Heiligkeit Papst Franziskus“. Vielmehr behält sich der Papst einen Wiedererkennungswert, indem er es schafft, den Rhythmus des kirchlichen Alltags in den digitalen Raum zu übertragen, um Menschen dort zu erreichen.
Zwar begrüßt die Verfasserin der Studie, dass die Katholische Kirche hier jegliche Form des Protests zulässt, welche im Analogen oft unterbunden wird, jedoch würde sie sich eine stärkere Moderation, zumindest im Hinblick auf den Jugendschutz wünschen. Hier nimmt sie sowohl die vatikanischen Medien als auch die Betreiber der Plattform selbst in die Verantwortung. Allerdings ist es auch kirchliche Praxis, dass sich der Papst nicht selbst zu seinen Publikationen äußert, sondern anderen die Interpretation seiner Ausführungen überlasst.
Auf Nachfrage, worüber die Religionssoziologin mit dem Papst gerne sprechen würde, wünscht sie sich einen tieferen Einblick darin, wie die vatikanischen Institutionen mit den Sozialen Medien umgehen. Gerne würde sie erfahren, ob eine Analyse der Kommentare erfolgt, ob Themen aufgegriffen werden. Zudem würde sie gerne mit dem Papst darüber sprechen, wie er sich selbst in den Sozialen Medien sieht und ob er sich darüber bewusst ist, wen er hier, anders als analog, erreicht.
Ein Besuch beim twitternden Papst
Zusammenfassend bietet die Arbeit einen Einblick in eine Kirche, welche sich hinterfragen muss und nicht mehr als selbstverständlich verstehen kann. Angesichts vieler Krisen, berechtigter Kritik sowie schwindender gesellschaftlicher Bedeutung muss sich die Kirche der Wirkung ihrer Kommunikation nach außen bewusstwerden. Die Funktion eines twitternden Papstes besteht nach Dr. in Behler folglich darin, „Anschlussfähigkeit herzustellen in einer Welt, in der Religion nicht mehr für sich alleine steht, sondern mit anderen Systemen konkurriert.“ Ein twitternder Papst ermöglicht Sichtbarkeit und macht die Aktivitäten der Katholischen Kirche beobachtbar, wodurch eine kritische und öffentlich einsehbare Kommunikation mit dieser Institution eröffnet wird.
Gerade da es sich um eine soziologische Arbeit handelt, welche das digitale Kommunikationsverhalten des Papstes zum Ausgangspunkt nimmt, bietet diese Untersuchung viele Anregungen für Personen, die selbst nicht religiös sozialisiert worden sind.. Hierin werden viele Aspekte rund um die Funktionsweise von Sozialen Medien und digitaler Kommunikation angesprochen. Der interdisziplinäre Ansatz, Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften und Theologie miteinander zu verbinden, bietet großes Potential für weitere Fragestellungen.
Ausblickend verrät die promovierte Religionssoziologin noch, dass sie bereits Papst Franziskus eine Ausgabe ihrer Doktorarbeit zugesendet hat. Sollte sich die Gelegenheit zu einem Treffen ergeben, um mit dem Papst über ihre Forschungen zu sprechen, ist vielleicht bald in einem Tweet über diese besondere Begegnung mit dem twitternden Papst zu lesen.
„Religion in der digitalen Gesellschaft – Wenn der Papst twittert …” ist 2024 im transcript Verlag erschienen.
Text: CC-BY-SA 3.0