politik-digital sprach während der diesjährigen
Online-Educa mit Matti Sinko, Projektdirektor der
Finnish Virtual University, der sich seit 1989 in leitenden Positionen mit dem Einsatz von computergestützten Lernens in der universitären Ausbildung beschäftigt.
politik-digital: Wie lauten die gegenwärtigen Schlagwörter der e-Learning Debatten? Gibt es Unterschiede zwischen den Debatte an Universitäten und in der freien Wirtschaft?
Matti Sinko: Ich denke, die Debatten an den Universitäten sind sehr unterschiedlich zu denen in der freien Wirtschaft. Ich beteilige mich nicht an den trendigen, oftmals hype-artigen Formulierungen der Wirtschaft. Denn das ist meiner Meinung nach der wesentliche Unterschied zwischen beiden. Im Gegensatz zur Industrie und den dort beliebten Marketingslogans, ist die Aufgabe des akademischen Diskurses eine umfassendere. Wir versuchen aufzuzeigen, was das Neue am Neuen ist, woher es kommt und wie es sich von den bisherigen Konzepten und Anwendungen in der Praxis unterscheidet – oder eben nicht.
E-Learning ist eindeutig eines dieser Hype-Wörter im Stile von e-Anything. In den 70 Jahren wurde an alle Begriffe ADP (automatische Datenverarbeitung) angehängt. In den 80 er Jahren war alles computergestützt oder rechnergestützt und in der letzte Dekade war alles online- und virtuell. Jetzt heißt alles e-Learning, e-Government, e-Business. Dabei ist e-Learning lediglich Computer- und netzgestützte, automatische Datenverarbeitung und Datentransfer zur Unterstützung und Förderung von Lehren und Studieren. Die Sprache der Wirtschaft ist sehr innovativ. Das “e-Jahr” ist so kurz und hektisch, dass zur gründlichen Produkteinführung keine Zeit bleibt und daher die alten Produkte einfach nur in neue sprachliche Verpackungen gekleidet werden, um mit der Schnelllebigkeit des “e-Lebens” Schritt zu halten.
Dabei zählt eigentlich nur das wirkliche Leben – besonders trifft das für Studenten zu, die gerade von zu Hause ausgezogen sind und neue aufregende Lebenserfahrungen machen wollen, wie neue Kontakte knüpfen, neue Liebesbeziehungen eingehen oder neue Abenteuer in der Freizeit, im Beruf und in der akademischen Welt erleben wollen. Das sind so tiefgreifende Herausforderungen für sie, dass die virtuelle Version davon dem realen Leben eine neue Qualität hinzufügen muss, um wirklich konkurrenzfähig zu sein. Wenn also ein Student Kunde deines e-Services bleibt, hat dein Angebot diese Qualität.
politik-digital: Welche Geschäftsmodelle sind gerade en vogue und welche erfolgreich?
Matti Sinko: Ich denke, wie wir e-Learning erleben, gleicht dem déjà-vu-Phänomen – vergleichbar den ersten Autos auf unseren Straßen zu Zeiten von Pferdekutschen und dem ungläubigen Staunen und Entsetzen darüber. Unser sich nach und nach virtualisierendes Bildungssystem wird immer noch in Metaphern, Bildern und Strukturen der alten klassischen Zeit beschrieben, wie beispielsweise Klassenzimmer, Vorlesung oder Seminar. Die neuen Lernumgebungen und Bildungsinstitutionen haben noch keine eigene sprachliche Form gefunden. Das trifft auch auf eigene und neue Geschäftsmodelle zu. Es gibt viele verschiedene Geschäftsmodelle in den USA im Unterschied zu Europa und zu Deutschland, obwohl die Digitalisierung den Prozess der Bildung eines einheitlichen, europäischen Bildungsmarktes beschleunigt. Es wird viele erfolgreiche Gründungen von virtuellen Universitäten geben. Ich glaube, dass Universitäten und Hochschulen sowohl staatlich als auch privatwirtschaftlich verfasst sein werden.
Aus der nordisch-skandinavischen Tradition kommend, bin ich von der Wettbewerbsfähigkeit der öffentlichen Bildungseinrichtungen überzeugt, die in enger Zusammenarbeit und Kommunikation mit der Wirtschaft stehen müssen.
politik-digital: Welche technischen Entwicklungen werden e-Learning beeinflussen?
Matti Sinko: Videokonferenzen, und Internettelefonieren werden in naher Zukunft e-Learning bereichern. Zusammen mit Spracherkennung und sprachgesteuerten Anwendungen, persönlichen virtuellen Assistenten in Roboterform und drahtloser mobiler Breitbandtechnik – auch m-Learning genannt – werden sich die bisher geltenden Standards des e-Lernens verändern. Aber alle diese Entwicklungen brauchen ihre Zeit, bis sie nicht nur von den Pionieren, sondern auch von der breiten Masse akzeptiert und angewendet werden, wenn es ihnen nicht so wie vielen anderen technischen Entwicklungen gehen soll, die sich nie durchgesetzt haben. Aber eigentlich überlasse ich solche Voraussagen den Futuristen und konzentriere mich auf die Förderung der bestehenden Techniken und deren Anwendung.
politik-digital: Unterstützt e-Learning die Entwicklung einer neuen Lernkultur oder ist es nur “alter Wein in neuen Schläuchen”?
Matti Sinko: Ja und Nein. Die Verbesserung der Lernkultur ist eine große Herausforderung, die nicht durch die Entwicklung neuer Technik gelöst werden kann. Aber andererseits gibt es weltweit so viele Herausforderungen im Bereich Bildung, dass wir mit größter Anstrengung erforschen sollten, wie uns die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) bei der Bewältigung dieser vielfältigen und andauernden Herausforderungen helfen können.
politik-digital: Fühlen sich Studenten in virtuellen Klassenräumen einer erhöhten Kontrolle ausgesetzt?
Matti Sinko: Einige Studenten befürchten das. Andere befürchten richtigerweise den Verlust der Möglichkeit, als stiller Hinterbänkler oder “blinder Passagier” das Geschehen nur zu beobachten. Wenn gewünscht, ist man größeren Kontrollmöglichkeiten ausgesetzt. Aber das bringt uns zu Fragen der Pädagogik zurück: Die neuen IuK-Technologien können zu mehr Kontrolle genützt werden, können aber gleichzeitig dem Lernenden zu mehr Freiheit verhelfen. Denn wir, die Lehrer, die Entwickler, die Bürger entscheiden über die Einführung und Nutzung der IuK-Technologien.
politik-digital: Ist ihrer Meinung nach das Internet noch ein Ort des freien Austausches von Wissen? Oder ist das eine zu romantische Ansicht?
Matti Sinko: Ich bin gleichzeitig Realist und Romantiker! Die gegenwärtigen Tendenzen zu vermehrter Kontrolle des Internets, der Monopolisierung, der Ausbeutung von Menschen zur Profitmaximierung kollidieren immer mit den entgegengesetzten Tendenzen der Erhaltung bzw. Einführung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Wahrung von geistigen Eigentumsrechten. Begriffe wie Individualität und Isolation im Gegensatz zu Solidarität und Konformismus werden ständig neudefiniert. Es wird Kämpfe geben, positive wie negative Entwicklungen und Tendenzen – aber so ist nun mal die Natur des sozialen Lebens.
Gegenwärtig fördern wir an unserer Universität die Veröffentlichung von Kursen im Internet. Das hat die Debatte und das Verständnis über die Einhaltung der Urheberrechte der Verfasser angeheizt und auf eine neue Stufe gebracht. Dabei kam es zu unterschiedlichen Lösungen. Kurzfristig betrachtet, führt die Einhaltung der Eigentumsrechte der Verfasser zur Verringerung der Veröffentlichungen im Netz, aber langfristig stärkt es die “open source” (offener Quellcode) Bewegung. Diese beiden Entwicklungen sind aber gar nicht so gegensätzlich wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, da die Beachtung der Urheberrechte jedem Einzelnen die Möglichkeit bietet, frei über deren Ausgestaltung zu entscheiden.
politik-digital: Kann durch den Einsatz von e-Learning der Wissensunterschied zwischen der sogenannten “ersten Welt” und der “dritten Welt” gemindert werden?
Matti Sinko: Kurzfristig sehe ich die Sache eher gegenteilig, dass e-Learning die digitale Spaltung der Gesellschaften vergrößert bzw. sichtbarer macht. Aber langfristig, denke ich, können Iuk-Technologien eine nachhaltige Entwicklung befördern und die Wissenskluft zwischen armen und reichen Ländern verringern. Besonders mobile Technologien und günstige Palm-Tops können hilfreiche Werkzeuge beim Kampf um eine nachhaltige Globalisierung sein. Aber einer solchen Entwicklung unterliegt kein innewohnender Automatismus. Es benötigt vielmehr einen klaren politischen Willen zur Schließung der Wissenskluft.
politik-digital: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Matti Sinko führte Clemens Lerche.