politik-digital sprach während der diesjährigen
Online-Educa mit Gunnar Brückner, Chief Learning Officer (CLO) des
United Nations Development Programme (UNDP) / Learning Resources Center, New York. Herr Brückner ist verantwortlich für die interne Weiterbildung von ca. 5000 Mitarbeitern, die in 140 Länder-Vertretungen des UNDP arbeiten.
politik-digital: Was hat UNDP bewogen, e-Learning einzusetzen?
Gunnar Brückner: Wenn man bedenkt, dass unsere Mitarbeiter auf der ganzen Welt in 140 Ländern verteilt sind, und unsere Zentrale in New York sitzt, war es zunehmend teuer und unbefriedigend, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, wenige Mitarbeiter für Seminare nach New York einfliegen zu lassen. Außerdem arbeiten Mitarbeiter teilweise in aktuellen Krisengebieten und können nicht einfach zur Weiterbildung das Land verlassen. Das alte Weiterbildungssystem konnte nur wenige, ausgesuchte Mitarbeiter erreichen, das war zu hierarchisch und zu zentral organisiert. Durch die Einführung einer ganz neuen Lernkultur haben wir dank der Nutzung des Internets unsere Weiterbildungsmaßnahmen dezentralisieren können. So können wir auch besser auf spezifische kulturelle Gegebenheiten eingehen, da die Menschen vor Ort ihr Lernen jetzt mit- bzw. selbstbestimmen können.
Es entstehen ganz neue Kommunikationsformen, die vorher so nicht existierten. Es beschränkt sich nicht mehr auf Weiterbilden (“Training”), sondern verändert die gesamte Lernkultur der Organisation. Die Betonung verschiebt sich von “formal training” hin zu “informal learning”, wobei betont werden muss, dass “formal training” weiterhin seinen Platz im Lernangebot unserer Abteilung behalten wird. Informelles Lernen, bezogen auf das Lernen am Arbeitsplatz, ist all jenes Lernen, welches nicht im Detail von der Organisation vorgegeben ist, wie zum Beispiel ein Seminarplan oder auch nur eine Präsentation. Informelles Lernen orientiert sich an den unmittelbaren Bedürfnissen des Lerners und erfolgt eher unstrukturiert, genau zu dem Zeitpunkt, an dem es gebraucht wird. Die Herausforderung für eine “Lernende Organisation” besteht darin, möglichst viele Räume (real und virtuell) zu schaffen, damit informelles Lernen in viel größerem Umfang stattfinden kann als das normalerweise der Fall wäre.
Übrigens haben wir mit unserer “learning policy” andere UN-Organisationen wie etwa
UNHCR oder
UNFPA beeinflusst, die durch die positive Resonanz auf unser Experiment Elemente unsere “learning policy” in ihre Eigene übernehmen. Das ist ein großer Erfolg für uns, auf den ich sehr stolz bin.
politik-digital: Unterstützt e-Learning die Entwicklung einer neuen Lernkultur oder ist es nur eine neue Lerntechnik in neuem Marketingjargon – gleich dem Motto: “Alter Wein in neuen Schläuchen”?
Gunnar Brückner: Wir können uns in der Tat auf eine neue Lernkultur gefasst machen. Die jüngeren Generationen denken, fühlen und handeln schon jetzt signifikant anders als die heute Vierzigjährigen. E-Learning wird zum integralen Bestandteil des Lernens, und zwar immer und nicht nur während der Schulzeit. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass es nicht darum geht, eine wie auch immer geartete Lernerfahrung der traditionellen Art im Internet zu replizieren, sondern gänzlich neue Wege und Methoden des Lernens zu nutzen. SMS zum Lernen, Verknüpfung von GPS und Lernen und so weiter. Darin besteht heute eine ganz besondere Herausforderung an die e-Learning Industrie.
politik-digital: Kann durch den Einsatz von e-Learning der Wissensunterschied zwischen der sogenannten “ersten Welt” und der “dritten Welt” gemindert werden?
Gunnar Brückner: Ja. Die Diskussion wird kontrovers geführt aber ich gehöre zu denen, die sich ein ”
leapfrogging“, d.h. ein Überspringen von Entwicklungsschritten mit Hilfe des Internets vorstellen können. Ein Knackpunkt in dieser Diskussion ist die Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die den Zugriff auf diese modernen Technologien ohne staatliche Eingriffe ermöglichen. Projekte, deren Zielsetzung die Schaffung einer Informations- bzw. Wissensgesellschaft ist, sind in der Regel nützlicher als einseitig technische Projekte.
politik-digital: Wie lauten die gegenwärtigen Schlagwörter der e-Learning Debatten?
Gunnar Brückner: Schlagwörter in der internationalen Diskussion (daher meist in Englisch) sind die Konvergenz von Wissensmanagement und e-Learning; und immer noch “blended learning”, d.h. die Kombination von e-Learning mit klassischem Präsenzunterricht. Für mich persönlich ist “informal learning” ganz hoch auf der Tagesordnung. Ferner wird “just in time learning” im Unterschied zu “just in case learning” immer wichtiger und dabei spielen “learning objects” eine immer wichtigere Rolle. Aber das ist zugegebenermaßen nicht gerade neu. Lerning Objects sind so etwas wie klar definierbare Lernbausteine, aus denen sich Lernaktivitäten zusammensetzen. Nehmen wir zum Beispiel ein hypothetisches Online Modul zum Thema Feedback. Das setzt sich zusammen aus vielen Bausteinen: einem Einführungstext, einer Übersichtsgraphik, einem oder mehreren Texten zum Thema, einem Quiz am Ende und so weiter. Alle diese Bausteine könnten theoretisch für ein anderes Modul weiterverwandt werden oder könnten auch einzeln, also außerhalb des Feedback Moduls zum Lernerfolg eines Mitarbeiters beitragen, vorausgesetzt er/sie kann den richtigen Baustein zum genau richtigen Zeitpunkt finden. Das ist genau die Idee, die hinter UNDPs
e-Learning-Tree steckt, bei dem sich der Lerner an einem visuellen Baum orientiert, dann eine Entscheidung trifft, was er/sie lernen will, um dann durch einen Doppelklick ein Menu von Lernobjekten (Lernbausteinen) zu aktivieren, aus dem dann ausgewählt werden kann.
politik-digital: Gibt es Unterschiede zwischen der Debatte an Universitäten und in der freien Wirtschaft?
Gunnar Brückner: Ich sehe keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Debatten, aber möglicherweise ist meine Wahrnehmung geprägt von der Situation in den USA, wo sich die Universitäten traditionell eher dem unternehmerischen (“corporate”) Model unterordnen. Viele Universitäten sind “corporate ventures”, d.h. sie sind privatrechtlich und nach betriebswirtschaftlichen Regeln organisiert und beginnen, im Bereich e-Learning erste Erfahrungen zu sammeln, Allianzen zu schmieden – und diese auch wieder verwerfen.
politik-digital: Welche Geschäftsmodelle sind gerade en vogue und welche erfolgreich?
Gunnar Brückner: Ingesamt kann man davon ausgehen, dass sich der Markt zunehmend konsolidieren wird. Einige wenige Anbieter werden komplette Lösungen von A bis Z anbieten, aus denen sich der Kunde dann die passende Lösung für sich heraussucht. Nischenanbieter werden aber auch immer eine Chance behalten. Zunehmend werden im Modell der Komplettanbieter die Technologiedienste von den Inhalt- und Servicedienstleistungen verdrängt werden.
politik-digital: Welche technischen Entwicklungen werden e-Learning beeinflussen?
Gunnar Brückner: Mit der zunehmenden Verringerung von Breitbandproblemen (“broadband technology”) kann sich im Feld der sprachgesteuerten Anwendungen etwas tun. Sprachgesteuerte Anwendungen (“voice-enabled technology”) kombiniert mit Touchscreen-Technologie könnten auch im Bereich der Entwicklungsländer von Nutzen sein, aber ich sehe die Entwicklung noch nicht klar und würde diese Möglichkeit keinesfalls als den kommenden Trend bezeichnen.
politik-digital: Was hat es mit den Breitband-Technologien auf sich?
Gunnar Brückner: Solange die Netzanbindung an und für sich noch so große Problem darstellt, kann man kurzfristig einfach noch nicht so viel erwarten. Der Benutzung von Simulationen im e-Learning wird in Abhängigkeit von der Breitband -Entwicklung sicher eine gute Zukunft blühen, obwohl auch hier das Geheimnis nicht in der Technologie an für sich liegt, sondern darin, den Lernenden ein Erlebnis zu verschaffen. Die Lernerfahrungen der Lernenden bzw. der Kunden wird in diesem Zusammenhang zum treibenden Faktor werden denn: Das ‘e’ in e-Learning steht für
experience – und nicht für
electronic oder was auch immer!
politik-digital: Kann man feststellen, dass seit den
Terroranschlägen auf New York und Washington und den Milzbrandattacken die Menschen Angst vor dem Reisen haben und daher e-Learning bevorzugen?
Gunnar Brückner: Man wird niemals gänzlich jede Form von sozialer Interaktion ersetzten können jedoch neue Formen finden, z.B. Chat und Instant-Messaging, die zum integralen Bestandteil unserer Kommunikation werden. Soziale Interaktionen wird es immer geben müssen, und meiner Erfahrung nach steigert das Vorhandensein von e-Learning diesen Bedarf sogar. Kollegen, die sich online treffen und mögen, werden Mittel und Wege finden, sich auch im realen Leben zu treffen. Gleichsam ist face-to-face Kommunikation von hoher Bedeutung bei der Formierung von erfolgreichen Lerngemeinschaften (“communities of practice”).
politik-digital: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Gunnar Brückner führte Clemens Lerche.