1994 wagten sich die ersten deutschen Verlage und Sender ins Netz. Zehn spannende, aufregende Jahre – inzwischen ist Online ein etabliertes, lebendiges Medium. Mit einer Einschränkung: Journalismus spielt keine nennenswerte Rolle.

Herbert Riehl-Heyse schüttelte den Kopf. Sie wolle zu einem Online-Medium wechseln, hatte ihm da gerade eine junge Zeitungskollegin gebeichtet. Alles Mist, brummelte der große Riehl-Heyse und subsummierte in zwei Worten, was A-Class-Journalisten aus den alten Medien noch Ende der 90er-Jahre über Online dachten.

Und – höchstens in etwas mildere Worte verpackt – großenteils immer noch denken. Aus freien Stücken und journalistischen Erwägungen in eine Internet-Redaktion zu wechseln, gilt gestandenen Print- oder TV-Machern als undenkbar, jenseitig. Es gibt Ausnahmen wie Spiegel Online-Chef Müller von Blumencron. Es sind wenige.

Im Trüben fischen

Anfangs spielte bei der barschen Abwehrhaltung auch Unkenntnis mit – etwa, als Wolf von Lojewski zu “heute journal”-Zeiten einen ihm mühsam abgerungenen Online-Hinweis vor Millionen Zuschauern mit den Worten einleitete: “Falls Sie mal wieder im Trüben fischen wollen…”. Inzwischen ist das Netz als Phänomen bis zum hintersten Old-Media-Redakteur durchgedrungen. Nur – es entfaltet keinen Sex-Appeal.

Welch ein Unterschied zu den Anfangstagen des Fernsehens. Als die Bilder auch im TV laufen lernten, wechselten renommierte Hörfunk- und Printjournalisten in das neue Medium. Neben Unterhaltung stand Fernsehen in Deutschland von Beginn an auch für journalistische Formate – eine neue, elektrisierende Spielwiese für Reporter und Autoren.

Der Schwenk in die Gegenwart macht das ganze Ausmaß der onlinejournalistischen Versteppung deutlich. Überläufer wie Heribert Prantl oder Claus Kleber wird es nicht geben. Natürlich nicht – dazu findet zu wenig guter, originärer Journalismus im Netz statt.

Wirklich? Vielleicht sollte man sich darüber verständigen, was guter, ernstzunehmender Onlinejournalismus überhaupt ist.

Kopieren, dichten, kopieren

Ist es bereits Journalismus, die Meldung einer Nachrichtenagentur in ein Content Management System (CMS) zu kopieren? Wird Journalismus daraus, weil man eine eigene Headline erfindet, einen eigenen Vorspann dichtet? Ist es schon Journalismus, einen Print-Text oder ein Sende-Manuskript 1:1 ins Online-Angebot zu stellen? Ist es noch Journalismus, PR-Texte unredigiert ins Netz zu stellen – etwa Verlagstexte als Buchrezensionen? Ist es noch Journalismus, aus einer Handvoll mal mehr, mal weniger glaubwürdiger Internetquellen einen eigenen Beitrag zusammenzukopieren?

In allen vier Fällen lautet Ihre Antwort vermutlich “nein” oder “nicht wirklich”. Nur: Diese vier Szenarien decken beinahe die gesamte Spannbreite der Mainstream-Online-Publizistik ab. Informationen kommen fast immer aus zweiter Hand: Selber nachhaken, zum Telefon greifen, “auf Termine” gehen, mit Menschen reden, sich ein eigenständiges Urteil bilden aufgrund eigener Recherchen – für das Gros der Online-Journalisten nicht mehr als Theorie. Rundum eigenrecherchierte Geschichten zu produzieren, eine zentrale Fertigkeit jedes Journalisten, wird Onlinern nicht abverlangt. Schlimmer: Es gilt als Luxus.

Dass eigene Geschichten nicht oder höchstens sporadisch auftauchen, wird gerne mit “Klicks” begründet. Selbstgeschriebene Geschichten bringen keine Klicks. Heißt es. Mindestens aber zu wenige Klicks, stellt man die Mehrkosten für eigenproduzierte Inhalte in Rechnung. Hintergrund: IVW, das Zählsystem, mit dem die meisten deutschen Internet-Angebote ihre Zugriffe standardisiert messen lassen.

Ein 1×1 des Klicks

Aus journalistischer Perspektive gesehen, bewertet IVW die Online-Inhalte auf absurde Art und Weise. Eine spannende, im besten Fall sogar Image bildende Story aus eigener Herstellung – ein Klick. Eine 28-teilige Bildergalerie über die “Arschbomben-WM” (zu bestaunen bei einem ehemals Grimme-prämierten Nachrichtenangebot) – 28 Klicks. Noch grotesker wird es, wenn PDA-Seiten ins Spiel kommen. Wer seine abonnierten Nachrichtenkanäle auf dem Handheld-Computer aktualisiert, generiert auf einen Schlag Dutzende IVW-konforme Klicks. Unabhängig davon, ob auch nur eine der heruntergeladenen Seiten jemals gelesen wird.

Dass die werbetreibende Industrie dadurch potemkinsche Reichweiten-Daten erhält – ihr Problem. Journalisten aber sollten beunruhigt sein, wenn ihr Output, wenn ihre Ideen letztendlich nur im Licht solcher Zahlenspielereien taxiert werden. Und eine Ecke weiterdenken. Man könnte sinnieren, welchen Weg die Süddeutsche Zeitung gegangen wäre – hätte sie ihre “Seite Drei” mit austauschbaren Belanglosigkeiten und Agenturtexten, nicht mit exklusiven Reportagen bestückt. Heute ist die “Seite drei” eine eigene Marke, ein geldwertes “Asset” – viele Jahre lang beharrlich mit hochwertigen Inhalten angefüttert und aufgebaut.

Spiegel Online, im Oktober seit 10 Jahren “auf Sendung”, geht im Rahmen seiner Möglichkeiten in eine ähnliche Richtung – eigene Autoren besetzen oft die besten Plätze auf der Homepage. Ist das ein Gradmesser dafür, wie es um Onlinejournalismus in Deutschland bestellt ist? Natürlich nicht. Spiegel Online ist nicht repräsentativ für den Rest der Branche. Wenn die Hamburger zum zehnjährigen Jubiläum für ihre Pionierarbeit und die redlich erarbeitete Marktführerschaft in ihrem Segment gewürdigt werden, sollte man das im Blick behalten. Ebenso, dass jede bessere Regionalzeitung pro Woche mehr eigenen Journalismus generiert als die großen deutschen Online-Angebote zusammen.

Subjektiv punkten

Sind Blogs die Lösung? Spätestens seit die US-Parteitage von Bloggern als offiziell akkreditierten Berichterstattern begleitet wurden, denken große Online-Medien über Weblogs nach, integrieren sie wie Zeit.de und tagesschau.de in ihre konventionellen Angebote. Der Charme solcher “embedded blogs”: Was das Muttermedium nicht darf – extrem subjektiv berichten, Themen abseits der gewöhnlichen News-Agenda anstoßen – macht das Blog erst zum Blog.

Der besondere Reiz liegt im Nebeneinander von traditionellem Journalismus und Weblogs. Etwa, wenn es um den amerikanischen Wahlkampf geht: Würde man auf klassische Meldungen und Analysen verzichten wollen? Wohl kaum. Wird das Bild schärfer, wenn die einschlägigen Blogs gelesen werden? Definitiv.

Somit bleiben die selbst ernannten Online-Qualitätspublikationen vor ihren Hausaufgaben sitzen: Ohne eigene und unverwechselbare journalistische Inhalte geht es nicht. Neudeutsch heißt so etwas USP, Unique Selling Proposition. Gute, exklusive Storys sind so eine USP. Nein – sie wären. Aber das ist das Thema für die nächsten zehn Jahre.

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