(3. August 2006) Flickr, YouTube und Co werden zunehmend zu Plattformen für visuelle politische Kommunikation. Dr. Christoph Bieber geht der Frage nach, wie flickr & Co. die politische Bilderwelt verändern.

 

Das „Ich“ sei im Internet angekommen, vermeldete kürzlich die umfangreiche Titelstory eines großen Hamburger Nachrichtenmagazins. Aha. Und was macht es dort? Glaubt man den Großrechercheuren von der Waterkant, dann entblößt es sich dort und frönt allerlei exhibitionistischen Tag- und Nachtwerks. Hinter der grundlos reißerischen Fassade verbarg sich jedoch nichts anderes als der längst überfällige Bericht über die Renaissance des Internet als Wunschmaschine für Wirtschaft und Gesellschaft. Porträtiert wurden die Galionsfiguren des „Web 2.0“, frisch gebackene Softwaremillionäre hinter Firmen wie MySpace, flickr, YouTube, del.icio.us, PodShow und vielen mehr. Der ellenlange Text war eine Art déjà lu aus den mittleren 1990er Jahren, als die Ökonomie noch neu und das Web noch 1.0 war. Damit schloß der Spiegel eine Informationslücke zur internationalen Magazinkonkurrenz, und besonders aufmerksame Leser mochten sogar eine bedenklich Nähe zu einem Newsweek-Artikel vom April („
The New Wisdom of the Web“) erkennen. Doch geschenkt: die Ankunft der Web 2.0-Anwendungen im publizistischen Mainstream erleichtert nun den präziseren Blick auf die Nutzung eines, „sozialen“, vielleicht „menschlicher“, ganz bestimmt aber „sichtbarer“ gewordenen Netzes.

In der politischen Kommunikation ist die Rede von der „Weisheit der Massen“ im übrigen schon längst angekommen – nahezu alle Vorzeigeanwendungen aus der Social Software-Wundertüte haben schon 2005 Einzug in den Bundestagswahlkampf gefunden. CDU und SPD betrieben damals mit ihren Supporter-Sites eine Kontaktdatensammlung im Geiste von OpenBC, FDP und Grüne holten sich User Generated Content für die Entwicklung ihrer Wahlprogramme heran und ließen darüber in einem Wiki diskutieren. Die Podcast-Scharmützel zwischen der SPD-Kampa und einem gewissen „iKauder“ sind nicht nur in guter Erinnerung. Und bei flickr schoben sich politikinteressierte Digitalfotografen Unmengen von Schnappschüssen aus dem sommerlichen Blitzwahlkampf hin und her. Doch obwohl es sich gerade dabei um ein besonders „sichtbares“ Segment des Online-Wahlkampfs gehandelt hat, blieb es in der Berichterstattung über mediale Innovationen seltsam unterbelichtet.

Visuelle Archive

Was war geschehen? Über die Website der Foto-Community flickr hatten sich im vergangenen Sommer innerhalb kürzester Zeit mehrere Online-Gruppen gebildet, die sich auf die Sammlung, den Austausch und die Diskussion wahlkampfbezogener Motive spezialisiert hatten. Entstanden ist dadurch eine lose Dokumentation des visuellen Wahlkampfgeschehens, dank Szenenfotos aller Art von
übermalten Wahlplakaten oder unretuschierten
Darstellungen von Wahlkampfveranstaltungen. Zahlreiche Resultate dieser Jäger- und Sammlertätigkeit sind in Auszügen noch online zugänglich, bisweilen schon weiter geschrieben und ergänzt um neueres Material aus dem Umfeld von Studierendenprotest oder auch den in Kürze anstehenden Landtagswahlen. Insgesamt fügen sich die mehr als tausend Bildbeiträge der
Gruppe „wahl05“ zu einem aufschlussreichen visuellen Archiv des Straßenwahlkampfs, das viele Motive enthält, die niemals den Weg in die „etablierte“ Medienberichterstattung gefunden haben.

In unmittelbarer „Nachbarschaft“ hatte sich auf flickr auch eine deutlich kleinere Gruppe unter dem Label „
Wahlboykott2005“ formiert, dort stand weniger der Aspekt des Bilderhäufens im Vordergrund, als die Formulierung klarer Statements und deutlicher Kritik zur vorgezogenen Durchführung der Wahl. Gelegentlich wurden dazu die Digitalbilder auch gleich mit einer kommentierenden Textebene versehen, wie das Beispiel eines „
annotierten Stimmzettels“ im besten Wortsinne illustriert.

Dass es sich bei flickr nämlich längst nicht nur um eine bloße Datensammelstelle für mehr oder weniger willkürliche Schnappschüsse handelt, zeigt ein solch kompetenter Umgang mit den Hilfsmitteln der Bild-Plattform zum direkten Eingriff in das digitale Rohmaterial: so sind auch
Schritt-für-Schritt-Anleitungen zum Briefwahlvorgang entstanden, die einen Vergleich mit offiziellen Informationsmaterialien von Bundestag und Bundeswahlleitung nicht scheuen müssen.

Ein digitales Bild mit Politikbezug bleibt offenbar selten allein – vor allem Kommentierung, Annotierung oder Nachbearbeitung der Fotos bilden schnell neue Kristallisationspunkte für die politische Kommunikation. Damit scheint schon jetzt außer Frage, dass sich über die digitalen Bilderdienste künftig nicht nur Wahlkampagnen und –veranstaltungen abbilden und erweitern werden. Zugegeben: bislang erfolgen weite Teile der avancierten, politischen Nutzung der flickr-Plattform durch die noch eher kleine Gemeinde technikaffiner Netzbürger (und nicht zufällig finden sich unter den „politischen“ flickr-Mitgliedern gleich mehrere Blogger).

Neue Ära öffentlicher Sichtbarkeit

Allerdings verweist das Stöbern im kollektiven Fotoalbum auf enorme Potenziale im Umgang mit politischem Bildmaterial, einem häufig gleichermaßen selbstverständlich wie stiefmütterlich behandelten Genre. Digitalkamera, Camcorder, Foto-Handy und Video-iPod haben eine neue Ära öffentlicher Sichtbarkeit eingeläutet, die zwangsläufig den Umgang mit Bildern auch seitens politischer Akteure verändern wird. Dass die Zahl der insgesamt verfügbaren Bilder ansteigt, ist dabei nur ein trivialer Merkposten – „benutzerorientierte Bilddatenbanken“ wie flickr (oder in der Bewegtbildversion auch YouTube) tragen ihren Teil dazu bei, den digitalen Bilderberg zu organisieren und leisten wertvolle Orientierungshilfen. Viel entscheidender ist dagegen der Anstieg des öffentlich sichtbaren Bildmaterials – die sprunghaft wachsende Zahl der Gerichtsverfahren, die sich mit unerwünschten „Paparazzi“-Fotos befassen, ist ein deutlicher Hinweis auf diese Entwicklung.

Ähnlich wie die Bilderwelt der Stars und Sternchen steht auch die Politik hier vor einem Zwiespalt: einerseits sind immer noch die politischen Akteure selbst die größten Produzenten öffentlich sichtbaren Bildmaterials. Die Alleen von Plakataufstellern, hausgroßen Plakatwänden oder Wahlwerbespots in „heavy rotation“ untermauern die dominierende Rolle politischer Akteure, die von professionellen Medienanbietern nach Kräften unterstützt werden – und dies nicht nur zu Wahlkampfzeiten. Doch allmählich entsteht durch die Digitalisierung der Produktionsmittel auch eine „nutzerorientierte Bilderwelt“, die sich abseits des Mainstream zu entwickeln scheint: durch die Organisation privater Bilder über Angebote wie flickr.com oder youtube.com entstehen erste „Bild-Communities“, die zugleich für eine plattformgebundene Verbreitung und Diskussion des vorhandenen Materials sorgen. Aus diesem Fundus heraus „diffundieren“ die Digitalbilder dann in neue Verteilformate wie Weblogs, Pod- oder Videocasts, die das Rohmaterial gierig aufnehmen und in eigene Inhalte integrieren. Erst danach kommen die „etablierten Medien“ (oder deren digitale Erweiterungen) an die Reihe, die häufig nur noch ein schwaches Echo der ursprünglichen Netznachricht einfangen und dem verbleibenden Offline-Publikum vermelden können.

Entfesselter Bilderkreislauf

So entsteht ein offener, bisweilen entfesselter Bilderkreislauf, in den sowohl öffentliche wie private Akteure permanent Materialien einspeisen, diese aber bereits im Augenblick ihrer digitalen Bereitstellung nicht mehr kontrollieren können.

Für den traditionell bildorientierten Personenwahlkampf zeigen sich hier vielfältige Möglichkeiten, begonnen mit der digitalen Archivierung des durch Kommentare, Graffitis oder Handgreiflichkeiten veränderten Plakatmaterials im öffentlichen Raum bis zur digitalen Nachbearbeitung und Wiederverbreitung von Kampagnenmotiven im Rahmen von „Ad-Busting“ oder „Guerilla-Marketing“. Und auch für die Bürger eröffnen sich neue, unerwartete Beteiligungsmöglichkeiten am öffentlichen Kommunikationsprozess: politikinteressierte Fans der digitalen Bildbearbeitung reiben sich schon längst die Hände ob der zahlreichen Chancen zur computer- und internet-gestützten Entzauberung ihrer Volksvertreter und -vertreterinnen.

So erlebt eine besonders prominente Akteurin des politischen Systems mittels der digitalen Bildplattformen gerade eine bemerkenswerte „Zweitkarriere“ – auch wenn vieles derzeit noch im Stadium der „Fingerübung“ verbleibt, mit „Mash-Ups“ wie diesen leicht überarbeiteten „
Internet-Ansprachen“ der Bundeskanzlerin müssen wir künftig wohl leben. Augen auf und durch.