(10. April 2006) In Frankreich tut sich was. Denn was in Deutschland seit einigen Monaten an Fahrt gewinnt, ist im Nachbarland längst Teil der allgemeinen web-basierten Diskussionskultur: Jeder schreibt für jeden. Leser werden zu Autoren, Konsumenten werden zu Produzenten
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“Ich habe leider gerade zu viel zu tun, sonst würde ich selbst kurz schildern, was ich von der gestrigen Diskussion halte. Aber hier sind ein paar Links…” Der viel beschäftigte Mann ist Blogger und Politiker. Alain Lambert war unter Finanzminister Nicolas Sarkozy zuständig für den Staatshaushalt, jetzt sitzt er als Senator im Département Orne und bloggt um der politischen Meinungsbildung willen. Der Diskussionsabend, auf den Lambert in seinem Weblog verweist, drehte sich um sein Lieblingsthema: “Blogs und Politik – verträgt sich das überhaupt?” Das war die zentrale Frage, die auf jener Konferenz in Paris Ende Januar debattiert wurde, Lambert saß als Experte auf dem Podium. Die Organisatoren wollten wissen, ob die
Grassroot-Bewegung, die seit einem guten Jahr auch die breite Masse der Internetnutzer erfasst, Auswirkungen auf die Politik hat. Sie haben kurzerhand die einschlägige französische Szene zusammengetrommelt und der Versammlung einen vielsagenden Titel verpasst: Politique 2.0.

Der Zeitpunkt, das Thema, der Titel und vor allem der Ort der Veranstaltung sind programmatisch: In Frankreich tut sich was. Denn was in Deutschland seit einigen Monaten an Fahrt gewinnt, ist im Nachbarland längst Teil der allgemeinen web-basierten Diskussionskultur: Jeder schreibt für jeden. Leser werden zu Autoren, Konsumenten werden zu Produzenten. Der ”
Prosument“, das ist das Lebewesen der sogenannten
Web 2.0-Bewegung.

Diese Spezies auf Blogger zu reduzieren, greift zwar zu kurz, aber die Logik des Bloggens ist durchaus signifikant für die französischen Art der ePartizipation. Politische Meinungsbildung von unten und dabei stets strikt diskursiv – das ist die Grundhaltung der “Netizens”. Oder wie es Benoit Dausse, einer der Initiatoren von “Politique 2.0”, ausdrückt: “Ein Weblog ist in erster Linie ein Hobby, kann aber auch schnell zu einer Lobby werden.” Zugegeben: Das Vertrauen in die Relevanz der eigenen Meinung gehört zur Natur der Blogger. Doch können sie tatsächlich die Art und Weise verändern, wie Politik gedacht und gemacht wird?

Die partizipativen Strukturen in Frankreich sind mittlerweile so stark etabliert, dass sie durchaus das nötige Gewicht hätten, das Selbstverständnis von Politik nachhaltig zu beeinflussen. Das zeigen allein die Zahlen: Im November existierten geschätzte 3,5 Millionen Weblogs in Frankreich – zum Vergleich: in Deutschland sollen es gerade einmal rund 350.000 sein. Die Zahlen sind von Hugo E. Martin, er begleitete schon die Anfänge der Computerzeitschrift CHIP 1978 und arbeitet mittlerweile als Unternehmensberater im Bereich Medien und Internet. “Diese Statistik ist aber nur ein ‘best guess'”, warnt er gleich. “Es ist ein Näherungswert, eine allgemeinverbindliche Zählung zum Thema ‘Anzahl von Blogs in XY’ wird es wohl nie geben.” Er habe sich die Zahlen über Internetrecherchen, Experten und Insider und vor allem Redaktionen von Fachzeitschriften zusammengepuzzelt, erzählt Martin. Er hält es für relativ sicher, dass es in Frankreich dreimal so viele Weblogs gibt wie hier.

Natürlich sind nicht alle dreieinhalb Millionen Weblogs politisch motiviert, aber die Politik-Diskurse sind relativ stark vertreten. Klaus Schönberger vom Institut für Volkskunde an der Hamburger Universität
stützt sich auf die “politische Tradition” als Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses der Franzosen: “Als Citoyen hat man eben das Selbstbewusstsein, seine Stimme zu erheben und sich in Szene zu setzen.” Denn im französischen Wahlsystem zähle schließlich jede einzelne Stimme tatsächlich – “anders als bei einer Verhältniswahl wie in Deutschland.” Schönberger koordiniert das Forschungskolleg für kulturwissenschaftliche Technikforschung in Hamburg und beschäftigt sich seit längerem mit kulturellen Vergleichen dieser Art. Er warnt aber auch vor voreiligen Schlüssen, eine empirische Basis gebe es noch nicht. Er ist überzeugt, dass die deutsche Blogosphäre einen ähnlichen Boom erleben wird, sobald es die entsprechenden Themen gibt.

Und die entsprechenden Personen. Personen wie Loïc le Meur. Er ist einer der Väter der Szene, Vizepräsident bei Six Apart, einer der führenden französischen Weblog-Firmen, und auf allen Konferenzen zum Thema vertreten, so scheint es. Sogar der neue Innenminister
Nicolas Sarkozy schrieb schon in seinem Blog. Dass die französische Blogosphäre so stark sei, meint Marcel Reichart, Geschäftsführer der Abteilung Marketing und Kommunikation bei Hubert Burda Media, liege zwar auch an der ausgeprägten Kultur öffentlichen Meinungsaustausches in Frankreich. Aber eben in erster Linie an “Loïc”: “He makes the difference! Er ist in der Pariser Szene sehr präsent. Und Frankreich ist nun mal traditionell auf Paris konzentriert. Das hat Auswirkungen.” Reichart und le Meur waren im Dezember auf einer anderen Konferenz in Paris, der Titel ebenso deutlich: ”
Les Blogs 2.0“.

Ob Deutschland solche Figuren braucht – und auch annehmen würde? Das Besondere an der französischen Web 2.0-Bewegung ist ihr Hang zum Diskurs und daher konsequenterweise zu Personen, die den Ton angeben. Denn während im deutschsprachigen Raum verspielte Angebote wie etwa der
Wahl-o-Mat,
kandidatenwatch.de oder
ich-gehe-nicht-hin.de relativ stark vertreten sind, gibt es in Frankreich in allererster Linie zwei Kategorien von politischer ePartizipation: politisch ausgerichtete Weblogs sowie Angebote, die sich mit politischer Meinungsbildung im Internet befassen – beides extrem textlastig.

Welche Zukunft die Verbindung aus Weblogging und politischer Meinungsbildung hat, bleibt erst einmal abzuwarten. Das implizieren auch die Daten, die der Pariser Politikwissenschaftler Yves-Marie Canne von der Universität Sorbonne in seiner aktuellen Studie vorgestellt hat. Forschungsobjekt: der ”
Poliblogueur“, der politische Blogger in Frankreich. Bis Ende Januar 2006 lief Cannes Umfrage unter knapp 400 Teilnehmern. Auch wenn diese Erhebungen nicht als repräsentativ gelten können, sind einige Ergebnisse durchaus interessant: 43 Prozent der “Poliblogueurs” sind Mitglied einer politischen Bewegung. Gegen allzuviel Euphorie spricht, dass fast zwei Drittel (72%) qualititativ hochwertige politische Blogs für Mangelware halten. Nichts desto trotz scheinen die meisten ähnlich wie der UMP-Politiker Alain Lambert an das politische Potenzial dieses Mediengenres zu glauben: Denn 78 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass Weblogs die Kontakte zwischen den Wählern und den Gewählten verstärken können.

Egal ob in Form von Weblogs wie dem von
Senator Lambert oder anderen Arten von Internetpartizipation, Tatsache ist: Politisches Engagement bei französischen Netizens ist stark verbreitet. Angebote wie
Agoravox.fr,
Netpolitique.net,
Publicsenat.fr oder
Citoyenne-TV.net sprechen für sich.

Als Auftakt zu Politique 2.0 zeigten die Macher einen alten Film mit Robert Redford, über den US-Wahlkampf. Auf dem Filmplakat zu “The Candidate” steht Redford mit verschränkten Armen da, bis auf seinen kessen Blick ist sein Gesicht verdeckt von einer Kaugummibubble. Die Blase, so scheint es, ist kurz vorm Platzen.