Wie selbstverständlich bewegen wir uns im Internet und hinterlassen unsere Spuren und Gewohnheiten. Stephan Humer beschreibt die Konsequenzen, die dadurch für die Nutzer und die Identitätsgeber entstehen.

 

Identitätsdiebstahl ist mittlerweile eines der größten
Internetprobleme. Die Bandbreite ist hier gewaltig: sie reicht vom
Ausspähen von Passwörtern für den eBay-Account über
Banktransaktionen auf fremde und nur schwer zu kontrollierende Auslandskonten
in Offshoreparadiesen bis hin zur gezielten Manipulation einer Person
beispielsweise durch Veränderung der Kreditwürdigkeitseinträge
bei entsprechenden Auskunfteien.

Rein technisch meist ohne allzu grossen Aufwand, doch die Folgen
sind enorm. Fatalismus, Ignoranz oder gar totale Hingabe an die
vermeintlich übermächtige Technik sind oftmals die Folge,
wenn der durchschnittliche User erst einmal Opfer geworden ist.
Wechselwirkungen mit medialen Darstellungen, eigenen Wissenslücken
oder der Professionalisierung der Täter verstärken häufig
die Wirkung. Sollten „nur“ ein paar Euro auf ein fremdes
Konto überwiesen worden sein, so lässt sich das vielleicht
noch verschmerzen – sobald aber Zweifel an der eigenen Organisations-
und Kontrollfähigkeit aufkommen, weil man sich eigentlich sicher
war, dass man seine Mails unter Verschluss gehalten, die privaten
Tagebücher gut versteckt sowie die TAN-Liste ausreichend geschützt
hatte, wird es kritisch.

Die Identität ist im digitalen Raum nicht einfach gleichzusetzen
mit dem Schutz eigener Daten wie PIN, digitalisierter Unterschrift
oder Käufervorlieben. Identität bedeutet Individuum: es
ist kein Problem, einem User ein anderes Ich oder gar eine real
nicht existierende Person vorzugaukeln. Alle Ebenen, bis hin zur
einzigen technisch-individuellen Identifikationsmöglichkeit
während einer Surfsession, der IP-Nummer, können verschleiert
oder gar gefälscht werden. Und auch andersherum kann natürlich
getäuscht werden, da der Diebstahl fremder Identitäten
mittlerweile ein milliardenschwerer Markt geworden ist, vor allem
in den USA. Wer ein Passwort erspäht und damit den gewünschten
seriösen eBay-Account nutzt, der kauft nicht nur zu Lasten
eines Users ein, sondern – und das ist besonders wichtig –
agiert als diese Person und kann so zum Beispiel durch entsprechendes
Verhalten für negative Bewertungen sorgen. Den Schaden hat
dann der „echte“ User – und zwar nicht nur in
der digitalen, sondern eben auch in der nichtdigitalen Welt, da
man ihn mit den negativen Ergebnissen assoziiert.

Hinsichtlich der digitalen Identität werden freilich auch
beim Identitätsgeber Begehrlichkeiten wach. Eröffnet man
sich den individuellen Denk-Raum, so eröffnet man sich zugleich
zahlreiche verlockende Chancen. So würde es einem Single zweifellos
gut gefallen, wenn seine digitale Identitätserweiterung oder
–darstellung bei anderen Singles gut ankommt. Durch den Flirtchat
hätte er beispielsweise eine Erweiterung in seinem Leben gefunden,
die ihm schnell und unkompliziert Kontakte zum anderen Geschlecht
ermöglicht. Wird die Realität verfälscht, unterscheiden
sich digitale und reale Identität und früher oder später
kann es zu einem Konflikt kommen. Dies ist das grösste Risiko,
aber zugleich auch eine faszinierende Verlockung. Das Spiel mit
den Identitäten ist im Internet und hier ganz besonders im
Chat mit Sicherheit eine der reizvollsten Angelegenheiten. Anders
als bei einem Gespräch in der realen Welt erfordert der Chat
in der digitalen Welt eine enorme Imaginationskraft. Die Möglichkeiten
sind vergleichbar mit den Begehrlichkeiten: es ist nur schwer ein
Ende abzusehen. Wir sind heutzutage nicht nur aufgrund der fortschreitenden
technischen Entwicklung kaum in der Lage, alle Möglichkeiten
abzuschätzen. Bisher haben sich auch keine nennenswerten Grenzen
aufgetan, die ein Ende dieser Technik aufgezeigt hätten. Die
zahlreichen medialen Verbindungen wie die von PC, Internet und SMS-Versand
oder Handy und Fotoapparat zeigen dies nur ansatzweise, aber beeindruckend.
Eine ständige Erweiterung bestehender Medientheorien ist also
notwendig, um mit den Möglichkeiten und ihrer Realisierung
auch nur ansatzweise Schritt zu halten. Die Grenze setzt da höchstens
das Individuum, denn gesellschaftliche Grenzen sind oftmals nicht
erkennbar: da, wo es für den Mann die Chance zum Chat als Frau
gibt und umgekehrt, da wo es die Chance zum Spiel mit den Identitäten
gibt, da wird sie mit grosser Wahrscheinlichkeit auch von jemandem
genutzt – egal, wie gleichgültig oder verwerflich dies
insgesamt sein mag.

Die digitale Identität ist ein wichtiges soziologisches Thema
– wir sind soziale Wesen und wirken immer auch auf andere. Unsere
digitale Identität füllt eine mehrfache Form opulent aus:
sie dient sowohl als Inhalt und beschreibt uns als Individuum, aber
sie ist auch Produkt unseres Onlineverhaltens oder dessen, was andere
daraus machen. Sie ist eine soziale Institution, genau wie unsere
reale Identität. Der Umgang mit der digitalen Identität
hat bedeutende Symbolkraft. Produktion und Rezeption haben nicht
nur für uns, sondern auch aufgrund der Aussenwirkung für
andere eine große Bedeutung. Und ebenso müssen gleichzeitig
auch immer Mythen und Rituale aufgeklärt und entzaubert werden,
die es zuhauf gibt in den unscharfen Vorstellungen der meisten Userinnen
und User. Deutlich wird dies durch ein einfaches, aber beeindruckendes
Beispiel: Entscheidend sind nicht die einzelnen Informationen, die
machtvoll in der Vorstellung des Durchschnittsusers über ihm
schweben wie ein Damoklesschwert, sondern nur ihre erfolgreiche
Verknüpfung. Wer also meint, dass alles über ihn bekannt
ist – Büchervorlieben, Kreditwürdigkeit, Chatpartner
– der vergisst sehr oft, dass diese Daten fragmentiert und
verteilt sind. Sie wirken in ihrer Singularität bereits bedrohlich,
sie sehen aus wie eine machtvolle Einheit – sie sind jedoch keine.
Denn sie können nur in einer richtigen Verknüpfung gefährlich
werden.

Als Fazit bleibt zu sagen, dass die gesellschaftliche Relevanz
der zunehmend digitalisierten Identität unbestritten ist. Ein
neues Denken ist notwendig im digitalen Raum! Wir sind nicht nur
die Person vor dem Monitor, sondern auch das, was auf der eBay-Bewertungssseite
über uns steht. Wir sind, wenn wir Onlinebanking nutzen, bereits
anders als die Personen, die dies nicht tun – wobei die Art
der Aktion im Onlinebanking uninteressant ist. Allein die Tatsache,
dass wir es tun, ist ausreichend. Wir sind durch unsere Ausdrucksweise,
unsere Reaktionszeit, unsere Aussagen und unser Folgehandeln eine
Person in der Imagination einer anderen Person, wenn wir online
sind. Es tun sich also zahllose Ergänzungen und Unterschiede
im Vergleich zur realen Welt auf, was ausreichend gewürdigt
werden muss. Denn wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind,
dass wir zumindest fragmentarisch auch digital existieren, dann
sind sich andere darüber längst im Klaren. Der eBay-Account-Dieb
weiss, dass wir den Schaden haben, wenn er uns ein negatives Feedback
beschert. Eine generelle Kontrolle unserer digitalen Identität
ist in vielen Fällen schwierig, aber eben nicht unmöglich.
Auch hier kann man durch Redundanz, Mischung und andere Einflussnahmen
mehr Kontrolle behalten, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Gespeicherte Daten über uns sagen alleine noch nicht viel
aus. Es ist nicht besonders schlimm, wenn eBay weiss, dass wir unter
dem Pseudonym xyz Waren kaufen und verkaufen, denn Vergleichbares
weiss unser Kaufmann um die Ecke auch. Doch wir müssen den
Maschinen nicht übermässig viel Vertrauen zukommen lassen,
wenn wir selbst die Macht über unsere Informationen und somit
letztlich über die Maschinen behalten können. Eine kritische,
detailgenaue und technisch fundierte Analyse kann hier eine enorme
Hilfestellung bieten.

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