Als der regierungskritische türkische Journalist Erk Acarer am 7. Juli 2021 in seiner Wohnung in Berlin angegriffen und verletzt wurde, war für den ebenfalls im deutschen Exil lebenden Journalisten Can Dündar klar, dass dies als eine „direkte Botschaft“ Erdogans gewertet werden könne.
Dass die türkische Regierung gewaltsam gegen das eigene Volk vorgeht, zeigte sich bereits 2013 bei den Gezi-Park-Protesten und dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016. Neuerdings wird auch zu anderen Mitteln als nur Gewalt gegriffen wie z.B. der unangekündigten Sperrung von heimischen Bankkonten oder der algorithmischen Verfolgung mit Hilfe von Apps.
Letzteres geschieht beispielsweise mit Hilfe der Smartphone-App EGM mobil (Emniyet Genel Müdürlügu, die amtliche Bezeichnung der Zentralbehörde der türkischen Polizei), die 2016 vom Innenministerium vorgestellt wurde. Durch diese App ist es jeder Person möglich, der zuständigen Polizeibehörde mit einen Klick Gespräche oder Fotos von Regierungskritiker*innen weiterzuleiten und diese anzuzeigen. Der türkische Nachrichtendienst MIT verfolgt mit EGM mobil das Ziel, sogenannte Terroristen auszukundschaften und auf eine schwarze Liste zu setzen. In der Konsequenz drohen Personen, die mittels der App denunziert wurden, bei der Einreise in die Türkei die Festnahme.
Sind regierungskritische, verdächtige Personen erstmal identifiziert, kann die Regierung die Namen in die Warnstelle („Orange Notice“) von Interpol eintragen lassen, ohne dass dies gegengecheckt wird. Im Zuge dessen wurden Bankkonten von in der App gemeldeten Personen eingefroren, obwohl diese nicht dezidiert von Interpol gesucht wurden. Banken sind dazu verpflichtet, die Identität von Kund*innen zu überprüfen und mit einer Vielzahl von Daten das finanzielle Risiko bei der Geschäftsbeziehung einzuschätzen. Deswegen werden für die Kreditwürdigkeit einer Person ebenfalls staatliche Sanktionslisten, Watchlists aus dem Finanzwesen, öffentliche Datenbanken oder auch Social Media Informationen mit einbezogen. Löst eine der gesammelten Daten einen Alarm aus, wird der Dienstleistungsprozess entweder eingeschränkt oder ganz eingestellt. Im Falle der Einstufung als Terrorist seitens der türkischen Regierung wurde einigen Bürger*innen die Finanzdienstleistung verweigert.
Auch Yasir Gökce, ein ehemaliger Mitarbeiter des türkischen Außenministeriums, der seit 2014 als Fellow im “Algorithmic Accountability Reporting-Programm” von Algorithm Watch in Bonn arbeitet, war als deklarierter Terrorist seitens der türkischen Regierung von De-Banking-Praktiken betroffen. Da er selbst Anwalt ist, ging er gegen die Entscheidung seiner Bank vor und konnte sich erfolgreich durchsetzen.
Gökce weist allerdings in einem veröffentlichten Bericht darauf hin, dass die von Finanzinstituten genutzten KI-Systeme zur Automatisierung der Risikobewertung eine erhebliche Verstärkung der Repression darstellen. Denn wenn diese Systeme mit voreingenommenen oder falschen Informationen seitens der Regierung gefüllt werden, bleiben diese dennoch erhalten. Außerdem zweifelt er an dem Versprechen der Banken, an die sich Gökce im Zuge der Recherche gewandt hatte, dass Entscheidungen über das Sperren von Konten stets durch die Überprüfung eines Fachangestellten erfolgen würden. Diese Skepsis kann Gökce angesichts der Tatsache, dass er selbst als zur Gülen-Bewegung angehörender Terrorist eingestuft wurde, nicht ablegen. Er erhielt auf Anfrage bei seiner britischen Bank WISE nur eine unzureichende Antwort. Als er noch für Erdogans Regierung arbeitete, nutzte er das Konto, um finanziell angeschlagene Kollegen zu unterstützen. Die Gelder erhielt er über die Fundraising-Plattform GoFundMe.
Die Fälle von Erk Acarer und von Yasir Gökce zeigen, dass Regierungsgegner*innen nicht nur im türkischen Inland, sondern auch im Ausland nicht hinreichend vor Repressionsmaßnahmen geschützt sind und Opfer von Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen werden können. Dass diese repressiven Maßnahmen greifen, dafür ist nicht nur der türkische Staat allein verantwortlich. Auch Interpol spielt dabei eine wichtige Rolle und wurde schon kritisiert, da die Organisation die politische Bewertung von Straftaten nicht ausreichend prüft, sondern einfach die Einschätzung der staatlichen Stellen übernimmt. Organisationen wie das Thinktank Heritage Foundation verurteilen deswegen vehement das Ausnutzen der Türkei von Interpol für ihre Machtdemonstrationen. So auch im Fall von Dogan Akhanli, der in seinen Büchern den Völkermord der Türkei an den Armeniern anprangerte und aufgrund dessen vom türkischen Staat auf die Interpol Red List gesetzt und sogar vorübergehend festgenommen wurde.
Beim Thema finanzielle Repressionen ist es zukünftig notwendig, stärkere Sicherheitsvorkehrungen und Kontrollen innerhalb der Finanzinstitute einzuführen und die genutzten KI-Systemen stärker zu kontrollieren, sodass Entscheidungen über Kontosperrungen nicht automatisiert erfolgen können. Auch müssen Staaten, die politisch verfolgten Personen Exil geben, ihre Kontrolle und Sicherheitsvorkehrungen angesichts algorithmischer Verfolgungsmechanismen, wie durch die Smartphone-App EGM mobil, ausbauen, um zukünftig betroffenen Personen das Maß an Sicherheit zu gewährleisten, das ihnen in ihrer Heimat verweigert wird.
Text: CC-BY-SA 3.0