Das Internet ist das wichtigste Instrument der Globalisierung von Medien und Kommunikationsmitteln in Indien. Um den Umgang Indiens mit dem Internet zu analysieren, müssen zwei Ebenen untersucht werden: die Ebene des Staates und die der Gesellschaft.
Der indische Staat hat sich stets dafür engagiert, durch eine Vielzahl von Maßnahmen ein Umfeld zu schaffen, das der Förderung des Internets im öffentlichen und privaten Bereich dient.
Unterstützung des indischen Staates
Mit der Ernennung einer Telekommunikations-Kommission initiierte die indische Regierung im Jahr 1984 die landesweite “New Computer Policy”. Dadurch öffnete sich die Sphäre der Massenkommunikation für private und fremde Investitionen. Die landesweite Kampagne bewirkte durch das Erscheinen des
STD/ISD Booth die Intensivierung des Fernsprechwesens in städtischen und ländlichen Gebieten. Zehn Jahre später wurde die nationale Telekommunikations-Kommission durch die „Telecom Regulatory Authority of India“ (TRAI) ersetzt. Durch unterstützende Maßnahmen der TRAI entstanden so genannte “joint sectors’ multinationaler Konzerne im Kommunikationssektor. Der Bereich der “Computer-Software-Aktivitäten” wurde in Bezug auf Devisen in weniger als zehn Jahren zum wirtschaftlich wichtigsten Bereich Indiens.
Die staatliche Förderung von Computern und Internet innerhalb der Regierung, im Geschäftssektor, im Erziehungsbereich und der Unterhaltungsindustrie bescherte der indischen IT-Industrie eine Wachstumsrate von 40% pro Jahr. Heute existieren Webseiten aller großen indischen Zeitungen, Universitäten, NGOs, Geschäftskonzerne, Regierungsabteilungen und einer Vielzahl weiterer öffentlicher Institutionen. Über 2.000 Computer-Ausbildungs-Zentren wurden Im ganzen Land eingerichtet. Diese qualifizieren seit 1994 jährlich 55.000 Berufstätige mit einer abgeschlossenen Computer-Ausbildung. Laut der „National Association of Software and Service Companies of India“ (NASSCOM) basierten die Entscheidungen für die Maßnahmen des Ministeriums für Informationstechnologie auf Prognosen, die einen immensen Wachstum an Internetnutzern (von 17.000 im November 1998 auf über 1 Million im Juni 2000) voraussagten. Zudem wurde prognostiziert, dass es bis 2003 elf Millionen Internetverbindungen und 23 Millionen Internetnutzer geben würde. Diese Prognose hat sich mittlerweile bewahrheitet.
Reaktion der indischen Gesellschaft
Ende März 2004 wurden in Indien 31 Millionen Internetnutzer registriert. Doch wer gehört zu den hauptsächlichen Nutzern des Internet innerhalb der indischen Gesellschaft? Welche Funktionen erfüllt das Internet für die Nutzer? Was sind die kulturellen und politischen Auswirkungen des Internets in Indien?
Glaubt man den ersten Untersuchungen Ende der 90erJahre, kamen die anfänglichen Internetnutzer aus den oberen und mittleren gesellschaftlichen Schichten. Der typische Internetnutzer lebte in der Stadt, war jung, gebildet, männlich und hatte leichten Zugang zu Computern an seiner Ausbildungsinstitution oder an seinem Arbeitsplatz. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2002 ergab allerdings erstens, dass nur 68% der Internetnutzer unter 30 Jahren alt waren, der Rest jedoch älter. Zweitens zählten etwa 60% zu den Besserverdienenden (über 10.000 Rupies [über 200 €] Einkommen pro Monat), während 40% der Nutzer weniger Einkommen bezogen. Drittens ergab die Untersuchung, dass das Internet von 90% der Bevölkerung für Kommunikation, von 50% zur Information, von 43% zum chatten, und von 27% bzw. 23% zur Unterhaltung und zum arbeiten genutzt wurde.
Gleichzeitig kann argumentiert werden, dass das Internet den gebildeten und mobilen gesellschaftlichen Klassen neue Möglichkeiten eröffnet hat, während sich bereits existierende gesellschaftliche Ungleichheiten in den Kategorien Klasse, Kaste, Geschlecht und Region verschärft haben. Das Internet hat keinen bedeutsamen Einfluss auf Arme und Analphabeten innerhalb der indischen Gesellschaft. Das bedeutet, das Internet beschleunigt den Prozess der postkolonialen Modernisierung, ohne einen bedeutsamen Einfluss auf existierende Machtbeziehungen zu nehmen.
Es ist interessant, dass das Internet als letzte Stufe der Modernisierung von Information und Kommunikation in der indischen Gesellschaft akzeptiert wird. Es wird außerdem als Indikator von Modernität und Mobilität anerkannt. Das Wissen um die Nutzung von Computern und Internet gilt mittlerweile als Status-Symbol.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das dörfliche Indien das Internet und Computer als Möglichkeit für Modernisierung und Entwicklung aufgenommen hat. Die modernen Technologien werden von der Dorfgemeinschaft als Schnittstelle zwischen Lokalität und Globalität behandelt: Die Technologien kamen über Regierungs-Programme in die Dorfgemeinschaften. Die Regierung nutzt das Internet für eGovernment, die Händler für eCommerce. Die Dorfjugend, vor allem ihre männlichen Mitglieder, hält sich vorzugsweise auf Seiten zu Musik, Film und Unterhaltung auf. Das Internet hat also im Moment zwei Hauptfunktionen für das Leben der indischen Nutzer: erstens die Intensivierung von Lokalität im Hinblick auf die Alltagskommunikation und –Interaktion und zweitens die Vergrößerung des Informationspools jenseits nationaler und kultureller Grenzen.
Wie kann also der Einfluss des Internets im Kontext des indischen Modernisierungs-Projektes bewertet werden? Ende 2000 war Neu Delhi mit 3.190.616 Anschlüssen zum „cyber hub“ Indiens aufgestiegen. Diese Anzahl von Anschlüssen war drei Mal größer als die der Bundesstaaten Bihar, Madhya Pradesh, Rajasthan und Uttar Pradesh zusammen genommen. Trotz des wachsenden Abstands zwischen den führenden Städten und den zurückbleibenden Staaten wird erwartet, dass sich die Anschlusszahlen innerhalb der kommenden fünf Jahre alle sechs Monate verdoppeln. Das wären zehn Prozent der indischen Bevölkerung.
Das Internet ist also Vorbote eines Zeitalters, in dem die Informationstechnologie revolutioniert werden wird. Durch die Expansion des Internets in nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens hat das indische Modernisierungs-Projekt die Hürde zur Informationsgesellschaft überschritten. Modernisierung wird jenseits von „Westernization“ in Regierung, Wirtschaft, Bildung und Unterhaltung gefördert. Während durch das Internet einerseits homogene Informationen empfangen werden, fördert es gleichzeitig – mit Cyber Cafes, Internet-Netzwerken und eMail-Interaktionen – die Heterogenität von Kulturen. Für viele Internetnutzer bedeutet die Internet-Verbindung die erste Berührung als Individuum mit der Globalität. Diese Tatsache könnte für eine Gesellschaft, die mit den Herausforderungen der De-Kolonialisierung, Modernisierung, Identitäts- und Nationenbildung im Zeitalter der Globalisierung konfrontiert ist auf verschiedene Art und Weise sehr bedeutsam sein.
Dr. Manjula Rathaur ist Präsidentin des „Centre for Applied Sociology“ auf dem Vasant Kanya Mahavidyalaya – Campus der Banaras Hindu Universität in Varanasi, Indien und unterrichtet dort Soziologie. Als Gastdozentin war sie in Evanston (USA), Paris und Freiburg. Ihre speziellen Forschungsinteressen umfassen Medien und Gesellschaft, Frauen und Technologie sowie sozialer Wandel in ländlichen Gebieten.
Der Text wurde übersetzt von Ruth Streicher