Soziale Medien werden oft als neue Form von Internet-Angeboten verstanden. Das ist zu kurz gedacht und verschenkt die Potenziale sozialer Medien. Wenn man diese statt als technischen Entwicklungsschritt als eine neue Form der Wissensarbeit versteht, lassen sich ihre Potenziale besser nutzen.
AOL hatte sich Ende der 1990er Jahre Boris Becker als Werbe-Ikone gesichert, um zu zeigen, wie leicht man den Internet-Dienst nutzen konnte: Stecker rein und der Ex-Tennisprofi war „drin“. Das schien sehr einfach. Genauso sehen heute viele die sozialen Medien. Egal ob Unternehmen, Stadtverwaltungen, der Jugendclub in der Nachbarschaft oder politische Gruppen. Alle wollen „drin“ sein. Dabei versperrt nichts drastischer den Weg in die sozialen Medien als die Vorstellung, man könne dort ein für allemal ankommen und „drin“ bleiben.
Hier soll das Phänomen soziale Medien nun aus sozialwissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden. Dazu blenden wir einfach die Tatsache aus, dass es sich bei diesen Angeboten auch um eine technologische Wende handelt. Und plötzlich wird die Frage laut nach der eigentlichen Innovation, die die als „Web 2.0“ gestarteten sozialen Medien von anderen unterscheiden. Der Begriff „soziale Medien“ ist leicht redundant, weil Medien Menschen mit Menschen verbinden und damit immer auch eine soziale Dimension haben. Aber er ist auch treffend, weil er auf die Interaktion zwischen Menschen verweist. Und hier wird deutlich, was die Innovation sozialer Medien bedeutet: Sie stellt nicht weniger dar als einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie Menschen miteinander arbeiten und kommunizieren.
Ein Wissensschatz entsteht nicht am Fließband
Denn während „alte“ Dienste wie bespielsweise www oder E-Mail ein Abbild individueller und sequenzieller Arbeit sind – ich sende Dir eine Mail, Du antwortest –, was im Prinzip nichts anderes ist als die schrittweise Fertigung eines Autos am Fließband, wird bei vielen sozialen Medien die gleichzeitige, gemeinsame, verteilte, sich revidierende und evolutionäre Erstellung eines Inhaltes unterstützt. Das Stichwort lautet „User Generated Content“. Wikis sind das beste Beispiel. In ihnen arbeiten alle gleichzeitig. Und das auch manchmal gegeneinander, was am Fließband niemals vorkommt.
Dieses simpel wirkende Prinzip hat enorme Auswirkungen auf die Arbeit all derjenigen, die im weiteren Sinne als „Wissensarbeiter“ bezeichnet werden können. Ein Journalist beispielsweise ist stolz auf einen gut recherchierten, geschriebenen und publizierten Artikel. Mit dem fertigen Produkt wird eine gewisse Qualität verbunden. Doch viele Journalisten sehen sich heute einem Publikum gegenüber, das mitreden will (Foren), das vieles besser weiß (Watchblogs) und das selbst publizieren kann (Blogs). In der Konsequenz öffnen sich viele Redaktionen der Netzöffentlichkeit und lassen diese an Beiträgen mitarbeiten. Für ein Beispiel muss man nicht immer auf WikiLeaks und GuttenplagWiki zurückgreifen – von Nutzern erstellte Inhalte sind längst in der gewöhnlichen Arbeitswirklichkeit von Journalisten angekommen. So bat „Spiegel Online“ Nutzer um Hilfe bei der Identifizierung von Luftbildern aus der Wüste Gobi. Den Wissensschatz, den die Redaktion mit dieser Einbeziehung ihrer Leser gehoben hat, hätte sie niemals alleine im selben Maße zu Tage fördern können.
Doch für den Journalismus als Beruf bedeutet „User Generated Content“ eine echte Herausforderung, denn Journalisten müssen plötzlich ihre Konzepte für Qualität, ihr Verständnis eines „eigenen Beitrags“ und ihre berufliche Aufgabe in der Gesellschaft auf die Prüfwaage stellen. Wozu sind sie noch gut, wenn es Experten gibt, die sich zu jedem ihrer Beiträge äußern?
Wie Wissen „veredelt“ werden kann
Gleiches ließe sich übrigens auf alle anderen Wissensarbeiter übertragen. Einige Beispiele: Lehrer verstehen sich heute oft noch als Vermittler von Wissen; dabei können sich Schüler gegenseitig eine Menge beibringen, wenn sie zum Beispiel gemeinsam online an einem Thema arbeiten. Oder Wissenschaftler: Sie sind stolz auf eigene Forschung und eigene Publikationen. Dabei zeigen Beispiele aus der Entschlüsselung von Gen-Codes oder – ja, auch das sei erlaubt! – bei SETI@home, was erreicht werden kann, wenn viele Menschen nicht „fertiges Wissen“ zusammenlegen, sondern kleine Schnipsel, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dabei können einige der Schnipsel auch ein falsches Muster zeigen. Wikipedia macht vor, wie falsche Daten durch richtige ersetzt werden und schließlich zu Wissen avancieren können. Denn das Zusammentragen von Daten und Informationen allein ergibt noch kein Wissen – erst dessen Nutzung in einem Anwendungskontext und damit die Interpretation durch Menschen lässt Wissen entstehen. Da soziale Medien Menschen mit Menschen verbinden und einen engen Dialog fördern, sind sie bestens geeignet, um bei der „Veredelung“ von Daten zu Wissen durch Interpretation und Nutzung beizutragen.
Neue Formen des Publizierens
Aber mit der gemeinsamen, verteilten und vor allem schrittweisen Erstellung von Content haben wir erst die halbe Miete des Phänomens „soziale Medien“ bezahlt. Die andere ist die Befreiung von allen Anforderungen und vor allem Kompetenzen des Publizierens – auch dies eine Innovation auf der sozialen Ebene. Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg hat die Vorstellung geprägt, dass die Möglichkeit, Themen zu veröffentlichen, von verschiedenen Kontexten beeinflusst wird, die sich wie Häute um eine Zwiebel legen: Die Schalen dieser Zwiebel stehen jeweils für Kontexte, die die Aussagenentstehung beeinflussen oder die den Journalisten zu einer bestimmten Handlungsweise zwingen. Diese Kontexte sind beispielsweise gesellschaftliche Rahmenbedingungen, rechtliche Grundlagen, ökonomische, organisatorische und technologische Imperative oder journalistische Standards.
Als Journalist ist man beispielsweise an die weltanschauliche Haltung eines Verlages, an die Qualitätsstandards der Redaktion oder auch an den Willen der Anzeigenkunden gebunden. Nicht so der „User Generated Content“. Der Erfolg sozialer Medien ist eben darin begründet, dass sich in ihnen so leicht „content“ publizieren lässt, dass dazu jeder fähig ist, der einen Browser bedienen kann. Bereits die Foren des „usenet“ in den 1980er Jahren boten alle Möglichkeiten, die heute Communities und Blogs mit sich bringen. Aber im „usenet“ tummelten sich lediglich ein paar Technikbegeisterte. Heute nähert sich die Netzgemeinde auch deshalb immer weiter dem Bevölkerungsschnitt an, weil es eben so unkompliziert ist, via Facebook mit der Enkelin in Kontakt zu bleiben. Oder in einem Forum der Lokalzeitung darzulegen, dass man die Entwicklung des Stadtteils seit Ende des Weltkrieges genau beobachtet hat.
Vom „Gatekeeper“ der Wissensgesellschaft zum Moderator
Diese beiden Aspekte zusammengenommen – also die Veränderung der Form der Content-Erstellung kombiniert mit der Einfachheit des Publizierens – führt zur Feststellung eines neuen Arbeitsparadigmas. Die Beispiele Journalismus und Wissenschaft zeigen, wie User Generated Content die berufliche Tätigkeit von Wissensarbeitern verändern, zumindest aber in Frage stellen kann. Historisch betrachtet erinnert diese Entwicklung an die Rolle von Priestern vor der Verbreitung des Buchdrucks: Die gedruckte Bibel in jedem Haushalt stellte die Rolle von Priester und Kirche als „Gatekeeper“ bei der Vermittlung von Gottes Wort in Frage – die Bedeutung, die sie im Mittelalter hatte, hat die Kirche seitdem nicht wieder erreicht. Das könnte auch heutigen „Gatekeepern“ der Wissensgesellschaft bevorstehen.
Was heißt dies nun für eine sinnvolle Nutzung sozialer Medien? Zunächst sollte man nicht um jeden Preis versuchen, „drin“ zu sein. Andersherum wird ein Schuh daraus: Wer tatsächliche Mitsprache von Anderen sucht, die etwas besser wissen, und dafür bereit ist, ihnen auch Wort und Einfluss zu erteilen, kann dies mit sozialen Medien versuchen. Ansonsten reichen die Top-Down-Kanäle und „fertigen Produkte“ des Internet 1.0 völlig aus.
User Generated Content ist anstrengend
Aber Vorsicht! User Generated Content ist anstrengend. Die Piraten zeigen dies mit ihrem Diskursforum LiquidFeedback. Dort wird viel Zeit für Moderation aufgebracht. In letzter Konsequenz erhalten Organisationen, die so stark auf Ideen und Inhalte ihrer Nutzer setzten wie die Piraten, eine neue Funktion. Aus Themengebern werden Moderatoren eines Diskurses. So ist es beim Beruf des Enzyklopädie-Autoren geschehen: Während dieser früher Artikel verfasste oder redigierte, investieren Wikipedia-Autoren heute viel Zeit in Diskussion und Moderation. Journalisten von Online-Magazinen berichten, dass der Teil ihrer Arbeitszeit, die sie in Communities mit Moderation verbringen, stetig steigt. Folglich sinkt der Zeitanteil für „klassische“ journalistische Tätigkeiten.
Warum sollte dieser Rollenwechsel zum Moderator nicht auch für Lehrer, Wissenschaftler oder Unternehmenslenker funktionieren? Statt selbst die Richtung vorzugeben, könnten sie den Prozess der Richtungsfindung moderieren. Dafür müssten sie allerdings eine Reihe lieb gewonnener Kompetenzen aufgeben und sich neue aneignen. Berufsrollen sind ebenso zu überdenken wie die Aus- und Weiterbildung. Einige „Enterprises 2.0“ – die im Sinne des Harvard-Professors Andrew P. McAfee soziale Medien in ihre internen wie externen Arbeitsprozesse einbinden – machen dies vor: Wenn sich gewisse Regeln und Erfahrungswerte einmal eingependelt haben, kann der Paradigmenwechsel mehr Menschen in die Wissensfindung einbeziehen. Denn Wissen lässt sich nun mal nicht am Fließband produzieren.