Anne Haeming: In Frankreich gibt es zur Zeit geschätzte 3,5 Millionen Weblogs, in Deutschland gerade einmal 350.000 – woran liegt das?
Klaus Schönberger: In Frankreich hatten die modernen technischen Möglichkeiten schon immer mehr Bedeutung, es gab schon viel früher eine elektronische Kultur. Dank Minitel gab es schon in den Achtzigern eine größere Selbstverständlichkeit, mit internet-ähnlichen Strukturen umzugehen. Argumente, die auf die starke Tradition der Rhetorik in Frankreich verweisen, überzeugen mich nur bedingt. Grundsätzlich gilt: Es gibt eine ganze Reihe an Faktoren, die dieses Phänomen erklären könnten, nicht einen einzigen.
Anne Haeming: Woher kommt diese Technikaffinität?
Klaus Schönberger: Mitterand hatte bereits in den Achtzigern deklariert: „Il faut être absolument moderne“ – in Anlehnung an den Avantgardismus Rimbauds im 19. Jahrhundert. Das zeigte schon unter Mitterand den Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass die Entwicklung von Technik ein wichtiges gesellschaftliches Projekt ist. Es gab in diesen Jahren in der politischen Klasse und in der Gesellschaft weniger Distanz zur Technik als in Deutschland. Das mag in Frankreich auch zu jener Selbstverständlichkeit bei der Nutzung von Weblogs beitragen.
Anne Haeming: Und warum hat Technik in den beiden Ländern eine so unterschiedliche Bedeutung?
Klaus Schönberger: Frankreich ist zentralistisch organisiert, politische Eliten haben einen anderen Einfluss. In Deutschland ist das humanistische Bildungskapital auch immer anti-technisch gewesen, in Frankreich nicht. Die technisch ausgerichteten Eliten in Frankreich hatten nicht so viele Probleme, als gleichberechtigter – oder sagen wir: anerkannter – Akteur in der Gesamtgesellschaft akzeptiert zu werden. In Deutschland hingegen blieb das klassisch humanistische Bildungskapital im Sinne einer „Leitkultur“ lange Zeit hegemonial.
Anne Haeming: Die Franzosen sind bekannt für ihre leidenschaftlichen Streiks und Demonstrationen. Gehört der Weblog-Boom zur gleichen politischen Diskussionskultur?
Klaus Schönberger: Als Citoyen hat man eben das Selbstbewusstsein, seine Stimme zu erheben und sich in Szene zu setzen. Es brennt da ja auch öfter einmal etwas – und hierbei machen auch sogenannte anständige Bürger mit. In Deutschland fragt man sich eher noch: Darf man sich der Macht der Straße beugen? Welche Legitimität hat diese Form politischer Artikulation? Diese Frage stellen sich in Frankreich offensichtlich weniger Bürger als in Deutschland.
Anne Haeming: Wieso spielt politische Partizipation in Frankreich eine derartige Rolle?
Klaus Schönberger: Im französischen Wahlsystem zählt die einzelne Stimme, anders als bei einer Verhältniswahl wie in Deutschland. In Frankreich wähle ich tatsächlich eine Person. Insofern könnte es aus Sicht der Stimmbürger tatsächlich mehr Sinn machen, ihre Stimme zu erheben.
Anne Haeming: Woher kommt das?
Klaus Schönberger: Politisches Engagement hat historisch bedingt einen wichtigen Stellenwert, es gibt eine lange politische Tradition, selbst zu handeln. So wurden auch Marie Antoinette und Ludwig XVI. einen Kopf kürzer gemacht. Aber es ist Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses der französischen Nation – und man ist stolz darauf, es gibt vielleicht eine direktere Form von politischem Aktivismus. Allerdings möchte ich betonen, dass wir derzeit keine gesicherte Grundlage dafür haben, dass der französische Citoyen tatsächlich politischer handelt, als sein Pendant in Deutschland.
Anne Haeming: Ist die Rolle, die Weblogs 2005 in Frankreich beim Referendum über die EU-Verfassung gespielt haben, Teil dieses politischen Aktivismus?
Klaus Schönberger: Es heißt in den Medien wie auch in der Blogger-Szene häufig, Weblogs hätten das Referendum zu Fall gebracht. Meiner Meinung nach war es andersherum: Ein großer Teil der Franzosen war auf Krawall gebürstet und die Weblogs stellten in diesem Moment das passende Medium dar, sich zu artikulieren. Es ist eine Technik, die jeden ermächtigt, seine Stimme zu erheben. Ich denke nicht, dass Weblogs oder E-Mail-Listen so etwas bewirken können. Es ist immer umgekehrt: Die Situation, in der diese Technik genutzt werden kann, ist ausschlaggebend, nicht die Technik selbst.
Anne Haeming: Beeinflusst die Logik von Weblogs politische Partizipation?
Klaus Schönberger: Es gibt noch nicht ausreichend empirisches Material, das die Beziehung von Technik und Handeln beschreibt. Aber klar, die globalisierungskritischen Bewegungen wären gar nicht denkbar ohne diese partizipativen Strukturen. Nur: Vielleicht haben sich die Akteure auch einfach diese Technik gesucht. Für zwei Gruppen kann die gleiche Software unterschiedliche Auswirkungen haben – das ist kontextabhängig. Bestimmte Formen politischer Artikulation sind nun mal internet-affiner, andere sind internet-ferner. Alles, was mit Öffentlichkeitsarbeit, Aktivismus oder dem Ziel zusammenhängt, ideologische Einheiten zu stiften, bedarf kleinteiliger Abstimmungen, das ist übers Netz nur schwer möglich.
Anne Haeming: Das klingt, als gehörten auch Politiker in die Kategorie internet-fern.
Klaus Schönberger: Im Prinzip sind Weblogs für bundesdeutsche Parlamentarier vollkommen unattraktiv. Die Logik, nach der Parteien und Fraktionen hierzulande funktionieren und organisiert sind, und die Subjektivität und Geschwindigkeit des Medienformats Weblog sind nicht wirklich kompatibel. Andererseits: In Frankreich führen prominente Politiker wie Dominique Strauss-Kahn und Alain Juppé ein eigenes Weblog und das nicht ohne Grund: Sie brauchen die Direktstimme der Bürger. Für zahlreiche deutsche Politiker ist die Erststimme unerheblich. Die wissen, wenn ich unter den ersten 15 auf der Landesliste bin, komme ich auf jeden Fall ins Parlament.
Anne Haeming: Ist das Netz für die politische Willensbildung also wichtiger in Frankreich – dort hat sich ja schon der Begriff „Politique2.0“ etabliert?
Klaus Schönberger: Klar, allein wegen der Masse. Aber ich würde sagen: Ball flach halten. Die Geschichte der Medien zeigt doch, dass man erst einmal abwarten muss. Aber Weblogs werden bald nicht mehr Weblogs sein, man muss dieses Phänomen differenzierter betrachten, genauso wie es in der Zeitungslandschaft Schülerzeitungen, Tageszeitungen und Lokalblätter gibt. Es ist schon jetzt nicht einfach, alle Blogs über einen Kamm zu scheren, man muss nur einmal das BildBlog und Indymedia nebeneinander stellen.
Anne Haeming: E-Partizipation funktioniert im deutschsprachigen Raum vor allem über Spielerisches wie den Wahl-o-Mat oder Bundesdance – ist das spezifisch deutsch?
Klaus Schönberger: Nach den gängigen Vorurteilen hätte man es eher andersherum erwartet. Die behauptete Ernsthaftigkeit der Deutschen steht diesem Verspielten doch eher entgegen. Und dass Wikipedia in Deutschland in größerem Umfang genutzt und weitergeschrieben wird als in Frankreich, ist eigentlich auch ein Gegenargument: Offensichtlich ist die Beteiligung an einer Kodifizierung von Wissen in Deutschland gegenwärtig attraktiver als in Frankreich. Das ließe sich aber auch als Folge von Zentralismus respektive Föderalismus interpretieren: Im Zentralstaat Frankreich ist die enzyklopädische Legitimität möglicherweise zentralisierter als in Deutschland.
Anne Haeming: Mehr Wikipedianer hier, mehr Weblogger dort – ist das nicht absurd?
Klaus Schönberger: Das muss man erst einmal so stehen lassen. In Frankreich sind offensichtlich relevante politische Akteure im Netz. Aber ich gehe davon aus, dass es sich in Deutschland über kurz oder lang ähnlich entwickeln wird, wenn es entsprechende Themen gibt.
Klaus Schönberger
ist Wissenschaftlicher Koordinator des Forschungskollegs
Kulturwissenschaftliche Technikforschung (
Weblog) am
Institut für Volkskunde der Universität Hamburg und Mitherausgeber von
kommunikation@gesellschaft. Darüber hinaus war er mehrfach Gutachter für das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, u.a. zum Thema „
Neue Handlungs- und Kommunikationsmuster bei NGOs und in den neuen transnationalen sozialen Bewegungen“.