Schranke auf einem Weg im Wald, barrier gates by Ben_Kerckx CC0 via FlickrSprechen, sich austauschen, Kontakt haben: Für Gehörlose ist die Kommunikation der hörenden Mehrheitsgesellschaft praktisch eine unerreichbare Welt. Eigene Schulen und Vereine waren deshalb für sie lange Zeit die einzigen Orte, in denen sich ihnen diese Welt auftat. Mit dem Internet hat sich das geändert: Das Netz beeinflusst nicht nur die Kultur der Gehörlosen. Dass deren Herzstück, die Gebärdensprache, auch beim Videochat eingesetzt werden kann, ist für taube Menschen inzwischen sogar der Hauptgrund, online zu gehen. Doch bei allem Fortschritt: Taube Menschen treffen auch online immer noch auf alte Barrieren.

Inzwischen klingen die Buchstaben schon fast banal: WWW, weltweites Netz. Dabei schafft das Internet manchmal sogar weit mehr, als die eine Welt zu verbinden: Manchmal eröffnet es regelrecht neue Welten. Zum Beispiel für Gehörlose.

Denn dass im Analogen oft Welten zwischen Hörenden und Gehörlosen liegen, erfahren taube Menschen alltäglich: Anders als für Hörende ist es für Gehörlose ohne Dolmetscher alles andere als einfach, jemanden auf der Straße mal kurz anzusprechen und nach dem Weg zu fragen oder einkaufen zu gehen. Verständnisprobleme sind immer vorprogrammiert. Eigentlich besitzen taube Menschen mit der Gebärdensprache eine perfekte Möglichkeit sich mitzuteilen und zu verständigen. Aufgrund eines von der hörenden Mehrheitsgesellschaft bestimmten Kommunikationssystems sind Gehörlose jedoch de facto immer auf andere Mitglieder der eigenen Minderheit angewiesen, um sich austauschen zu können. Lange Zeit waren deshalb Gehörlosenschulen und eigene Vereine praktisch die einzigen Örtlichkeiten der Gehörlosengemeinschaft, in denen sich ihnen die weithin unerreichbare Welt der Alltagskommunikation erschloss.

Mit dem Internet ist ein neuer Ort dazugekommen, der – wie bei Hörenden auch – die menschliche Kommunikation teilweise sogar überflüssig gemacht hat: Wer nach einer Straße sucht, fragt einfach schnell Google-Maps. Und wer shoppen oder eine Reise buchen will, kann dies mit wenigen Klicks auch zuhause online erledigen. Für Gehörlose ist das nicht nur genauso bequem wie für Hörende. Es bedeutet für sie auch, im Alltag ohne Dolmetscher weniger mit Verständigungsschwierigkeiten konfrontiert zu sein. „Das Internet ermöglicht Gehörlosen also eine stärkere Individualisierung. Es schafft Unabhängigkeit“, erklärt Andreas Bittner. Bittner ist nicht nur selbst taub, sondern auch Dozent am Deaf-Studies-Lehrstuhl der Humboldt-Universität in Berlin. Für ihn steht fest: „Es hat durch das Internet einen großen Wandel für Gehörlose gegeben.“

Das Internet prägt die Kultur der Gehörlosen mit

Seit den 1990er Jahren gibt es etwa eigene Webseiten für die sprachliche Minderheit. Der spätertaubte Bernd Rehling gehört dabei zu den „Dinosauriern“ des Deaf Internet (Gehörlosen-Internet), wie er sich selbst nennt. Er hat 1997 das Portal taubenschlag.de mitgegründet, das Informationen aus der Deaf World bündelt. Seine Motivation beschreibt er so: „Im Internet habe ich gerade für Hörgeschädigte eine große Chance gesehen, um Informationen zu bekommen, zu kommunizieren und zu lernen.“ Und der 73-Jährige sieht die Chancen auch zu einem guten Stück erfüllt, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Auswirkungen auf die eigenständige Kultur der Gehörlosen: „Es gibt kulturelle Angebote für Gehörlose wie nie zuvor. Die wären überregional ohne das Internet kaum zugänglich, ja, viele gäbe es gar nicht.“ Erst durch das Internet seien ausländische Impulse wie die Deaf Poetry Slams in Deutschland schnell verbreitet worden. Auch das Entstehen einer selbstbewussten Jugendkultur habe das Netz beschleunigt. Und durch Online-Veröffentlichungen finden lokale Angebote wie Museumsführungen für Gehörlose überhaupt erst ein breites Publikum, so Rehling.

Um ein vielfaches verbessert habe sich auch der Informationserwerb, sagt der pensionierte Lehrer. So würden zumindest einige öffentlich-rechtlichen Sender inzwischen 90 Prozent ihres Angebots untertiteln. Und über das Live-Streaming kämen Gehörlose nun sofort an aktuelle Informationen. Zum Medium schlechthin sei für Gehörlose der Video-on-demand-Dienst Netflix geworden: Dort werden alle Filme und Serien ausnahmslos untertitelt. Und selbst Facebook ermöglicht jetzt Werbetreibenden – wenn auch primär aus Rücksicht auf mobile Nutzer und deren Klickzahlen – automatisch Untertitel in Videos einzubauen. Eine wichtige Entwicklung, schließlich nimmt dort die Zahl der Videos im Newsfeed rasant zu. Und Andreas Bittner vom Berliner Deaf-Studies-Lehrstuhl bestätigt, dass durch das Internet Gehörlosen so grundsätzlich mehr Informationen zugänglich gemacht werden: „Man bekommt stärker mit, was in der hörenden Gesellschaft passiert.“

Das barrierefreie Netz gibt es noch nicht

Trotzdem gibt es auch online immer noch starke Einschränkungen für Gehörlose. So rufen schon jetzt 53 Prozent der Mehrheitsgesellschaft mindestens einmal wöchentlich audiovisuelle Inhalte im Netz auf, um sich zu informieren. Werden diese in Zukunft nicht überall barrierefrei angeboten, wird die Kluft zwischen Hörenden und Gehörlosen bei der Informationsbeschaffung wieder zunehmen, die sich durch die gestiegene Zahl an Untertiteln im Fernsehen gerade langsam vermindert. Momentan sehen sich laut einer aktuellen Studie der Rheinischen Fachhochschule Köln 76 Prozent der Gehörlosen ausgebremst, wenn es um audiobasierte Inhalte im Netz geht.

Andreas Bittner von der HU Berlin sieht aber auch unabhängig davon noch lange kein barrierefreies Netz. Zu tun habe das mit der Schriftsprache, von der es natürlich im Internet ebenfalls nur so wimmelt. So wie sie von der Mehrheitsgesellschaft gebraucht wird, unterscheidet sich die Schriftsprache von der Gebärdensprache nicht nur durch die fehlende visuelle Ausdrucksweise. Für taube Menschen ist sie auch deshalb nur mit Mühe zu verstehen, weil ihr eine andere Grammatik zugrunde liegt. Bittner: „Deutsche Schriftsprache ist wie eine Fremdsprache für deutsche taube Menschen.“ Eine entscheidende Rolle für Gehörlose spiele daher auch im Internet ihre Schriftsprachkompetenz. Und die brauche es oft schon zum Verstehen von Untertiteln, so der Deaf-Studies-Experte. „Erst die Gebärdensprache wäre ein wirklicher Vorteil“, findet Bittner. „Doch die ist im Internet noch die absolute Ausnahme.“ Das gilt auch für die „Leichte Sprache“. Gehörlose profitieren also bislang – abhängig von ihrer Schriftsprachkompetenz – unterschiedlich stark von den Vorzügen des Internet.

Deaf World: Gehörlose können jetzt auch in die Ferne mittels Gebärdensprache kommunizieren

Von unschätzbarem Wert für alle tauben Menschen sind dagegen die Kontakt- und Vernetzungsmöglichkeiten, die das Netz bietet. Welche große Rolle die Vernetzung für sie spielt, beweist allein schon Achim Feldmann: Er hat lange vor Facebook und Co 1995 mit gehoerlos.de das erste Diskussionsforum für taube Menschen in Deutschland gegründet: „Ich wollte, dass die Gehörlosen weniger isoliert sind. Zuvor mussten sie erst in die nächste Großstadt fahren, um sich mit anderen Gehörlosen zu unterhalten. Das hat Zeit und Geld gekostet.“ Zwar nutzten Gehörlose damals auch Faxgeräte oder seit 1975 schon Schreibtelefone, um in die Ferne zu kommunizieren. Mit einem schnellen Chat vermögen diese Geräte aber freilich nicht mitzuhalten. Mehr noch: Heute können auf Skype, Whatsapp oder per Email auch Videos verschickt werden. Und damit wird der Austausch in Gebärdensprache über Entfernungen hinweg möglich. „Das ist ein Quantensprung in der Entwicklung“, findet auch taubenschlag.de-Gründer Rehling. „Gehörlose können jetzt weltweit Kontakte pflegen, sogar in ihrer Muttersprache.“

Tatsächlich bietet das Internet die Chance, dass der Bedeutung der Gebärdensprache für taube Menschen auch bei der Kommunikation in die Ferne noch Rechnung getragen wird: Weil die Gebärdensprache die Gehörlosengemeinschaft überhaupt erst stiftet, gilt sie als „Herzstück der Gehörlosenkultur“. Das bedeutet, dass sogar Gehörlose die Gebärdensprache lernen oder weiter pflegen, denen ein Cochlea-Implantat das Hören und Verstehen der Lautsprache ermöglicht. Sie wollen damit ihrer Gemeinschaft treu bleiben. Florian Lothmann, Leiter der erwähnten Studie aus Köln, hat in seiner Umfrage von 2015 sogar folgendes festgestellt: Die gebärdensprachliche Kommunikation räumlich unabhängig einsetzen zu können, ist für Gehörlose inzwischen sogar der Hauptgrund, das Internet zu nutzen und nicht die erleichterte Informationsbeschaffung. Doch überraschenderweise war das nicht immer so.

Neue Möglichkeiten im Netz trafen zunächst auf alte Nutzungsgewohnheiten

Eine Studie der HU Berlin aus dem Jahr 2012 zur Nutzung sozialer Medien durch Gehörlose zeigt, dass der Trend, die Gebärdensprache zu pflegen, online erst verzögert eingesetzt hat. So ergab die Studie damals folgendes Bild: Von 106 befragten Gehörlosen und einigen wenigen Schwerhörigen setzte nur eine Person ausschließlich auf Video-Chats. Dagegen gaben umgekehrt mehr als 61 Prozent der Befragten an, sich dort nur schriftlich mit anderen auszutauschen und damit sogar ganz auf das Gebärden zu verzichten. Die Übrigen nutzten beide Möglichkeiten. Studienleiterin Laura Schulze hatte ferner festgestellt, dass es bei der Wahl des Netzwerks keinen Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft gibt: Auch bei den befragten Gehörlosen waren die meisten bei Facebook angemeldet. Und das, obwohl es seit 2007 ein visuell orientiertes Netzwerk gegeben hatte, das speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit einer Hörschädigung abgestimmt war.

Andreas Bittner vom Deaf-Studies-Lehrstuhl erklärt diese Ergebnisse mit ausgeprägten alten Nutzungsgewohnheiten, die erst mit der Zeit zurückgegangen sind. Noch heute kommunizierten ältere Gehörlose teils immer noch lieber per Fax als sich etwa via Skype in ihrer Muttersprache mit anderen auszutauschen – „weil sie es so gewohnt sind.“ Technikaffinität und digitale Nutzungsgewohnheiten sind also offenbar ausschlaggebender als die Nähe zur eigenen Muttersprache. „Und ich denke: Wenn man die Gebärdensprache über Video und Webcam einsetzt, zeigt man gleichzeitig sehr viel von sich persönlich, der ganze Mensch in seiner Verfassung ist dann sichtbar“, so Bittner. Wenn Gehörlose also im Internet ihre Muttersprache einsetzen wollen, ist das – anders als bei Hörenden – zwangsläufig mit Sichtbarkeit verbunden. Und setzt damit – genau umgekehrt zu den Hörenden, die problemlos auch unsichtbar kommunizieren können – immer die Überwindung einer gewissen Hemmschwelle voraus.

Die Muttersprache liegt bei tauben Menschen inzwischen auch online  im Trend

Dass Video-Nachrichten inzwischen im Trend liegen, hängt für Deaf-Studies-Experte Andreas Bittner auch damit zusammen, dass die technischen Voraussetzungen dazu immer besser geworden sind: Videonachrichten setzen geeignete Endgeräte, schnelles Internet, gute Videoqualität und ausreichendes Datenvolumen voraus. Bittner: „Ist das alles erfüllt, schafft das zusätzliche Anreize, die Gebärdensprache auch digital einzusetzen.“ Gerade bei gehörlosen Jugendlichen führen die neuen Videochatmöglichkeiten nach Angaben der „Deutschen Gehörlosen Jugend e.V.“ dazu, dass diese sich ihrer Muttersprache stärker bewusst werden.

Trotzdem kann Andreas Bittner der Schriftform nach wie vor etwas abgewinnen. Und zwar was das Verhältnis zu Hörenden angeht: „Wenn man nur schreibt, merkt man nicht zwangsläufig, ob jemand hörend ist oder nicht. Und auch wenn Gehörlose in der Schriftform nicht immer grammatisch perfekt sind: Der Kontakt zu Hörenden wird erleichtert.“ So gaben von den 241 Gehörlosen, die in der bereits genannten Studie der Rheinischen Fachhochschule befragt wurden, zwei Drittel an, durch das Internet sogar häufiger mit Hörenden zu kommunizieren. Den digitalen Austausch in Schriftform hält der taube Softwareentwickler Achim Feldmann dabei vor allem in der Arbeitswelt für wichtig: „Die Selbstständigkeit von Gehörlosen am Arbeitsplatz hat dadurch zugenommen. Und damit auch die Verantwortung und das Selbstbewusstsein.“ Aufgrund der Unabhängigkeit von Dolmetschern zieht Feldmann im Kontakt mit hörenden Arbeitskollegen Emails sogar Relay-Diensten vor.

Filter Bubble: Auch online trennen Gehörlose und Hörende oft noch Welten

Doch konnte das Internet auch insgesamt dabei helfen, die Welten zwischen Gehörlosen und Hörenden wegzuräumen? Führen die neuen digitalen Kontaktmöglichkeiten beide Seiten stärker zusammen? Bernd Rehling bringt es mit Blick auf die sozialen Netzwerken so auf den Punkt: „Wie alle Nutzer schmoren auch Gehörlose dort im eigenen Saft, gründen also Gruppen zu ihren Interessengebieten und tauschen Informationen aus der Gehörlosenwelt aus.“ Die taube Lippenleserin und Inklusionsaktivistin Julia Probst hält Rehling dabei für eine Ausnahme: Probst hat auf Twitter mehr als 34.000 Follower, hauptsächlich Hörende. Doch bei allen sprachlichen Barrieren und, in ihren Augen, nach wie vor ungenügender Inklusion im Netz, sieht die 34-Jährige selbst die Lage weniger pessimistisch: „Das Internet spielt eine wichtige Rolle, das Verständnis von Gehörlosen und Hörenden zu verbessern – auch wenn es nicht immer gelingt. Und es hat sich auch schon etwas verändert, aber eher bei Menschen, die schon immer offener waren.“

Denn bei allem technischen Fortschritt bleiben zwischen Hörenden und Gehörlosen in der Regel unterschiedliche Interessen und Denkweisen bestehen. Schon allein aufgrund ihrer visuellen Ausrichtung nähmen Gehörlose manches ganz anders wahr als Hörende, so Bernd Rehling. Das beginne schon bei Witzen und höre längst noch nicht bei einem unterschiedlichen Zugang zu Musik und Literatur auf. Rehling: „Nach anfänglicher Begeisterung brechen Kontakte zwischen hörenden und gehörlosen Jugendlichen daher meistens schnell ab – es sei denn, die Hörenden erlernen die Gebärdensprache und begeben sich in die deaf world. Solche Kontakte lassen sich dann aber besser real als im Internet pflegen.“

So viel das Internet also auch für Gehörlose verbessert haben mag: Mentalitätsunterschiede lassen sich eben dann doch nicht mal eben schnell wegdigitalisieren.

Titelbild: Barrier Gates von Ben Kerckx via Pixabay, licenced CC0 Public Domain

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