Reto alias Urs Fähndrich hat sein Amt als Kanzler der Politik-Community
"democracy online 2day" angetreten. Reale Macht hat er jedoch nicht, und
im Gegensatz zu Amtsvorgänger Tim Peters fehlt ihm auch das medienwirksame Etikett
"erster deutscher Internetkanzler". Peters, der sich als Taktgeber sah,
der die Einstellungen der Internet-Generation an die
Politiker vermittelt, ist sich jedoch sicher, daß auch sein(e)
Nachfolger diese Rolle wirksam ausfüllen können. Er selbst zieht nach
dem Ende seiner Amtszeit eine nüchterne, aber positive Bilanz.

Die zweimonatige Regierungszeit des 26-jährigen Berliners endete am
1. September. Begonnen hatte die Netzkarriere einer
Juninacht in einer Juninach um 2:56. Da legte sich Tim Peters mit
einem Mausklick das Pseudonym "General T" zu, wie sein Useraccount
verrät.

Keine vier Wochen später wurde der Jura-Student zum ersten
Internetkanzler Deutschlands gewählt, von den Usern der Plattform "dol2day", die
spielerisch umsetzten, was Visionäre digitaler Demokratie seit
Jahren träumen.
Online diskutiert die Community-Mitglieder über
Fragen von der Steuerreform bis zur Abtreibung – und verdienen dafür
Bimbes. Ein fragwürdiges Demokratiemodell?
"Den gibt’s hier nur für
harte politische Arbeit", beruhigt Peters, der in real life bei der
Jungen Union aktiv ist.

Er sammelte in drei
Online-Stunden täglich eine ganz Menge Bimbes, half mit, das Programm
der virtuellen Christdemokraten zu formulieren und setzte sich als
deren Spitzenkandidat schließlich gegen Internet-Grüne und -Liberale
durch. Im Netz abgeschlagen: die Sozialdemokraten.
Statt im Bungalow residierte der Internetkanzler in einer WG in einem
stilvoll renovierten Altbau in Berlin-Mitte. Die Verbindung zum
Wahlvolk hielt ein 56k-Modem, kein ADSL. Aber um die Ecke machen ein
Dutzend Internet-Startups die Chaussee-Straße zur "Silicon Street".
In einem davon jobbt Tim Peters neben dem Jura-Studium.

Er fühlt sich
als Teil einer Internet-Generation. Und wenngleich er von dol2day
als "Spiel" oder "Experiment" redet, sah er an seine Aufgabe als
Sprecher dieser Generation: "Das sind engagierte, stark vernetzte
junge Menschen mit einem überdurchschnittlichen Bildungsstand, aus
allen politischen Lagern." Unabhängig davon, welcher Partei sich die
dol2day- Mitglieder normalerweise zuordneten – bei Internet-Themen
seien sie sich einig, meint Peters. Und auch wenn die Ideen und
Meinungen der dol2day- Community nicht unbedingt repräsentativ
seien, wären sie doch aufgrund der demographischen Zusammensetzung
als Trendbarmeter für die Politik interessant.

Die Kanzlerschaft bedeutete für Peters vor allem eine Mittlerrolle zu
den Parteien und Parlamentariern. Im Gegensatz zum Bundeskanzler übt er
keine Regierungsfunktion aus – das"Herrschaftsgebiet" ist ja auch nur
virtuell. Die Kanzler-Stimme zählt in den dol2day- Diskussionen nicht
mehr als die eines gerade beigetreten Mitglieds. Die Funktion ähnelt
eher der des Bundespräsidenten, der Themen setzen und die Community nach
außen vertreten kann.

Wie, das war zu Beginn der Amtszeit von "General
T." noch nicht genau definiert. Zusammen mit den dol2day- Machern
versuchte er, auf zwei Wegen den Dialog mit politischen Entscheidern
einzuleiten:
Zum Chat mit der Community stellten sich auf seine Einladung
CDU-Internet-Sprecher Thomas Heilmann, SPD-Netzexperte Jörg
Tauss und Hildegard Müller, Vorsitzender jungen Union. Von ihnen
fühlte sich der Internetkanzler ernst genommen – auch wenn in seiner
Wählerschaft neben der deutschen Innenpolitik oder der EU-Osterweiterung
auch über ganz andere Themen diskutiert.
Peters: "Die Umfrage:
‘Welchen Brotaufstrich ißt du morgens am liebsten?’ hat schon
Kultstatus."

Ärgerlich nur, daß die Chat-Funktion nicht gleich zu Beginn der
Kanzlerschaft zu Verfügung stand. Die studentischen Gründer von
dol2day hatten Probleme, die Technik einzubauen. Noch mehr
hektische Handy-Telefonate zwischen Kanzler und Konstrukteuren waren
nötig, bis endlich das versprochene Umfrage-Tool einsatzbereit war.
Tim Peters hatte in der Community Online-Petitionen zu "Mehr Wettbewerb
im Ortsnetz"
und "Multimedia-Ausbildung in Schulen" geplant.

Die Ergebnisse
sollten gleichsam als Unterschriten-Aktion der Netizens an die
wirklichen politischen Entscheidungsträger weitergeleitet werden.
Weil die technische Umsetzung sich stark verzögerte, konnte der
Kanzler zwar Einfluß auf die Gestaltung des Umfrage-Tools nehmen,
hatte aber selbst nicht mehr viel davon."Nur 200 der rund 4000
registrierten Nutzer unterstützen die Aktion bis zum Ende der
Kanzlerschaft, berichtet er enttäuscht: ?Aber es war ja eine
Premiere."

Jetzt hofft General T., dass sein seit dem 9. September gewählter
Nachfolger das Tool besser einsetzen könne. Dafür habe es Kanzler Nr.
2 aber natürlich schwerer als er, von den Politikern wahrgenommen zu
werden als er, meint Peters.
Trotzdem gibt er sich überzeugt, daß
sein Posten mehr darstellt als ein vorübergehendes Maskottchen für
ein paar Medienberichte und Politker, die sich mit dem Siegel der
hippen New Economy schmücken wollen.
Auch Kanzler Nr. 2 und 3. können
seiner Meinung nach als Sprecher der Internet-Generation auftreten.
Voraussetzung: gute Ideen, hochwertige Gäste im Chat. Und eine
technische Neuerung bei dol2day: Die Anliegen, die der Kanzler an
die Politik weiterleiten soll, müssten besser aus der Masse der
diskutierten Fragen hervorgehoben werden. Sonst könne der Kanzler
keine Agenda setzen.

Die kurze Amtszeit und die damit verbundene Fluktuation sieht er
dagegen nicht als grundsätzliches Problem. Im Internet sei das Tempo
ja auch schneller. Daß sie gerade auf drei Monate erhöht wurde,
findet er trotzdem gut.
Langfristig, so die Einschätzung von
"General T", werde dol2day zwar ein Spiel bleiben, aber eines, das
die Politik auf den großen Handlungsbedarf in Sachen Internet
hinweise.
Als Ersatz für die Realpolitik möchte er das dol2day- Modell mit
häufigen Abstimmungen und Umfragen aber nicht sehen. Da setzt
RCDS-Mann Peters auf festere Strukturen: "Ich bin ein Anhänger
repräsentativer Demokratie. Am Ende muß jemand die langfristige
Verantwortung übernehmen." Als Partizipationsinstrument auf lokaler
Ebene kann er sich das Netz dagegen durchaus vorstellen.
Die größten Chancen beim Interneteinsatz liegen seiner Meinung nach
jedoch eher in der virtuellen Diskussionskultur, die er sie bei
dol2day kennengelernt hat. Die Lösung seien virtuelle
Organisationen als Ergänzung zur herkömmlichen Parteistruktur: "Die
sind ideal für Leute für Leute, die jung und mobil sind, und nicht
ständig Zeit haben, sich abends ab 18 Uhr in einer Kneipe zu treffen
und lokal Politik zu machen, aber dafür jeden Tag eine halbe Stunde
aufwenden, um online zu diskutieren."