Goedart Palm in einem Essay über das Diskurselend der kriegsversehrten Intellektuellen in Deutschland


Zu Beginn der siebziger Jahre, als Altkanzler Brandt
provokativ mehr Demokratie, nicht nur im Staat,
sondern auch in der Gesellschaft wagen wollte, waren
sie auf einmal da: Die Intellektuellen. Ihre plurale Rolle
zwischen Kultur und Politik war zwar gesellschaftlich
angefochten, vermuteten doch einige, daß Ratten und
Schmeißfliegen diskursiven Unrat über das Volk
brachten, aber das reflexive Selbstverständnis
leuchtete mit neuer Kraft und Herrlichkeit. Auf die
selbstgestellte Frage, ob sie den "opinion leaders" oder
selbstverlorene Schwätzer seien, die folgenlos dem
Weltgeist hinterherhechelten, sollte kein neuerliches
Verdikt folgen, daß sie innere Emigration äußerem
Widerstand bevorzugten? "Nicht länger schweigen" war
das spät entdeckte Fazit in der quälenden
Retrospektive ihrer historischen Abwesenheit, von der
Nationalsozialismus und Stalinismus gleichermaßen
profitierten. Ihr neues altes Problem damals: Ob sie
denn etwas veränderten mit wohlwissenden Diskursen,
aufklärenden Reden, Antifa-Pamphleten und
mediengerechten Menschenrechtstribunalen a la
Bertrand Russel. In dieser Aporie befangen konnten sie
sich zwar nicht über ihre gesellschaftliche
Wirkungsmächtigkeit einigen, aber die Plädoyers der
Intellekuellen lösten zugleich das von Sartre vertretene
Plädoyer für die Intellektuellen ein. Vom Diskurs zur
Tat pochte die Intelligentsia auf öffentliche
Aufmerksamkeit und einige wechselten sogar die
Waffen, um folgenreicher dem Weltgeist auf die
Sprünge zu helfen. Nicht nur Heinrich Böll
demonstrierte in Mutlangen, Demos wurden zum
intellektuellen Stelldichein, das nicht länger in
Debattierclubs oder im Saale, sondern auf der hart
asphaltierten Straße der Meinungsfreiheit stattfinden
sollte. Ulrike Meinhof und andere entschieden sich
dagegen für den bewaffneten Kampf, der endgültig das
Elend der Intellektuellen ratifizierte, daß Textsorten
zwar gegen Maschinenpistolen ausgetauscht werden
können, aber deshalb noch lange nicht bessere
Gesellschaften zurücklassen. Im Dissens der Mittel
und Methoden herrschte glechwohl die relative Einigkeit
der Einzelgänger, daß Einmischung zum literarischen
Arsenal gehört, wenn Kultur mehr als ein Blütentraum
gewaltgrundierter Gesellschaften sein soll.

Diese Emanzipation der Bescheidwisser ist nach
Jahrzehnten medialer Folgenlosigkeit nun bis zur
Unerkennbarkeit ihrer politischen Profile weich- und
rundgespült worden. So legt die geistige Avantgarde im
ersten Krieg der Bundesrepublik Deutschland seit dem
Zweiten Weltkrieg vorsichtige Glaubensbekenntnisse
ab, windet sich gegenüber der windigen
Weltwetterlage, reklamiert Betroffenheit und
schleichende Apathie macht sich da breit, wo früher
mehr oder weniger fröhliches Räsonnement den
widrigen Verhältnissen ins dummgrinsende
Mediengesicht spuckte. Vordem war der diskursive
Elan noch ideologisch durch die Antagonismen des
Systemdenkens zwischen Ost und West gesichert,
wurde praktisch demonstriert, was programmatisch
vorbereitet war. Globale Verbrüderung im Zeichen des
Dollars, ideologischer Kollaps und Mauerfall scheinen
in Nachhinein nicht nur die politischen
Welterschließungsweisen entschärft zu haben,
sondern auch das Selbstvertrauen des Geistesadels in
die eigene Genealogie der Moral schleichend
anästhesiert zu haben.

Vage stehen zwar intellektueller Diskurs und politische
Praxis noch immer im Zusammenhang, aber die
NATO-Doktrin des gerechten Humankrieges hat die
vorauseilenden Bescheidwisser bis zur Sprachlosigkeit
gelähmt. Als Losung mag dieser Aphasie Adornos
negativdialektisches Aperçu dienen "Es gibt kein
richtiges Leben im falschen". Darauf verständigt sich
jedenfalls die aufgeklärte Staatsräson Außenminister
Fischers, der öffentlich über das Für und Wider des
Krieges reflektiert, ohne damit im Gegensatz zu seinen
Freunden alter Seilschaften die geringste
Handlungsschwäche zu legitimieren. Zwischen einem
klaren "Ja" und einem entschiedenen "Nein" liegt
inzwischen ein nicht minder entschiedenes "Jein" für
den NATO-Krieg. "Wir machen uns immer schuldig,
also bomben wir" lautet der kategorische Imperativ der
neohumanen Spätaufklärung. Allein über dem
sehnsüchtig perhorreszierten showdown des
Bodenkrieges mag noch einige Tage diskursiver
Schleier liegen, bis auch diese Jungfrau von
medi-zynischen "spin-doctors" vom Schlage Jamie
Sheas enthüllt wird. Wie soll sich da noch intellekueller
Widerstand gegen die Omnipotenz der
Menschenfreunde rühren?

Intellektuelle umspielen inzwischen den gerechtesten
aller Angriffskriege mit diskursiven Arabesken, die das
Selbstverständnis pluralistischer Demokratien im
Feuilleton nachglasiert. Dieter Forte weiß etwa mit
Erasmus, daß ein Friede nie so ungerecht sei, daß er
nicht dem gerechtesten Krieg vorzuziehen wäre. Ein
humanistisches Zeigefingerchen – fernab lautstarker
Demos und des paramilitärischen Drucks der Straße.
Aber ist der Humanist von Rotterdam, der selbst seine
Zeitgenossen – etwa Luther oder Ulrich von Hutten – mit
der Enthaltsamkeitspolitik des weltabgewandten
Bibliothekenbewohners nicht zu überzeugen
vermochte, noch länger Gewährsmann in einer
spätmodernen Gesellschaft? Wer heute in der
inflationären Währung flüchtiger Aufmerksamkeiten für
seine Meinung zahlen muß, kann nicht auf
Kalenderblätter rekurrieren, sondern muß sein
Diskursethos mit ungleich schärferer Präzision
aufrüsten.

Harald Schmidt hält den Kosovokrieg in seiner
"Late-Show" nicht für satirefähig; lang vergessen ist
Tucholskys Dekret, daß Satire alles darf. Diese in der
Weltbühne für die "comédie humaine" ausgestellte
Blankovollmacht des Antimilitarismus wird nicht länger
gegengezeichnet, weil Einschaltquoten zuletzt der
gefährlichen Kritik an selbstbewußter Globalhumanität
geopfert werden dürfen. Das satirische Mediengesetz
des folgenlosen Frohsinns lautet: Wir dürfen uns
totlachen, aber nicht über den Tod lachen! Harald
Schmidt bietet indes ersatzweise an, aus solidarischen
Gründen im Kosovo anzutreten, wenn der Krieg länger
währen sollte. Also doch: Lachsalven
bundesrepublikanischer Friedens-engel als
mediengerechte Saldierung von Breitseiten?

Dem ubiquitären Essayisten Enzensberger gar fällt
zum Kosovo überhaupt nichts mehr ein, obwohl ihn
noch zuvor die historisch hoch-originelle Erkenntnis
zum öffentlichen Glaubensbekenntnis trieb, daß
Saddam Hussein Hitler sei. Zumindest die
amerikanische T-Shirt-Industrie überzeugte er damit.
Welcher diskursive Nährwert sich mit
Geschichtsklitterungen der dritten Art verbindet, bleibt
freilich heute so offen wie damals, als der gerechte
Medienkrieg noch in den Kinderschuhen marschierte.
Vergessen ist nun mit Tucholsky auch Karl Kraus, dem
seine Einfallslosigkeit gegenüber Hitler zu einer seiner
stärksten Widerreden und sichersten Prognosen gegen
den damals noch jungen Faschismus geriet. Der alte
Enzensberger hält die möglichen Meinungen dagegen
für hinreichend repräsentiert. Hier markiert sich das
Diskurselend der vormals selbstbewußten Mandarine
am nachhaltigsten: Alle reden vom Krieg. Wir nicht.
Christa Wolf verwehrt sich dagegen, diese
Sprachlosigkeit als Zeichen von Gleichgültigkeit oder
Feigheit zu werten, sieht sie sich doch in einer
Zwangslage, aus der sie keinen Ausweg weiß. Sartre
hatte dieser Selbstbescheidung der Schreibenden noch
eine klare Absage erteilt: "Aufgabe des Intellektuellen
ist es, seinen Widerspruch für alle zu leben und ihn
durch Radikalität (das heißt durch die Anwendung der
exakten Techniken auf die Lüge und Illusionen) für alle
zu überwinden". So wird es zum Treppenwitz der
Geschichte, daß ausgerechnet der selbsternannte
"Bewohner des Elfenbeinturms" und
harmlos-prätentiöse "Publikumsbeschimpfer" Handke
zum glühenden Gegner militärisch verabreichter
Menschlichkeit wird. Die Rückgabe des 1973
erhaltenen Büchner-Preises und der Kirchenaustritt
sind zwar wenig mehr als stumpfe Klingen im
schneidigen Gefecht und die proserbische Paranoia ist
alles andere als ein geschmacksneutrales Placebo,
aber wenigstens leuchtet hier der alte Zorn der
Kopfkrieger wieder auf, der anderenorts abhanden kam.

Verkümmern die Intellektuellen nun endgültig zum
feuilletonistischen Appendix globaler
Mediengesellschaften, die den Diskurs den Politikern
überlassen, weil die doch größere Köpfe, zumindest
aber intellektuell nicht anfechtbare
Informationsprivilegien besitzen? Während die
späteuroamerikanischen Öffentlichkeiten zu
Risikogesellschaften mutierten, haben nicht nur die
deutschen Geistesriesen das diskursive Risiko aus
ihrem Arsenal der Selbst- und Fremdverständigung
verbannt. Nicht länger hält sich das Wissen, daß das
Denken sich in Vorläufigkeit und Versuch bescheiden
kann, ohne der larmoyanten Apathie eigener Folgen-
und Sprachlosigkeit zu verfallen. Aus der vormaligen
Hitze ideologischer Fronten mag kein einfacher Weg in
das Experiment tastenden, gleichwohl selbstgewissen
Denkens zurückführen. Aber allein diesen
Welterschließungsmodus meinte Adorno, als er die
"minima moralia" gegen die Arroganz der
Besserwissenden ins Feld führte – nicht aber den
Dezisionismus von Handelnden, die sich einen
schnellen Endreim auf die ungereimten Verhältnisse
machen, um doch nur prosaisch draufzuschlagen. Im
freiwilligen Exil der Selbstpazifizierung der
Intellektuellen erleben wir jetzt die armseligste Stunde
des postideologischen Geistes. Endgültig scheint der
Strukturwandel der Öffentlichkeit dahin, wird der
Diskurs wieder an die Auguren des Handelns
abgetreten, schweigen oder säuseln die, die doch
reden müssen, wenn wir an ihre Existenz glauben
sollten