Was die live übertragene Mondlandung fürs
Fernsehen war, ist der Starr-Report für das
Internet die große Medien-Wende
Große Medien-Wenden (wie die, die von den
beweglichen Lettern des Johannes Gutenberg
ausgelöst wurde) setzen sich in vielen revolutionären
Einzelschritten durch, die die Zeitgenossen nicht sofort
als revolutionär erkennen. Das ist heute nicht anders
als zu Gutenbergs Zeiten. Am vergangenen
Wochenende war es so weit: Die Publikation des
Starr-Reports im Internet ist einer der großen
Durchbrüche in die Computer-Galaxis. Das Internet
wird zum Massenmedium.
Nachdem bekannt geworden war, dass der mit bizarren
Details aus dem Intimleben von Präsident Clinton
gespickte 445- Seiten-Wälzer des Oberanklägers
Kenneth Starr auf Beschluss des Kongresses ins Netz
gestellt worden sei, verwies das Leitmedium unserer
Zeit immer noch das Fernsehen gebannt auf den
neuen Konkurrenten, das Netz der Netze, den großen
Prototyp künftiger Punkt-zu-Punkt-Kommunikation: das
Internet.
Die CNN-Korrespondentin Sandy Crowley blätterte
aufgeregt in den Intranet-Seiten des Kongresses,
öffnete Hyperlinks und meldete bald darauf, der Report
läge auch auf der Homepage von CNN. Damit begann
der break-through day: Mit 340 000 Zugriffen in der
Minute meldete CNN einen neuen Rekord. Bald hatten
4 Millionen Menschen allein auf den Server des
Kongresses zugegriffen. Fotokopierläden machten
Extragewinne; sie verlangten 40 Dollar für eine Kopie
des Dokuments. Ein Wunder, dass das Netz nicht
zusammenbrach. Am Ende hatten sich unendlich viel
mehr Menschen die Information, nach der sie gierten,
besorgt, als dies auf konventionellem Wege geschehen
wäre. Wer lässt sich solche dazu noch anrüchige
Papierstapel schon per Post ins Haus schicken?
Kein Zweifel, dass der Kongress eine bewusste
Entscheidung getroffen hatte. Schon vor einiger Zeit
hatte man mit einem vergleichbaren Coup schlagartig
Publizität erreicht: Man stellte 39 000 Seiten
Geheimdokumente der Zigaretten-Industrie ins Netz.
Auch hier war das, was man früher ,die Auflage"
nannte, sensationell: 500 000.
Die Amerikaner sind Medienoptimisten. Sie halten den
Menschen für aufklärbar. Endlich seien die Bürger, so
Christopher Feola vom American Press-Institute, nicht
mehr auf die traditionellen Medien angewiesen, um sich
ihr eigenes Urteil in einem so schwer wiegenden
Prozess wie einem (möglichen)
Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten zu
bilden. Die Publikation des Starr-Reports im Internet ist
ein Ausfluss des amerikanischen Radikalismus in
Sachen Meinungsfreiheit.
Natürlich hat diese Entscheidung des Kongresses
auch scharfe Kritik ausgelöst. Es sei mehr als pervers,
die Sexgewohnheiten eines Menschen und sei es der
amerikanische Präsident minutiös zu dokumentieren
und dann millionenfach zu verbreiten. Die erotischen
Abenteuer Bill Clintons als primäre Quelle unmittelbar
verfügbar zu machen, und zwar für neugierige
Erotomanen genauso wie für die zuständigen
Staatsanwälte oder Saddam Hussein, sei eine ganz
und gar verwerfliche Zerstörung der Privatsphäre. Die
neuartige Technik der computervermittelten
Kommunikation fördere die Demokratie nicht etwa,
sondern zerstöre sie.
Diese Kritik ist falsch adressiert. Für ,pervers" mag
man erklären, dass das politische System der
Vereinigten Staaten 40 Millionen Dollar dafür
aufwendet, um einen Tugendterroristen wie Kenneth
Starr in die Lage zu versetzen, das Privatleben des
Präsidenten auszuforschen. Clinton ist ein tüchtiger
Politiker und gleichzeitig ein untreuer Ehemann und
geschmackloser Maniac. Besser so als umgekehrt.
Das Interesse freier (und kapitalistisch organisierter)
Medien am Privatleben prominenter Figuren der
Zeitgeschichte kann man nur schwer unterbinden,
wenn man die Meinungs- und Pressefreiheit nicht
einschränken will. Dass man die Ausforschung des
Privatlebens von Politikern aber auch noch mit
Millionen von Dollar fördert, ist die falsche Konsequenz
aus den schlechten Erfahrungen, die die USA im
Watergate-Skandal gemacht haben. Vielleicht sollte
man in Washington den Kerl in die Wüste schicken,
der in seinem Bericht 164-mal das Kürzel ,Sex",
64-mal den Begriff ,Genital", 62-mal das Wort ,Brüste",
23-mal ,eine Zigarre" und nur 15-mal den Terminus
,Impeachment" erwähnt hat.
Es macht aber keinen Sinn, das Internet zu
verdammen, weil es auch fragwürdige Dokumente
blitzschnell und millionenfach verbreiten kann. Mit Hilfe
von Satelliten lassen sich Truppenbewegungen von
Aggressoren schon im ersten Ansatz entlarven. Mit
ihren Personalcomputern konnten oppositionelle
Studenten die Brutalitäten der indonesischen Polizei
zeitgleich ihren Kommilitonen in Berkeley übermitteln.
Aber natürlich kann man mit Satelliten auch
Industriespionage betreiben und Personalcomputer für
Kinderpornografie benutzen. Gesellschaften sollten
eine Kommunikationskultur entwickeln, die die
Menschen befähigt, mit den schnellen Medien der
Computer-Galaxis sinnvoll umzugehen. Die pathetische
Verurteilung der neuen Medien aber nützt gar nichts.
Ja, man kann sie sowohl zur Aufklärung als auch zur
Desinformation benutzen. Das allerdings war bei den
Einblatt-Drucken und den moralischen
Wochenschriften nicht anders.
Die modernen Gesellschaften müssen sich damit
abfinden, dass sie inzwischen ,Medien", also
technische Instrumente, geschaffen haben, die
unendlich wirksamer sind als ihre Vorläufer in
vergangenen Jahrhunderten. Das gilt für Cruisemissiles
wie fürs Internet. Nicht Kulturkritik ist angesagt,
sondern das systematische Bemühen um
Medienkompetenz. Im Übrigen ist das amerikanische
Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürger allemal
demokratischer als der europäische Ekel vor der
Neugier und dem Zerstreuungsbedürfnis der Menschen.
Die politische Kultur wird von der großen
Medien-Wende allerdings nachhaltig verändert, das ist
wahr. Die Welt wird, ob wir das schön finden oder
nicht, transparenter, die schweigenden, ehrfürchtigen
Massen bekommen einen Rückkanal und werden
freche Fragen stellen. Möglicherweise muss man
Präsidenten wählen, die während ihrer Amtszeit die
Badezimmer ihrer Amtssitze nur zum Baden benutzen.
Wahrscheinlich wird in der Zukunft kommunikative
Kompetenz wichtiger sein als Scharfsinn und Bildung.
Es hat aber wenig Zweck, darüber zu greinen und zu
jammern. Wenigstens das könnte man von Karl Marx
gelernt haben: Auch die allermoralischsten Wünsche
werden am ökonomischen Mechanismus und an der
technischen Innovation zu Schanden.