Die Idee der internetgestützten Debatte über gesellschaftliche Themen hat in Hamburg Profil gewonnen. Dort diskutieren Jugendliche
online Chancen und Risiken gentechnisch behandelter Lebensmittel.
Seit dem 23.Januar geschieht in Hamburg etwas Ungewöhnliches. Die Schülerinnen und Schüler dieser Stadt diskutieren die Chancen und Risiken gentechnisch behandelter Lebensmittel – online! Das Interesse sich zu beteiligen ist groß. Bereits nach wenigen Tagen sind es mehrere hundert Jugendliche, die sich im Online-Forum zu Wort melden oder einfach nur die Beiträge lesen wollen.
Besorgte Jugend
Eine so große Beteiligung muss verwundern angesichts des immer wieder geäußerten Vorwurfs, Jugendliche seien heutzutage mehr auf sich selbst konzentriert und hätten das Interesse an Fragen zur Gesellschaft verloren. Es verwundert noch mehr, wenn die Beiträge genauer betrachtet werden. Denn hier wird nicht einfach drauflosgeschrieben, sondern meist sachlich argumentiert. Deutlich wird, dass Jugendliche offenbar viel differenzierter mit anspruchsvollen Themen umgehen, als dies in der Vergangenheit vermutet wurde. Und wer vorher glaubte, es würden sich nur Gegner gentechnisch behandelter Lebensmittel finden, muss sich eines besseren belehren lassen. Der Erhalt von Arbeitsplätzen, die Sicherung des Forschungsstandortes Deutschland, die Verantwortung für Dritte-Welt-Länder – auch solche mehr Pro-Gentechnik-Standpunkte finden ihre Fürsprecher. Angesichts der ausgewogenen Debatte möchte man fast von einer um die Zukunft des Landes besorgten Jugend sprechen. Dass diese Einstellung solange unbemerkt bleiben konnte, könnte daran gelegen haben, dass Jugendliche, die noch ohne Wählerstimme und deshalb ohne politische Lobby sind, in den etablierten? Medien kein Gehör finden. Ihnen wird die Möglichkeit verweigert, sich in die gesellschaftlichen Debatten einzumischen.
Öffentliche Debatte als Rollenspiel
Auswege aus dieser Situation will das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt „Biotalk“ aufzeigen, in dem das Online-Forum entwickelt worden ist. Der Reiz des virtuellen Debattierplatzes liegt darin, dass hier gezielt alternative Wege der öffentlichen Diskussion beschritten werden. Nicht nur deshalb, weil durch die Verlagerung ins Internet viel mehr Teilnehmern die Möglichkeit gegeben wird, sich zu äußern, als dies in der realen Welt möglich wäre. Noch wichtiger erscheint, dass es jetzt nicht länger die offiziellen Sprecher der Wirtschafts- und Verbraucherverbände, Parteien und Umweltschutzorganisationen sind, die als Vertreter für den Normalbürger sich mit dem Thema Gentechnik beschäftigen. Jetzt sind es umgekehrt die Jugendlichen, die in diese Rollen stellvertretend hineinschlüpfen und Sprecherfunktionen übernehmen können. Dieses spielerische Moment wird mit Wettbewerbselementen kombiniert. Jeder Teilnehmer kann für sein Mitmachen Punkte sammeln, die am Ende darüber entscheiden, wer als Sieger hervorgeht. Dass es bei einem solch heiklen Thema wie der Gentechnik gelegentlich auch zu Beschimpfungen oder Beleidigungen kommt, darf nicht überraschen. Dies stellt aber eher die Ausnahme dar, weil es Spielregeln gibt und Moderatoren, die darauf achten, dass sie auch befolgt werden.
Neue Impulse für eLearning und eParticipation
Da das Online-Forum noch bis zum 10.2.06 geöffnet ist, ist es für Schlussfolgerungen noch zu früh. Immerhin geben die Beteiligungszahlen und das Beteiligungsverhalten, die zusammengenommen jedes bisherige Projekt dieser Art in Deutschland in den Schatten stellen, Anlass zu verschiedenen Vermutungen. So lassen sich offenbar durch eine methodisch kluge und nutzerfreundliche Gestaltung des Internets Jugendliche motivieren, sich selbst außerhalb des Schulunterrichts mit komplexen Wissensstoffen zu befassen. Die Idee des gemeinsamen Lernens gewinnt hier völlig neue Dimensionen, die auch der gegenwärtig etwas ernüchternd wirkenden Debatte über die Möglichkeiten des eLearnings neue Impulse geben könnten. Damit nicht genug. Wer grundsätzlich mehr deliberative Elemente in der politischen Kultur (eParticipation) fordert, damit nicht nur Jugendliche, sondern die Bürger allgemein stärker am öffentlichen politischen Leben teilnehmen, setzt nicht nur einen Einstellungswechsel auf Seiten des politischen Establishments voraus. Es müssen vor allem Verfahren gefunden werden, die bei allem geforderten Ernst in der Sache den Teilnehmern auch Spaß an der Diskussion bereiten. Biotalk könnte hier zukunftsweisend sein, da hier ganz bewusst unterhaltende Spielregeln der Beteiligung, sachlich-argumentative Anforderungen, eine visuell ansprechende wie übersichtliche Plattform und ein gutes Moderatorenteam als Erfolgsfaktoren für einen Online-Diskurs verstanden werden. Dies erklärt den im Projekt Biotalk praktizierten interdisziplinären Ansatz. So haben Soziologen der TuTech Innovation GmbH und Medienwissenschaftler des Fraunhofer Instituts Autonome Intelligente Systeme (AIS) die Diskussionsregeln des Forums entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem Softwareunternehmen Binary Objekts eine Internetplattform realisiert. Biologen und Pädagogen der Universität Hamburg haben gemeinsam Wissenswertes zum Thema Gentechnik für das Forum zusammengestellt und Lernmaterialien und -methoden für die Schulunterrichtsphase des Projekts erarbeitet, die über die naturwissenschaftliche Perspektive hinausgehend auch für die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Aspekte des Einsatzes der Gentechnik in der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion sensibilisieren. Grafikdesigner haben für die ansprechende visuelle Gestaltung der Plattform
www.biotalk.de und der Webseiten des Projekts
projekt.biotalk.de gesorgt.
Die Stadt als Kooperationspartner
Ob Biotalk ein Schritt in die richtige Richtung ist, wird sich zeigen müssen. Die Stadt Hamburg ist davon jetzt schon überzeugt. So entschlossen sich die Hamburger Senatsbehörde für Bildung und Sport und das Institut für Lehrerfortbildung (LI) in Hamburg, die Rolle eines Kooperationspartners zu übernehmen und das Projekt nach Kräften zu unterstützen. Allen voran die Bildungssenatorin der Stadt, Frau Alexandra Dinges-Dierig, als Schirmherrin des Projekts.
Der Autor des Textes, Dr. Josef Wehner, ist Mediensoziologe und arbeitet an der Universität Paderborn und dem Fraunhofer Institut Autonome Intelligente Systeme (AIS).