Erik Möller, freier Journalist, aktiver Wikipedianer und Mitbegründer des Projekts Wikinews, spricht mit Ada von der Decken im Interview über die Edit-Wars der Wikipedia, den Glauben an die Glaubwürdigkeit und die echte Info-Elite.

Erik Möller, freier Journalist, aktiver Wikipedianer und Mitbegründer des Projekts Wikinews, spricht mit Ada von der Decken im Interview über die Edit-Wars der Wikipedia, den Glauben an die Glaubwürdigkeit und die echte Info-Elite.

Herr Möller, in Ihrem Buch Die heimliche Medienrevolution zitieren Sie an vielen Stellen Wikipedia als Quelle. Ist das überhaupt eine zitierfähige Enzyklopädie? Wenn man da ein Stichwort aufruft, weiß man doch nie, ob der Eintrag von heute nicht morgen schon komplett verändert ist.

Erik Möller: Die Wikipedia ist in mancherlei Hinsicht zitierfähiger als andere Enzyklopädien, die in der Regel keine Quellen benennen, wo häufig nur der Autorenname unter dem Artikel steht und nur im besten Fall eine Bibliographie enthalten ist. Wenn ich mich als Buchautor frage, ob ein bestimmter Wikipedia-Artikel glaubwürdig ist, dann sehe ich mir seine Historie an, um festzustellen, welche Veränderungen vorgenommen wurden. Dann schaue ich, wer daran mitgearbeitet hat und ob Quellen enthalten sind. Außerdem haben wir kürzlich das Feature „Permanentlink“ hinzugefügt, sodass eine spezifische Version einer Seite zitiert werden kann.

Welche Philosophie hat Wikipedia?

Erik Möller: So viele Philosophien wie Teilnehmer. Das ist natürlich auch ein Problem. Die zentrale Philosophie, auf die sich alle verständigen können, ist die Schaffung eines Sammelsuriums des Wissens unter dem Gesichtspunkt des neutralen Standpunktes. Das ist das allumfassende Dogma, an das sich jeder Wikipedianer halten muss. Neutraler Standpunkt heißt ganz konkret: Der Artikel darf nicht für sich selbst Stellung beziehen, sondern muss die unterschiedlichen Sichtweisen zum Thema darstellen. Auf diese Weise lässt man dem Leser die Möglichkeit, zu entscheiden, wem er glaubt. Das hat dazu geführt, dass trotz sehr unterschiedlicher politischer und persönlicher Philosophien Wikipedianer dennoch zusammenarbeiten können. Bei kontroversen Artikeln – über Abtreibung, über Homöopathie, über den Nahost-Konflikt – gilt bei Wikipedia: Das sind die verschiedenen Ansichten zu dem Thema, und auch wenn wir völlig anderer Meinung sind, halten wir uns an den Neutralen Standpunkt, auch „NPOV“ genannt, für Neutral Point Of View.

Besteht nicht die Gefahr, dass Wikipedia bei wenig nachgefragten, wenig kontrollierten Artikeln eine Plattform für unsachliche oder falsche Information bietet?

Erik Möller: In der Tat kann bei Wikipedia jeder selbst entscheiden, über welches Thema er schreibt. Deshalb existieren auch Artikel, in die wenig Zeit und Arbeit investiert wurde. Das Wichtige ist jedoch, dass der Leser weiß, was Wikipedia ist und wie Wikipedia funktioniert, sodass er damit verantwortungsvoll umgehen kann. Ich glaube, es gibt kaum eine Online-Community, die selbstkritischer ist, was Inhalt und Qualität betrifft, als die Wikipedia. Vor ein paar Wochen war es in den Medien eine große Story, als der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales äußerte: „Einige Artikel sind schlecht!“ Wir waren sehr überrascht, dass es dazu solch einen Medienwirbel gab. Für uns ist es ganz normal, bei internen Diskussionen festzustellen: „Diese Seite ist Müll. Die müssen wir überarbeiten!“

Aber Experten gehen doch in der Wikipedia unter, wenn jeder Laie den Artikel eines Spezialisten zerstören kann.

Erik Möller: Das ist vor allem dann ein Problem, wenn der Experte kämpfen und dauerhaft Zeit investieren muss, um seinen Artikel in eine brauchbare Form zu bringen. Das kommt aber nur selten vor, weil die anderen Wikipedianer meist sehen: Das ist ein Mann vom Fach, der hat Recht. Ich stelle mich allerdings dagegen, wenn ein Titelträger reinkommt und tönt: „Ich bin Doktor und dieser Artikel ist Müll! Das muss verändert werden.“ Dann kommt ein 14-Jähriger und erwidert: „In einer Quelle steht das aber anders drin“, worauf der Doktor gar nicht eingeht.

Also arbeitet Wikipedia gegen die Eliten?

Erik Möller: Nein, wir sind für die Eliten. Wir sind sogar so genau, dass uns das „Nein“ eines Professors nicht genug ist. Es geht darum, dass man seine Aussagen belegen kann. Das ist die Elite, die wir wollen. Das ist die Elite, die sich so gut auskennt, dass sie auf Quellen verweisen kann. Es gibt Leute, die diese Autorität des Titels, des Experten ausnutzen möchten, um Artikel auf sehr propagandistische Weise zu verändern.

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zweiten Teil des Interviews mir Erik Möller.

Dies ist ein Vorabdruck aus dem neu gegründeten Netz-Magazin
WebWatching, das Studierende des Hamburger Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft entwickelt haben. WebWatching wird ab dem 1.02.06 abrufbar sein.

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