Weniger herumsurfen

Mit Hilfe eines Programms abonniert der fortschrittliche Netzbürger die Angebote seiner Wahl und studiert sie gebündelt, ohne sich mühsam von Homepage zu Homepage hangeln zu müssen. Hat ein bestimmter Nutzer neue Bilder auf den Flickr-Server geladen? Gibt es neue Links bei Del.icio.us, die mit einem abonnierten Begriff verknüpft sind? Hat die Blog-Suchmaschine Technorati neue Texte zu einem Stichwort von Interesse entdeckt? Liegt ein frischer Podcast zum Lieblingsthema bereit? Sind auf den klassischen Nachrichtenseiten neue Meldungen erschienen? Weil das RSS-Lesepro-gramm das alles anzeigt wie neu eingetroffene E-Mails, müssen die Nutzer weniger herumsurfen. „Ich muss nicht mehr raus und etwas suchen”, freut sich Doc Searls, „es wird mir gebracht.”

Reale Zukunft

Der Science-Fiction-Autor William Gibson hat einmal gesagt: „Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur ungleichmäßig verteilt.” Hier ist ein Stück Gegenwart: Auf dem Weg zur Arbeit lauscht der Bewohner des 21. Jahrhunderts abonnierten Audiobeiträgen, die über Nacht selbsttätig in seinen MP3-Player geflossen sind. Neues, individuell zurechtgeschnittenes Lesefutter liefern ihm jederzeit die Linkfarmen von del. icio.us oder Furl, und die persönlichen Erkenntnisse des Tages landen schließlich im eigenen Weblog, von wo aus sie wiederum ihren Weg in die RSS-Reader anderer Menschen finden. Zugegeben: Noch ist es lediglich eine Minderheit der Bevölkerung, deren tägliche Informationsgewohnheiten heutzutage so aussehen, aber auch E-Mail war noch vor kurzem ein Kommunikationsmittel ausschließlich für Freaks und Wissenschaftler.

Publizistische Revolution

Beim Blick in die Zukunft hilft vielleicht eine genauere Betrachtung der heutigen Jugend: „Die Jungen bloggen sich ihren Weg in eine publizistische Revolution”, titelte der „Guardian” kürzlich und veröffentlichte die Ergebnisse einer Umfrage unter 14- bis 21-Jährigen. „Es gibt Anzeichen für einen signifikanten Generationsbruch”, erfuhren die verdutzten Briten. „Anstatt das Internet zu nutzen, wie ihre Eltern es tun – als Informationsquelle, um einzukaufen und um Online-Zeitungen zu lesen – nutzen die meisten jungen Leute es, um zu kommunizieren.” Ein Drittel der Befragten besaß ein eigenes Weblog oder eine Website, jedoch nur jeder Zehnte las Nachrichten im Web. Der „Guardian” folgert, „Millionen junge Menschen, die mit dem Internet und mit Mobiltelefonen groß geworden sind, sind mit dem Einbahnstraßenverkehr der traditionellen Medien nicht mehr zufrieden. Sie publizieren und sammeln ihre eigenen Inhalte.”

Der eingangs erwähnte Kurzfilm, der die Entstehung des fiktiven Nachrichten- und Kommunikationsgeflechts „Epic” beschreibt, endet mit den Worten: „Im besten Fall, für die klügsten Leser, ist Epic eine Zusammenfassung der Welt, tiefer, ausgedehnter und nuancierter als alles, was jemals erhältlich war. Im schlimmsten Fall und für zu viele ist Epic eine Ansammlung von Belanglosigkeiten. Vieles ist unwahr, alles ist beschränkt, oberflächlich, sensationell.” Sieht die neue Medienwelt derart düster aus? Wer sich etwas Zeit nimmt, um sich die Blogosphäre und die wachsende Zahl der gemeinschaftlichen Dienste genauer anzuschauen, wird diese Frage verneinen.

Einstieg für Spezialisten

Das wuselige Treiben in der Blogwelt hat in der Tat auf den zweiten Blick sehr viel mit Sortieren und Gewichten zu tun, mit einer funktionierenden Selbstorganisation, die Nützliches und Informatives an die Oberfläche spült und Belangloses unter dem Teppich belässt. Wer sich für ein Fachgebiet interessiert – sei es Tiefseetauchen oder Quantenmechanik -, für den sind Fach-Blogs oft der ideale Einstieg. Und in den Link-Silos von Del.icio.us oder Furl sind die weiterführenden Verweise dann gleich kommentiert. Eine bessere Ausbeute bei gleichem Zeiteinsatz – der Vorteil dessen was viele „Web 2.0″ nennen, gegenüber dem oft ziellosen Herumgeklicke im alten World Wide Web.

Auch traditionelle Web-Medien und Blogs stoßen sich keinesfalls elektromagnetisch ab. Im Gegenteil: Bereits 2002 sprach der US-amerikanische Internet-Berater John Hiler von einem „Emergenten Medien-Ökosystem”, einer Biosphäre innerhalb des Webs, in der Profis und Amateure sich gegenseitig mit Informationen, Themen und Aufmerksamkeit versorgen. „Die vielfach vernetzte Community von Internet-Akteuren verschafft dem Journalismus einen völlig neuen, in dieser Form noch nie gekannten Resonanzraum”, weiß auch Professor Dr. Lorenz Lorenz-Meyer von der Fachhochschule Darmstadt. Obendrein steckt das neuartige und rasant wachsende Nervengeflecht der Mikromedien voller Informationen und Inspirationen.

Auf gleicher Augenhöhe

Eigentlich ein Paradies für Journalisten. Und ein Lehrstück dafür, dass das Web anders tickt. Es lediglich als einen weiteren Kanal zu verstehen, um „Content” zum Publikum zu schaufeln, bedeutet, seine Naturgesetze nicht zu befolgen. Blogs sind hingegen im Web geboren und haben ihre eigenen Regeln. Ihr Beispiel zeigt: Die Zukunft des Journalismus im Web wird sich an Gemeinschaftlichkeit orientieren. Die Zeiten des Von-oben-herab sind vorbei. Das vormalige Publikum lässt sich nicht mehr alles sagen: Im Web schreibt jeder für jeden auf gleicher Augenhöhe.

In einer aktualisierten Version ihres Kurzfilms („Epic 2015″) haben Robin Sloan und Matt Thomp­son das düstere Ende ihrer Geschichte ein wenig aufgehellt: Ein arbeitsloser Journalist der „New York Times” Digital Edition findet nun eine neue Aufgabe, indem er persönliche Video-Schnipsel im Netz über das Satellitenortungssystem GPS Orten geografisch zuordnet. Immerhin.


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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
Drehscheibe online bestellt werden.