(4. Mai 2006) Mit „Opinio”, einem Crossmedia-Produkt der Düsseldorfer „Rheinischen Post”, wollen die Macher eine widersprüchliche Sehnsucht ihrer Leser befriedigen: den Wunsch nach authentischer Selbstinszenierung.

Meine Handschrift kann ich schon seit meinem 20. Lebensjahr nicht mehr lesen. Bei mir geht immer alles direkt auf die Festplatte”, schreibt jan-vanleckwitz aus Duisburg am 22. Juni um 11:45 Uhr. Seine Frage: Warum schreiben die eigentlich alle auf „Opinio”? Sein Beitrag wurde 186 Mal gelesen, bestätigt die Kopfzeile.

Der „Prosument”

Janvanleckwitz ist der Nickname, unter dem Jens Gelbhaar für „Opinio” Texte verfasst, das Online-Magazin der „Rheinischen Post”. Er ist einer von rund 1.000 Usern, die sich seit dem Start im Dezember 2004 angemeldet haben. Janvanleckwitz fällt dabei ein wenig aus der Reihe. Anders als viele ist er auch unter seinem richtigen Namen bekannt: Sein Artikel über lästige Werbebriefe erschien im Printmagazin, das der „Rheinischen Post” beiliegt.

„Opinio: Hier schreiben Sie”, steht auf dem Cover. „Das gab es vorher nicht”, schwärmt Oliver Bargfeld, der Leiter der Produkt- und Markenentwicklung der „Rheinischen Post”. „Eine ganz neue Form von Crossmedia: einmal im Monat als Magazin, einmal wöchentlich als Zeitungsseite und täglich online.” Hauptdarsteller ist der „Prosument”, ein Name, den die Marketingabteilung des Verlags für die unbekannte Spezies erfunden hat: Produzent und Konsument zugleich. Citizen Journalism, Bürgerjournalismus: Leser schreiben für Leser. Über die LKW-Maut, 35 Jahre Tatort, die Kopfpauschale oder „Die Geschichte, wie ich meinen besten Kumpel am verlieren bin”. Keine Leserbriefe, es sind Erfahrungsberichte, sie sind echt.

Torsten Casimir ist RP-Feuilleton-Chef und Leiter von „Opinio”: „Prosument? Ach ja, ein Wort aus der Marketingabteilung”. Casimir notiert sich den Begriff. Wo Oliver Bargfeld von „consumer generated media” spricht, zitiert Casimir Bertolt Brechts Radiotheorie und dessen „soziale Utopie”. Er ist Chef des Kulturressorts und von Anfang an in der Projektgruppe aus Entwicklern, Akquiseleuten, Technikern, die sich um das neue Produkt „Opinio” kümmern. In kleiner Runde treffen sie sich noch immer jede Woche zur Konferenz. Casimir ist Redaktionsleiter dieser „Bastelstube”, ein Vermittler. Er ist der einzige Printjournalist des Projekts und sitzt zwei Stockwerke von der „Opinio”-Redaktion entfernt. Kunstplakate und Filmposter hängen auf dem Gang. Casimir hat über Musikkommunikation und Systemtheorie promoviert. Es ist ihm fast unangenehm, ohne Sakko dazusitzen.

Familiengeheimnis der Branche

Als die Idee im Sommer 2004 an die „Rheinische Post” herangetragen wurde, sei sie noch „ein ungeschliffener Edelstein” gewesen. Das Konzept versprach die idealen Rahmenbedingungen, um die Leser wieder für die Inhalte der Zeitung zu interessieren. Er sagt „wieder”, und benennt damit, was seiner Meinung nach zur Konjunktur- und Anzeigenkrise dazukommt: „Das dunkle Familiengeheimnis der Branche ist die Krise des Interesses.” Ein Befund, der nicht nur die Einstellung der Leser zur Zeitung betrifft. Für viele Profijournalisten seien Zeitungen quasi gottgegeben. Diese „hoheitliche Geste” versteht er nicht, man müsse sich dem Weblog-Trend öffnen, findet er, den Leser teilhaben lassen: „In Melancholie langsam sterben? Nein”, er schüttelt den Kopf, „das passt nicht zu unserem Haus.” Es ist Pioniertaten gewöhnt, am 20. Januar 1996 startete mit RP-online mit der erste Internetauftritt eines deutschen Verlages, damals war Casimir schon im Haus. „Meine These ist, dass die Menschen nach einer Bühne des Selbst suchen. Für diesen ausgeprägten Inszenierungswillen ist das Internet die Innovation schlechthin. Leser wollen weit mehr als lesen.” Sie hätten, meint er, ein Bedürfnis nach Authentizität und nach Inszenierung – eigentlich unlösbar. Für Casimir bietet „Opinio” die Schnittmenge dieser beiden widersprüchlichen Sehnsüchte. Er steht auf und holt ein altes „Opinio”-Magazin, klopft wie zum Beweis mit dem Handrücken auf das Cover: „Das ist authentisch und nah bei den Leuten.” Das Leserfoto auf dem Titelblatt des Magazins ist immer so echt und ungeschminkt wie die Geschichten darin.

Extrem mitteilsam

“Nein, wir redigieren den Fließtext nicht, Rechtschreibfehler und grammatikalische Schnitzer bleiben, wo sie sind.” Der Onliner Jan Popp-Sewing dreht unruhig am Rad seiner Computermaus. Der 33-Jährige war Volontär, kennt das Haus und ist Bindeglied fischen Print und Online. Er ist der „Opinio”-Mitarbeiter, der am meisten mit Casimir zu tun hat, auch mittags zwischen zwei Bissen Geschnetzeltem mit Reis bereden die beiden mitunter neue Ideen. Ansonsten sitzt er mit den anderen „Opinio”-Kräften an einem großen Tisch mitten in der Redaktion von RP-online. Popp-Sewing spricht laut, die Augen fest auf den Bildschirm geheftet. „Wir fallen hier auf, weil wir immer viel miteinander reden. Reden müssen”, erklärt er den Unterschied zwischen „Opinio” und der normalen Online-Redaktion. Der Briefumschlag unten am Bildschirmrand blinkt, ein Kommentar zu einem Artikel über Kosenamen. „Das wollen wir eigentlich nicht, das hier ist ja kein Forum, die sollen richtige Texte schreiben”, ärgert er sich. „Der typische , Opinio ‘-Schreiber meldet sich jeden Tag mindestens einmal. Er ist extrem mitteilsam, manche scheinen gar nicht zu schlafen”, charakterisiert Popp-Sewing seine Autoren. „Unsere Schreiber wollen aber auch Feedback, sie wollen wissen, was andere Leute von ihren Texten halten.” Da sind auch die „Opinio”-Mitarbeiter gefragt – ein weiterer Grund, warum sie mehr miteinander reden als die Kollegen von RP-online: Manche Antworten an die User wollen abgestimmt sein, mittlerweile kennen sie die Eigenheiten der Schreiber sehr gut. Ein ständiger Balanceakt zwischen beruflicher und privater Kommunikation.Insgesamt acht Honorarkräfte und Pauschalisten teilen sich drei Tagesschichten, von 9 bis 23 Uhr ist immer jemand da, der die Community betreut und vor allem die eingehenden Artikel über Guns´n`Roses, Midlife-Crisis oder Retromöbel in das System einpflegt.

Regen ist “Opinio”-Wetter

Sie ergänzen höchstens einmal einen Absatz, ansonsten verwalten sie die Authenzität und Slebstinszenierung ihrer Schreiber. Auch am Wochenende. “Anfangs dachten wir, die Leute würden hauptsächlich dann schreiben”, meint Philipp Stempel, ein anderer “Opinio”-Redakteur und grinst. “Aber es ist eher umgekehrt, die meisten Texte laufen bei uns werktags ein. Viele schreiben anscheinend während ihrer Arbeitszeit. Nur wenn es am Wochenende regnet, das ist dann auch “Opinio”-Wetter” Die Abendschicht mailt jeden Tag eine Auswahl an Beiträge für die Printausgabe nach Hamburg. Dort sitzen die “Boogies”, wie sie von allen Beteiligten genannt werden, sie entscheiden mit, welche Texte geadelt werden und ins Heft gelangen.


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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
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