Dynamische Blog-Welt
Blogs leben im Grenzgebiet zwischen Kommunikation und Publikation. Dies ist eine bislang weitgehend unerforschte und gerade erst frisch erschlossene Region – und genau deshalb entziehen sich die dortigen Siedler und ihre merkwürdigen Werkzeuge so erfolgreich einer vergleichenden Definition. Ihr Wohngebiet grenzt westlich an den Dialog, östlich an die Massenpublikation, schließt nördlich ans Ich an und südlich an die Welt. Da dieses Fleckchen Grauzone bislang kommunikationswissenschaftlich noch nicht kartografiert wurde, versuchen Beobachter häufig, die Blog-Gefilde anhand ihrer Nachbarländer zu beschreiben. Das muss natürlich schief gehen.
Es ist die Summe technischer Kleinigkeiten, welche die Welt der Blogs so dynamisch macht und sie von den Regionen der statischen Homepages abgrenzt. Da wäre zunächst das Backend: Meist serverseitig, in seltenen Fällen auch mittels Client-Software, kümmert sich ein Mini-Content-Management-System (CMS) um die Technik des Web-Publizierens. Wer unfallfrei eine E-Mail verfassen kann, kommt in der Regel auch mit diesen Bonsai-CMS klar. Weit wichtiger als die einfache Bedienbarkeit: Die Blog-Tools kommunizieren hinter den Kulissen sowohl miteinander als I auch mit zentralen Diensten. Jede gängige Blog-Software benachrichtigt automatisch die Verzeichnisse von Weblogs.com oder Blo.gs über neue Einträge, die somit stets über Listen frisch aktualisierter Weblogs verfügen.
“Google auf Speed”
Diese Aufstellungen dienen wiederum Blog-Suchmaschinen wie Technorati oder Feedster als Auslöser für eine inhaltliche Indizierung. Anders als bei herkömmlichen Websuchdiensten wie Google oder Yahoo dauert es somit nur noch Augenblicke, bis ein neuer Text erfasst ist, und nicht Tage oder gar Wochen. Die BBC zählte via Technorati bereits zwei Stunden nach der Explosion der Londoner Bomben 1.300 Postings zu diesem Thema, darunter etliche von Augenzeugen. Zu diesem Zeitpunkt standen Journalisten noch vor den abgesperrten U-Bahnhöfen und interviewten sich gegenseitig. „Google auf Speed” wird Technorati ob dieser Echtzeitfähigkeit gerne genannt. Doc Searls, einer der berühmtesten Blogger, erklärt die Effizienz dieser Technik anhand von Damenunterwäsche. Als der Wäschehersteller Victoria’s Secret vor einiger Zeit einen neuen BH auf den Markt brachte, lieferten Google und Co. kurze Zeit nach dem Produktlaunch einen einzigen Treffer: die Website des Herstellers. Technorati fand hingegen gleich hunderte von Erwähnungen in Weblogs: „Ganz normale Frauen hatten ihre ersten Erfahrungen mit dem neuen Ding geschildert”, erzählt Searls.
Ob ein politischer Kommentar, ein Filmtrailer, ein wissenschaftlicher Artikel oder schlicht der neueste Klatsch: Worüber Blogger reden, das verlinken sie auch. Und diese Links lassen sich natürlich zählen und in Hitparaden anordnen. Neben Technorati liefern Popdex, Day-pop, Blogpulse und etliche andere Services solche Hyperlink-Charts. Hierzulande bietet
Blogstats.de einen ähnlichen Dienst. Diese Listen dienen als Aufmerksamkeitsmesser, sie geben Auskunft darüber, welche Themen gerade für Diskussionsstoff sorgen — ob Unterwäsche, Bombenexplosionen oder spannende neue Technologien. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Verlinkung der Blogs untereinander: Trackbacks sind Rücklinks auf andere Blogs, die sich thematisch auf den aktuellen Eintrag beziehen. Trackbacks erlauben es somit einem Blog-Autor zu sagen: „Hey, zu diesem Thema habe ich auch etwas bei mir geschrieben. Schau dir das mal an”. Wem das zu kompliziert ist, der nutzt einfach die Kommentarfunktion eines Blogs. „Wenn du etwas Unwahres sagst, wird es nicht lange dauern, bis es jemand richtig stellt”, erklärt der Journalist und Autor Dan Gillmorn. Der redaktionelle Prozess der Faktenprüfung und der Korrektur wird auf diese Weise in die Öffentlichkeit ausgelagert. „Ich habe schon vor langer Zeit begriffen, dass meine Leser immer mehr wissen als ich”, sagt Gillmor, der das Manuskript seines Buches „We the Media” komplett im Internet veröffentlichte und von den Lesern seines Blogs korrigieren ließ. „Nachrichten müssen aufhören, ein Vortrag zu sein”, sagt er, „stattdessen müssen sie eher einem Seminar oder einem Gespräch gleichen.”
Blogger halten ständig Kontakt
„Blogs sind Gespräche” sagt auch Doc Searls, und in der Tat erinnern viele Blog-Einträge eher an geschriebenes Sprechen als an polierte Texte aus der Printwelt. Denn es geht beim Bloggen um ein Miteinander, um Gemeinschaftlichkeit. Anders als einsame Autoren in der Vergangenheit erhalten Blogger ein direktes Feedback ihrer Leser. Die Begriffe „Publizist” und „Publikum” greifen nicht mehr. Weblogs kommen selten solo daher. Zwar schwirren ihre Piloten meist im Alleinflug durch die Infosphäre, tanken hier an einer News-Station, landen dort auf einem Datenplaneten, durchfliegen einen Faktensturm oder drehen zwischendurch eine Diskussionsschleife. Mit Hilfe von Biogrolls, Trackback und RSS halten sie trotzdem ständig Kontakt miteinander und informieren sich gegenseitig über neue Infofunde und bisher unbekannte Lebensformen. Ein teils dicht, teils lose geknüpftes Nervensystem verbindet die Einzelschiffe dieser Flotte, die kein Mutterschiff nötig hat und bei der jeder sein eigener Kapitän ist – selbst wenn man häufig mal in die gleiche Richtung fährt.
Virtuelle Buschtrommel
Blogs fungieren im Web als eine Art Buschtrommel-Kommunikation. Dies hat erstaunliche Nebeneffekte für die Akzeptanz neuer Werkzeuge: Früher benötigte eine neue Technologie oft Jahre, um eine kritische Masse von Anwendern zu finden, speziell wenn keine Marketing-Millonen im Spiel waren. Dank der Lauffeuer-Eigenschaft der Blogs können nun wenige Wochen ausreichen: Im Spätsommer 2004 ersann der ehemalige MTV-Moderator Adam Curryp zusammen mit dem Web-Entwickler und Blog-Guru Dave Winerq eine Methode, Audiodateien zeitversetzt und automatisiert in den Speicher von MP3-Spielern zu übermitteln. Eine Art Radio auf Abruf, die sie Podcasting nannten, in Anlehnung an Apples populären Musikspieler „iPod” und das Wort „broadcast”, Ausstrahlung. Eine Hörproduktion, die so Verbreitung findet, heißt seitdem folgerichtig Podcast.
Massenphänomen im Zeitraffer
Ende September 2004 lieferte eine Google-Suche nach dem Begriff Podcast exakt 26 Treffer, mittlerweile sind es über 64 Millionen. Das Verzeichnis
Podcast.net zählt nun fast 15.000 aktive Podcasts, einige Hörbuchverlage und die britische BBC setzen bereits die einstige Untergrundtechnik ein und selbst die alte Tante „Tagesschau” lässt sich via Podcast abonnieren. Vor allem teilen sich aber unzählige Amateure durch regelmäßige Hörproduktionen mit, auf inhaltlich wie akustisch schwankendem Niveau zwischen Anrufbeantworter- und Studioqualität. Aus einer kleinen Idee ist so ein Massenphänomen geworden – und zwar im Zeitraffer.
Das Abo-Radio ist nur ein Beispiel für Technologien oder Dienste, die ihre Popularität allein der Mund- bzw. Mauspropaganda innerhalb der Blogwelt verdanken. Ähnlich erging es dem Bilderdienst
Flickr, der mit einer Vielzahl von Interaktions-, Sortier- und Bewertungsfunktionen das Publizieren von Fotos auf eine neue Ebene hebt. Linux-Kolumnist und Blogger Doc Searls ist sich sicher: „Flickr wird die Fotografie mehr verändern als Kodak.” Auch die Link-Tanks unter dem Label „Social Bookmarking”, namentlich
Del.icio.us,
Furl,
Spurl und etliche andere, verdanken ihren Erfolg den Aufmerksamkeitsschüben aus der Blogosphäre — und der Notwendigkeit, die tägliche Informationsflut besser in den Griff zu bekommen. „Wer dieses liest, der liest auch jenes”, lautet das Prinzip der sozialen Lesezeichen. Im Idealfall bedeutet der Trend, den diese Dienste aufzeigen: Die Informationen werden nicht mehr, sondern individueller. Bei der Übermittlung hilft eine Technologie namens RSS, was für Really Simple Syndication steht. Etliche Blogs und andere Dienste bieten heute ihre Inhalte parallel auf der Website und eben im RSS-Format an.
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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
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