(21. April 2006) Die Leser, das Publikum der klassischen Medien, verabschieden sich gerade von einer alten Angewohnheit: dem passiven Konsum. Sie werden selbst aktiv und schreiben für einander – auf gleicher Augenhöhe.

Heute ist die „New York Times” offline gegangen. Sie ist nun ein ausschließlich in gedruckter Form erhältlicher Newsletter für die Elite und für ältere Menschen”, lautet ein Satz aus der fiktiven Reportage „Epic 2014″. Der achtminütige Kurzfilm von Robin Sloan und Matt Thompson, zwei Journalismus-Studenten am US-amerikanischen Poynter-Institut, ist ein Rückblick aus dem Jahre 2014. Er zeigt das Bild einer Welt, deren Medien dank Personalisierung, Syndizierung, Selbstpublikation sowie automatischer und kollaborativer Filterung mit dem Ein-Sender-viele-Empfänger-Modell des 20. Jahrhunderts kaum noch etwas gemein haben. Ob das kurze Filmchen eine hellsichtige Vision zeigt oder eine übertriebene Spinnerei, wird die Zeit zeigen; die Indizien, die für einen Trend in diese Richtung sprechen, sind jedenfalls unübersehbar.

Medienmacher warnen auf Tagungen gerne vor einer „Zersplitterung des Marktes”, wenn es um die Zukunft ihrer Branche geht. Das klingt so, als würde eigentlich alles bleiben wie es ist, nur eben ein wenig kleinteiliger. Die Transformation der Medienwelt, die sich gerade ankündigt, wird jedoch viel grundlegender sein. Und es sind keine Konzernlenker, Marktstrategen oder Business-Consultants, die sie angeschoben haben: Die Leser, das Publikum, vulgo die Zielgruppe, sind es, die sich gerade von einer alten Angewohnheit verabschieden, welche jahrhundertelang die Grundlage der Medienwirtschaft bildete: dem passiven Konsum.

Kein Platz für Hobbyisten

„Die Presse ist so frei wie ihr Kontostand”, lautet ein Sprichwort, und diese Aussage erklärt auch, warum bislang nur ein verschwindend geringer Teil aller Menschen zu den publizierenden Zünften zählte: Medien kosten Geld. Wer publizieren will, muss investieren, muss sich den Einstieg in den Aufmerksamkeitsmarkt erkaufen. Somit haben wir es dort – von wenigen Liebhaberprojekten abgesehen — mit Produkten zu tun, die Umsatz bringen, wirtschaftlich sein und Gewinn abwerfen müssen. Kein Platz für Hobbyisten. Digitaltechnik und das Internet sind jedoch gerade fröhlich dabei, an den Wurzeln dieses nur scheinbar ehernen Gesetzes zu sägen. „Pixel kosten nichts”, sagt Doc Searlsb, Buchautor, Journalist und einer der Überväter der Weblog-Community. Weblogs, oder kurz Blogs, sind auch die Exemplare der neuen Jedermann-Medien, die als erste über die allgemeine Wahrnehmungsschwelle geschwappt sind. Etwa 70 Millionen der Mini-Journale soll es weltweit im Netz geben, in Deutschland sind es geschätzte 200.000.

Hochnäsigkeit, Ignoranz, Missmut

Gestandene Medienmenschen begegnen den plötzlich und ungerufen aufgetauchten Amateurkollegen oft mit einer Mischung aus Hochnäsigkeit, Ignoranz und Missmut. „Viele etablierte Journalisten verstehen unter einer,Diskussion’ über Weblogs nur, permanent die Frage zu stellen, ob Blogs eine Bedrohung für den Journalismus sind, und sich diese dann selbst permanent mit ,Nein’ zu beantworten”, beklagt sich Jay Rosenc, Vorsitzender des Fachbereichs für Journalismus an der Universität von New York und selbst leidenschaftlicher Blogger. Tatsächlich lassen sich Beispiele dieser schablonenhaften Herangehensweise mit Leichtigkeit orten. So fragte der Medien Journalist Holger Wenk im Gewerkschaftsmagazin „M”: „Ist also jeder Laie berufen, journalistisch eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen?”, nur um sich kurz darauf selbst die Antwort zu geben: „Mitnichten!”

Mathias Müller von Blumencron, Chefredakteur von „Spiegel-Online”, erklärte gegenüber dem Magazin onlinejournalismus.de gar, dass „99 Prozent aller Blogs Müll” seien. Das Medienmagazin „In-sight” will die Ursache des „Problems” im „Senfstau” entdeckt haben: „Jahrzehntelang unentdeckt und allenfalls vermutet, zeigt sich in Deutschland mehr und mehr die Existenz einer gewaltigen angestauten Menge nicht dazugegebenen Senfes.” Auch in den USA beziehen Blogger Prügel. Beispielsweise von Jonathan Klein: Ein typischer Blogger sei „ein Typ, der in seinem Pyjama im Wohnzimmer sitzt und schreibt”, verkündet der einstige CBS-Fernsehjournalist seine Vorstellung über den prototypischen Weblog-Autor und dessen bevorzugte Kleidung. Der Pyjama-Vorwurf ist seitdem zu einem amüsiert-geflügelten Wort unter Bloggern geworden. Der Kolumnist Jon Carrolld antwortete einmal darauf: „Pyjamas beschädigen nicht zwangsläufig die Qualität der Informationen, die das Gehirn einer Person durchlaufen, die gerade einen Pyjama trägt.”

Angst vor Amateur-Konkurrenz

Ein Grund für das Unbehagen, das sich aus solcherlei Äußerungen herauslesen lässt, dürfte darin liegen, dass die publizierende Gilde bislang eines kaum kannte: Amateur-Konkurrenz. In anderen Branchen ist das hingegen nichts Neues: Würde Herbert Grö-nemeyer sich darüber echauffieren, dass „jeder Laie sich berufen fühlt, Musik zu machen”, stieße diese Äußerung höchstwahrscheinlich auf Unverständnis. Medienmenschen ist das plötzliche Auftauchen der Hobbyisten-Horden offenbar nicht geheuer. Noch vor wenigen Jahren benötigte man quasi Superkräfte, um ein Thema zur Debatte zu stellen oder schlicht seine Meinung zu verbreiten. Soll jetzt etwa jeder, der es sein will, ein Superheld sein?

Werkzeuge zum Networking

Der größte und gleichzeitig verlockendste Fehler ist es, Blogs als eine Art Mini-Ausgabe klassischer Medien zu begreifen. Diese permanente Reduzierung von Weblogs auf den publizistischen Aspekt nervt auch Jan-Hinrik Schmidt, den stellvertretenden Leiter der Forschungstelle Neue Kommunikationsmedien an der Uni Bamberg: „Sicher ist es berechtigt und wichtig, über das Verhältnis von Weblogs und Journalismus oder Organisationskommunikation nachzudenken, sei man nun Blogger, professioneller Medienmacher oder Wissenschaftler. Aber nur darüber zu reden, verkennt das wahre Wesen von Weblogs: Sie sind Werkzeuge zum Networking, sie fördern Praktiken des Vernetzens – da ist das,Publizieren’, also das Veröffentlichen für ein disperses und diffuses Publikum, nur eine Praxis unter vielen.”

Die typische Was-soll-so-toll-daran-sein-Reaktion bei der Betrachtung eines x-beliebigen Blogs beruht auf einem Wahrnehmungsfehler, der tief im menschlichen Denken verwurzelt ist: Um etwas Neues zu verstehen, neigen wir dazu, es mit Bestehendem zu vergleichen. Autos sind pferdelose Kutschen, Handys sind Telefone zum Mitnehmen. Blogs sind demgemäß kleine Internet-Publikationen. Dieser komparierende Erkenntnismechanismus ist zunächst sicherlich hilfreich, er hindert unseren Verstand jedoch oft genug daran, das größere Bild zu sehen, zu durchschauen, wie eine auf den ersten Blick kleine Neuerung, ein großes und komplexes System verändern kann.

Der durch einen Explosionsmotor angetriebene „pferdelose Wagen” hat innerhalb von rund 100 Jahren unsere Welt nachhaltig umgeformt. Er gab uns sowohl die Mobilität als auch den Stillstand im Stau, den Individualtourismus und die Landschaftszerstörung.

Angeblich hängt an der Automobilindustrie in Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz und ein Viertel der staatlichen Steuereinnahmen. Ob unsere Abhängigkeit vom Rohöl oder die Zersiedelung durch die Möglichkeit des Berufspendelns: So anschaulich und richtig die Definition „Kutsche ohne Pferde” vor hundert Jahren gewesen sein mochte, so wenig trifft sie den Kern des Phänomens.

Das Riskante an dieser Gleichsetzerei: Sie verstellt den Blick auf das Gesamtsystem. Sie beschreibt das Auto, aber nicht den Verkehr; nicht die Muster und Möglichkeiten, die sich aus einer Innovation heraus bilden. Jedes Weblog ist nur Teil eines Ganzen. Wer dieses Phänomen begreifen will, darf seinen Blick nicht auf einen einzelnen Vertreter konzentrieren, sondern muss sich die Mühe machen, die mentale Linse in den Weitwinkelbereich zu zoomen, um das gesamte Bild zu betrachten – oder zumindest einen größeren Teil davon.


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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
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