Laien vorne dabei

Initiativen etablierter Online- und Offline-Medien, die das aufkommende Engagement der Bürger für ihre bestehenden Angebote nutzen wollen, machten bislang bei uns die meisten Schlagzeilen und am meisten Schule: An publikumswirksamen Katastrophen, bei denen Laienfotos und Augenzeugenberichte richtig zur Geltung kamen, herrschte 2005 wahrlich kein Mangel. Das Interesse der Medien an derartigen Inhalten erklärt sich von selbst. Wer sein Selbstverständnis als Medienhaus über die Rolle als „erste beziehungsweise beste Informationsquelle für seine Nutzer” definiert, kommt nicht umhin, das Informationsbedürfnis seiner Leser oder Nutzer ernst zu nehmen. Wenn dann eben Informationen aus erster Hand in unserer digital vernetzten Welt am schnellsten, besten und billigsten von Laien zu bekommen sind, weil keine professionellen Mitarbeiter in zumutbarer Zeit vor Ort sind, warum diese Möglichkeit nicht nutzen? Derartige Beiträge von Bürgerjournalisten werden in der Regel jedoch selten unredigiert veröffentlicht.

Ich und der Papst

Der Kabelnetzanbieter MSNBC in den USA beispielsweise ermuntert seine Nutzer, eigene Texte, Fotos und Videos einzusenden. Nach dem Tod des Papstes beispielsweise fragte der Sender direkt nach Erinnerungen, Augenzeugenberichten und Fotos von Begegnungen ihres Publikums mit Johannes Paul II., wie Jeanne Rothermich, Vice President of Interactive Strategy, berichtet. „Das ist eine zusätzliche, authentische Stimme”, sagt sie. Allerdings werden nur etwa ein Prozent der zugesandten Beiträge überhaupt veröffentlicht.

Mit zwei Prozent veröffentlichter Einsendungen lag die britische BBC nur geringfügig über dieser Quote – doch dies könnte sich bald ändern, wie BBCs Director of New Media and Technology, Ashley Highfield, konstatierte. Er sieht eine signifikante Verlagerung hin zu nutzergenerierten Inhalten voraus. Bislang liegt der Anteil dieser Inhalte nur bei ein bis zwei Prozent. Zehn bis 20 Prozent könnten es jedoch schnell werden.

Am 17. Oktober 2005 fiel dann bei der BBC der Startschuss für eine komplette Neuausrichtung des seit den Londoner Bombenattentaten populären Online-Ressorts
„Have You Say”. Eine neue Software und ein neues Konzept erlauben den Usern nun, ihre Kommentare schneller online zu sehen und zu bestimmten Themen Beiträge online zu stellen, ohne dass diese zuvor von der Redaktion editiert werden. Vicky Taylor, eine der Redakteurinnen, erklärt, dass sich „Have You Say” in einem Maße und Tempo entwickelt habe, die der Redaktion letztlich keine andere Wahl gelassen hätte: „Wir hatten ständig Leser am Telefon, die sich darüber beklagten, dass ihre Zusendungen nicht veröffentlicht wurden. Aber bei 10.000 E-Mails am Tag hatten wir einfach nicht mehr die Manpower, alle Beiträge zu lesen!” Künftig gibt es bei „Have You Say” zwei Arten von Debatten. Bei potenziell heißen Themen wie Irak, Rassenfragen oder Mittlerer Osten soll auch künftig ein Journalist die Zusendungen vor der Veröffentlichung auf Beleidigungen etc. prüfen, allerdings nicht wie bisher auch Rechtschreib- und Grammatikfehler korrigieren – hier werden sich die Leser umstellen müssen. Bei anderen Debatten behält sich die BBC nur vor, unpassende Beiträge im Nachhinein zu löschen. Hier werden die User auch explizit gebeten, Missbrauch zu melden. „Wir wissen vom Feedback unseres Publlikums, dass unsere Nutzer sich wünschen, dass wir ihnen mehr vertrauen und uns weniger als „Big Brother” aufführen, wenn es darum geht, ihnen Platz für ihre eigenen Meinungen einzuräumen”, sagt Vicky Taylor.

Bürger als Exklusivreporter

Spätestens nach den Verwüstungen, die der Hurrikan Katrina im Süden der USA angerichtet hatte, war US-Medien klar, welche Bedeutung authentische Augenzeugenberichte haben und wie wichtig diese für eine glaubwürdige Berichterstattung sind. Dennoch sind noch immer gewisse Berührungsängste zu spüren, die Larry Kramer, verantwortlich für Digitale Medien bei CBS, stellvertretend für andere formuliert: „Wenn Yahoo Blogs einbindet, ist das seine Sache. Wir als Nachrichtenmedium müssen damit leben, dass die Menschen von uns glaubwürdige Informationen erwarten.”

Bürger in die Nachrichtenbeschaffung einzubeziehen bedeutet aber nicht unbedingt Verzicht auf journalistische Qualität – das jedenfalls lebt die norwegische Boulevardzeitung
„Verdens Gang” (VG) vor. Vor gut zwei Jahren strandete ein Tanker weit entfernt von Oslo an der Westküste Norwegens — und die größte Zeitung des Landes hatte keine Fotografen vor Ort. Mit einer breit angelegten Telefonaktion gelang es VG, Anwohner mit digitalen Kameras zu rekrutieren, die die Redaktion mit aktuellem exklusivem Bildmaterial versorgten. Dieses Ereignis war für VG der Anstoß, die Leser systematisch in die Nachrichtenbeschaffung einzubinden.

Spektakuläre Geschichten

Die Redaktion ließ ein „Hinweis-Portal” programmieren und startete eine Marketingkampagne für die Nummer „2200″, unter der die Redaktion per SMS, MMS, Telefon oder E-Mail jederzeit für nachrichtenrelevante Hinweise erreichbar ist. Alle von Nutzern eingehenden Nachrichten — mehr als 70.000 in den ersten 18 Monaten – landen jetzt unmittelbar auf dem Bildschirm des Dienst habenden Redakteurs. „40.000 davon waren Schrott, aber das ist nicht das Problem – die sind schnell aussortiert”, erläutert Torry Pedersen, Managing Director von VG Multimedia, „viel lästiger sind Hinweise, die sich erst bei genauem Nachprüfen als irrelevant erweisen.” Der Aufwand lohne sich trotzdem. Die Redaktion habe durch die Mitarbeit ihrer Leser laufend aktuelle und exklusive Geschichten in der Zeitung und auf der Website. Spektakuläres Beispiel Tsunami: Die erste MMS-Nachricht mit einem Foto der „Monsterwelle” erreichte VG aus Phuket eine Stunde bevor die erste Meldung über einen Agenturticker lief. Die Redaktion stellte die Nachricht sofort auf die Website und hatte fortan einen einzigartigen Kontakt mit allen Norwegern in Thailand und dem gesamten Katastrophengebiet. Hunderte von Fotos wurden eingesandt, Interviews mit Betroffenen führte die Redaktion über Instant Messenger auf Mobiltelefonen. „Jeder hat heute ein Mobiltelefon in der Tasche”, betont Pedersen, „lassen Sie sich von Ihren Lesern dabei helfen, eine viel bessere Zeitung zu machen.”

Redaktion als Dienstleister

Die Verschränkung von Internetaktivitäten und gedruckter Zeitung ,,Verdens Gang” ist beeindruckend, jedoch thematisch auf die klassischen journalistischen Nachrichtenwerte fixiert. Im Entstehen ist eine dritte Form von Bürgerjournalismus, die auch bei der Themenwahl den Usern mehr Freiheit lässt: Es geht hier um Initiativen etablierter oder unabhängiger Medien, in bestimmten Regionen oder zu bestimmten Themen ein ganz neues Produkt zu schaffen, das auf einer gemeinsamen Anstrengung von Redaktion und Bürgern beruht.

Diese Citizen-Journalism-Projekte erreichen durch die Zusammenarbeit zwischen Laien und professionellen Journalisten eine hohe Glaubwürdigkeit und eine hohe Bindung der Nutzer. Die Redaktion wird zum Moderator und Dienstleister. Der Wert einer Veröffentlichung steigt in den Augen der Nutzer, wenn eine professionelle Kontrolle vorgeschaltet wird. Der Wert des jeweiligen Beitrags steigt ja auch tatsächlich, wenn eine Redaktion (Schreib-) fehler beseitigt und bei der Auswahl von Fotos hilft. Das neue journalistische Gemeinschaftsprodukt profitiert von kostengünstigen, interessanten Inhalten und kann durch das neue Publikum auch neue Anzeigenkunden erreichen. Vielfach wird parallel zur Website ein neues Printprodukt geschaffen, dessen Inhalte ganz oder zum Großteil aus Online-Beiträgen bestehen. Zwingend erforderlich ist eine gedruckte Ausgabe aber nicht. Regionale, lokale oder ultralokale Inhalte sind vielfach, aber nicht ausschließlich der Kern dieser Publikationen.


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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
Drehscheibe online bestellt werden.