Arbeitsgruppe Bildung und LernenZahlreiche Initiativen haben im Jahr 2016 die Chancen und Hindernisse der Digitalisierung in verschiedenen Kontexten diskutiert. Wir haben mit der Bildungsberaterin Anja C. Wagner über ihre Beteiligung in der Initiative Digitale Region und die Zukunft der Bildung gesprochen.

Die 11. Initiative Digitale Region hat sich auch in diesem Jahr intensiv mit den Herausforderungen der Digitalisierung für die ländlichen Räume beschäftigt (Den Bericht über die Abschlussveranstaltung der Initiative finden Sie hier). Neben Politik, Wirtschaft und Logistik war auch das Thema Bildung ein wichtiger Bestandteil. Wieso es für die Zukunft elementar sein wird, die Bildung in Deutschland grundlegend zu verändern, und wie dies mit Initiativen wie der Digitalen Region gefördert werden kann, erläutert die Leiterin der Bildungsgruppe im Interview.

Frau Wagner, viele digitale Transformationsprozesse werden mittlerweile mit der Endung 4.0 versehen. Was verstehen Sie unter Arbeit und Bildung 4.0?

Der Begriff “Arbeit 4.0” wurde vom Arbeitsministerium benannt, um im Gegensatz zur Industrie 4.0 die Arbeitnehmersicht mit einzubeziehen. Aber da der Begriff anfangs sehr stark von Großkonzernen geprägt wurde, rückte damit der Blick auf die klein- und mittelständigen Unternehmen, sowie auf die Freiberufler und Selbständigen in den Hintergrund. Das wollen wir ändern. Die Sichtweise, die wir auf die klassische Arbeit haben, und woraus wir unsere ganze Gesellschaft ableiten, funktioniert meines Erachtens nicht mehr. Das ist der Grund, warum wir über Transformation nachdenken müssen.

Spezifisch im Kontext der Bildung; wo fängt dort die Transformation an – in der Schule?

Ich würde mich dem Thema anders nähern. Nämlich mit der Frage, wo wir eigentlich hin wollen. Was ist denn das Ziel? Wie soll unsere Gesellschaft aussehen? Es häufen sich ja die Anzeichen, dass wir weg müssen von der Wachstumsgesellschaft und hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Von dem Ziel ausgehend muss das Bildungssystem verändert werden. Und da kommen wir zu dem Schluss, und das verstärkt sich immer mehr, dass das bestehende Bildungssystem den Anschluss total verloren hat. Auch in der Digitalisierungsdebatte.

Wenn durch die Digitalisierung die Arbeit vieler Erwachsener bald wegfällt, dann müssen wir heute handeln.  Wir müssen ihnen zeigen, wie sie ihre Intelligenz und ihr Wissen trotzdem noch konstruktiv einbringen können, und dazu brauchen wir neue Räume. Wir brauchen Infrastrukturen, um den Menschen einen Rahmen zu bieten, wo sie sich entfalten können, wo sie weiterlernen können und neue Ideen bekommen. Das könnten z.B. Co-Working- oder Makerspaces sein, auf jeden Fall aber eine Art sozialer Treffpunkt, der nicht mit alten Strukturen besetzt ist. Wir brauchen neutrale Orte, wo Menschen verschiedener Herkunft zusammenkommen. Und wenn wir diese Räume erst einmal haben, dann können wir überlegen, wie die traditionellen Bildungsinstitutionen dazu einen Beitrag leisten können.

Dr. Anja C Wagner beschäftigt sich mit globaler Transformation im digitalen Wandel. Mit dem Unternehmen FrolleinFlow GbR bietet sie heute Studien, Vorträge, Consulting und verschiedenene Online-Projekte an. Weitere Infos: http://acwagner.info

Ihnen geht es also weniger darum, digitale Kompetenzen in Deutschland auszubauen, sondern mehr darum, dass man diese Räume schafft, um Leute zum Nachdenken anzuregen und ihre Überlegungen dann mit anderen zu teilen?

Genau. Diese Diskussion über digitale Kompetenzen ist nicht sinnvoll, weil sie von den Institutionen aus gesteuert wird. Ich denke, wir brauchen generell eine digital offenere Kultur; der Diskurs momentan handelt ja mehr von den Problemen als den Chancen. Und wenn diese Offenheit gelingt und dann z. B. die Verwaltung mehr digitalisiert wird, und sogar die gesamte Sozio-Ökonomie, dann ist man als Bürger ja fast gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen und kann so digitale Kompetenz erlangen. .

Konkrete, schnell umgesetzte Maßnahmen helfen also nicht, langfristige Lösungen zu finden?

Das kommt darauf an. Ich habe z.B. mit Margret Rasfeld von der evangelischen Schule in Berlin Mitte gesprochen. Es ist bemerkenswert, was auch innerhalb des bestehenden Systems schon möglich ist. Die haben dort keine gute Internetverbindung und setzen wenig Digitales ein. Stattdessen werden die Kinder zu mehr Offenheit und mehr Verantwortung “erzogen”. Das heißt, ihnen werden Räume angeboten, wo sie dies entwickeln können. Und das ist viel wichtiger als das da irgendwie ein Computer eingesetzt wird. Das sind die Schulen, an denen man sich orientieren sollte.

Auf der Online Educa Berlin hat der PISA-Koordinator Andreas Schleicher davon gesprochen, dass Kompetenzen wie kritisches Denken und Hinterfragen relevanter sind als bloßes Wissen. Sehen Sie das genauso?

Grundsätzlich ja. Vor ein paar Jahren hat er mal über die “4 Ks” gesprochen, die zentrale Kompetenzen sein sollen: Kommunikation, Kollaboration, kreatives Denken und kritisches Denken. Ich bin aber kein Fan von dem Plural in “Kompetenzen”. Ich finde, es gibt nur eine Kompetenz: in dem Moment, wo man auf ein Problem stößt, muss man die Kompetenz haben, das lösen zu können. Um die Kompetenz zu haben, braucht man einerseits ein paar Fähigkeiten, die man irgendwo erworben hat. Zweitens braucht es das notwendige Wissen, das man entweder selbst hat oder auf das man zugreifen kann. Außerdem braucht es eine offene Kultur die erlaubt, dass man dieses Problem überhaupt lösen darf. Und schließlich braucht man Rahmenbedingungen, also Technologien, mit Hilfe dessen man das Problem dann angehen kann. Und diese 4 Kategorien, das zusammen ist erst Kompetenz. Denn wenn wir diesen Kompetenzbegriff immer nur an die Person binden, dann ist dies eine Individualisierung, die den Blick auf das eigentliche Problem verstellen kann. Dann heißt es oft: “Sie haben nicht genug gelernt, sonst hätten Sie ja die Kompetenz” Das stimmt aber oftmals nicht, denn es sind häufig die Rahmenbedingungen, die nicht stimmen. Eben dass kompetente Menschen nicht kompetent handeln können. Aber ich finde schon auch, dass wir auf die 4Ks Wert legen müssen. Zudem braucht es meiner Meinung nach eine Person darüber hinaus Empathiefähigkeit, Resilienz und Netzkompetenz.

Ähnlich äußert sich Herr Schleicher, gerade was die Empathie angeht. Aber das sind ja im Grunde Charaktereigenschaften. Die können einem bestimmt bis zu einem bestimmten Grad auch beigebracht werden, aber nicht immer. Wie kann man das unterstützen?

Wenn man diese Fähigkeiten fördern will, dann müssen wir eben überlegen wie das Bildungssystem aussehen müsste, damit Menschen, junge Menschen, die zuhause nicht das ideale Umfeld haben, genau das vorfinden. Ob das jetzt Schulklassen der heutigen Art sind, das würde ich hinterfragen. Man muss Kindern eine Anlaufstelle bieten, die ganz anders aussehen könnte als die heutigen. Da gibt es ja zB die Sudbury School, die Kindern einen Rahmen bietet, wo sie hingehen können. Das ist aber eben nicht so durchdekliniert mit Frontalunterricht und einem Lehrer vorne, der alles besser weiß. Dort  ziehen sich die Kinder im Grunde selbst die Sachen raus, die sie interessant finden.

Also geht es dann da wie in den USA auch viel mehr um das individuelle Lernen, das von der Digitalisierung gestützt wird und darauf abzielt, dass jeder Schüler seinen persönlichen Fortschritt macht?

Also das “adaptive learning” kann durchaus sinnvoll sein. Das ist super, gerade wenn man etwas umlernen will und einem durch Algorithmen individuell geholfen wird. Aber das reicht nicht, um solch eine Charaktereigenschaft aufzubauen. Da braucht es noch viel komplexere soziale wie kulturelle Rahmenbedingungen als nur die Kinder oder auch die Erwachsenen mit der Technologie alleine zu lassen. Die haben dies ja nie gelernt, adäquat damit umzugehen und sich die eigene Kompetenz zu formen.

Im Projekt Digitale Region haben Sie Ihre Erfahrungen bei der Leitung der Arbeitsgruppe Bildung eingebracht. Wie waren Ihre Erfahrungen damit?

In diesen freiwilligen Initiativen melden sich natürlich auch einige Leute, um in die Netzwerke reinzukommen und um etwas von ihrem eigenen Unternehmen zu platzieren. Aber mit ein paar Leuten in der AG haben wir auch viel diskutiert und eine Umfrage vorbereitet. Obwohl der Rücklauf nicht superhoch war, gab es doch ein interessantes Ergebnis: Es wurde nämlich einheitlich gesagt, dass viele Akteure gar nicht mehr auf eine Entscheidung von oben warten, um etwas zu verändern, sondern dass die Kommunen auf individuelle Köpfe setzen, die etwas verändern wollen. Wir müssen aufhören zu überlegen, wie wir ganze Institutionen transformieren können. In allen Vereinen, Verwaltungen und Firmen gibt es diese 10-15% der Menschen, die nur darauf warten, dass sich endlich was verändert. Und für mich geht es nur noch darum, diese Menschen zu finden und miteinander zu vernetzen. Ich denke, dass wir nur so vorankommen.

Das passt zu dem, was Sie eingangs gesagt haben. Man braucht Querdenkender, man hat sie auch, und die sind es, die das Ganze anfangen müssen, damit sich dann nachhaltig was verändern kann.

Richtig. Aber die werden eben auch meistens blockiert, weil sie in der zweiten Reihe sitzen und nicht befördert werden, weil sie zu anstrengend sind. Und deswegen muss man Strukturen schaffen, in denen diese Leute eine Stimme bekommen. Wir brauchen Strukturen gegen die Blockierer. Und das ist nicht nur im Bildungssystem so, sondern auch in der Wirtschaftsentwicklung und in den Verwaltungsstuben. Wir brauchen also Anlaufstellen für die, die was machen wollen. Das passiert nicht in den alten Strukturen. Es muss eben der Software-Entwickler mit dem Handwerksbetrieb zusammendenken, und dann kann was ganz Neues entstehen. Und das ist dann Innovation.

Also ist das Ihr Appell an den Bürger: Trauen Sie sich, finden Sie andere Menschen, mit denen sie sich verbinden können, seien Sie zusammen kreativ?

Ja, ganz genau!

 

Titelbild: Arbeitsgruppe Bildung by Martha Friedrich, Erklärfilmstudio, licenced CC-BY 4.0

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