Die Guardian-Redakteure Luke Harding und David Leigh wollten ihr Buch „WikiLeaks – Julian Assanges Krieg gegen Geheimhaltung” präsentieren, in dem sie sich auch kritisch mit WikiLeaks auseinandersetzen – aber schon bald stand die britische Zeitung selbst unter Beschuss. Überraschend meldete sich im Publikum der Hacker und Assange-Freund Jacob Appelbaum mit Vorwürfen zu Wort. Er kritisierte den Guardian u. a. dafür, Sicherheitsstandards missachtet zu haben – und weitere Enthüllungen über die NSA zurückzuhalten.
Sie hatten sich den Abend sicher entspannter vorgestellt. Luke Harding und David Leigh nutzten einen Berlin-Aufenthalt für die Präsentation ihres Buches „Wikileaks – Julian Assanges Krieg gegen Geheimhaltung”, das dieser Tage auf Deutsch erscheint. Thema der Monographie ist der als „Cablegate“ bekannt gewordene Leak einer Viertelmillion geheimer Dokumente aus den Botschaften und dem Außenministerium der USA. „Inside Wikileaks“, ein Ende Oktober startender Thriller mit Daniel Brühl und Benedict Cumberbatch, basiert zum Teil auf der Vorlage der renommierten Guardian-Journalisten. Die setzten gestern Abend in der Buchhandlung Hundt Hammer Stein in Berlin Mitte zunächst ebenfalls auf Unterhaltung. Leigh erzählte eine Anekdote von seinem ersten Zusammentreffen mit Julian Assange, bei dem der berühmte Hacker erst bis tief in die Nacht gearbeitet habe und danach einfach im Anzug auf dem Fußboden eingeschlafen sei. Doch mit den amüsanten Anekdoten war Schluss, als WikiLeaks-Unterstützer Jacob Appelbaum aus den Zuhörerreihen heraus eine Diskussion über angebliches Fehlverhalten des Guardian anstachelte. Sie ließ erahnen, welch tiefer Riss heute die einstigen Kooperationspartner trennt. Eine amorphe Internet-Enthüllungsplattform kämpft gegen ein klassisches Medium – wobei es natürlich auch um die Deutungshoheit über das Bild Julian Assanges geht.
Wikileaks vs. Guardian: Alter Streit
Jacob Appelbaum ist Teil der Hackerszene, die ihr Elitenwissen einsetzen will, den Staaten weltweit Transparenz aufzuzwingen, allen voran seinem Heimatland USA. Appelbaum, der mehrfach dem Zugriff von Geheimdienstmitarbeitern ausgesetzt war, arbeitete für WikiLeaks und hat Kontakt zu Whistleblower Edward Snowden. Seine gestern vorgebrachte Kritik am Guardian steht in Verbindung mit beidem.
Einer der Vorwürfe ist bereits älter und berührt den Streit zwischen WikiLeaks und dem Guardian:
Leigh hat in der englischen Originalfassung seiner Monographie über die Enthüllungsplattform ein Passwort veröffentlicht, das Zugang ermöglichte zu über 250.000 redaktionell nicht bearbeiteten Telegrammen des US-Außenministeriums. Weltweit seien Informanten durch den Leak in Gefahr geraten, einige tatsächlich bedroht worden – ob das aufgrund des öffentlich gewordenen Passwortes geschah, ist umstritten. Auf den Vorfall angesprochen, verteidigte sich Leigh gestern erneut damit, dass ihm Assange zugesichert habe, das Passwort zu ändern. Bereits im September 2011 hatte der Guardian zudem erklärt, WikiLeaks habe bei Erscheinen des Buches keine Sicherheitsbedenken geäußert.
Snowden und die Folgen
Ein anderer Vorwurf ist aktueller, er betrifft den Fall „Snowden“. Appelbaum monierte, dass der Guardian Snowden keinen ausreichenden Quellenschutz geboten habe. Leighs Kollege Harding betonte daraufhin die komplizierte rechtliche Situation – und den Fakt, dass seine Zeitung sich immerhin mit einer engagierten Berichterstattung über die Geheimdienstüberwachung verdient gemacht habe.
Die Behauptung Appelbaums, dass der Guardian seinen derzeit wohl bekanntesten Mitarbeiter – den Whistleblower-Kontaktmann Glenn Greenwald – nicht ausreichend gegen staatliche Repression abschirme, fand Leigh schlicht „verrückt“.
Eine weitere Anschuldigung seitens Appelbaums: Der Guardian halte belastendes Material in der andauernden NSA-Affäre zurück, z. B. eine Liste aller Agenten des britischen Geheimdienstes, die im großen Stil Menschenrechte verletzten. Dieser Kritikpunkt trifft einen sensiblen Bereich, das Spannungsfeld zwischen Staat und Presse. Bekanntlich hatte der britische Nachrichtendienst GCHQ einige Guardian-Mitarbeiter im August dazu gezwungen, Festplatten zu zerstören, auf denen die von Snowden übermittelten Dokumente gelagert waren. Wohl auch deswegen verwies Harding – neben der Tatsache, dass eine Veröffentlichung der Liste Menschenleben gefährden würde – auf die strengen britischen Gesetze, die den Guardian fesseln würden.
Die unerwartete Diskussion im Buchladen hat erneut gezeigt, dass die Gräben beim Thema „Leak“ längst nicht mehr nur zwischen Enthüllern und Staaten verlaufen. Mit WikiLeaks und dem Guardian kämpfen zwei in den Zielen verbundene, aber organisatorisch völlig unterschiedliche Wächter gegeneinander – jeder auch für seine eigene Reputation. Den Geheimdiensten dürfte das gefallen.