Nach dem vorzeitigen Ende der Amtszeit von Christian Wulff geben sich derzeit viele Bewohner der „Berliner Republik“ erleichtert und fühlen sich in ihren – meist jedoch nie offen ausgesprochenen – Rücktrittsforderungen bestätigt. Doch schon der Beginn der Kandidatensuche zeigt, dass nach der monatelang schwelenden „Affäre Wulff“ nun ein nahtloser Übergang in eine Phase der Unsicherheit stattgefunden hat. Die Parteien vergeben bei der Nominierung von Joachim Gauck als zukünftigen Bundespräsidenten die Chance auf ein transparentes Vorgehen.
Die bekannten Akteure des politischen Berlins führen dabei Routinen und Rituale auf: Statements vor Mikro und Kamera (Merkel, Rösler, Ernst), Beratungen im kleinen Kreis (Merkel, Rösler, Seehofer), gemeinsame Stellungnahmen (Gabriel, Künast, Özdemir, Steinmeier). Auch wenn stets der Wunsch nach „Konsenskandidaten“ geäußert wird und man „gemeinsam“ auf die Suche gehen möchte, zeigen die ersten Aktivitäten doch vor allem, dass nach wie vor die Spannungen und Bruchpunkte des Parteienwettbewerbs die wichtigsten Variablen bei der Kandidatenauswahl sind. Die Regierungsparteien pochen auf ihr Vorschlagsrecht (und ihre noch gerade so intakte Mehrheit in der Bundesversammlung), sie deuten bestenfalls „Gesprächsbereitschaft“ an.
Die Oppositionsparteien schließen die Schultern und verweisen damit wenig subtil auf eine alternative Machtkonstellation (leidlich gestützt von der Sonntagsfragen-Demokratie). Die Linkspartei bleibt isoliert. Bislang nicht eingerechnet ist die schleichende Rochade zwischen Liberalen und Piraten – die Suche nach dem Bundespräsidenten könnte für eine ganze Weile die letzte größere Entscheidung sein, an der die FDP beteiligt ist, während die Piratenpartei aufgrund ihrer nur außerparlamentarisch (also: virtuell) starken Stellung überhaupt nicht in den Diskussionsprozess eingebunden ist. Doch nicht allein die etwas seltsame „Entscheidungskonstellation“ wird den Auswahlprozess erschweren, vor allem leisten dies die während des zähen, von Christian Wulff selbst entschleunigten Auszugs aus Bellevue formulierten Ansprüche an Deutschlands nächstes Staatsoberhaupt. Gerade die in der Wulff-Affäre zu Tage getretenen Beziehungsnetzwerke zwischen Politik und Wirtschaft, aber auch in Richtung der Medien und der sogenannten „Society“ werden ein wesentliches Kriterium für künftige Kandidatinnen und Kandidaten sein – gibt es private Bekanntschaften, Geschäftsbeziehungen oder anderweitige Verflechtungen, die möglicherweise gegen eine Nominierung sprechen? Wie verliefen bisherige Karrierewege, handelt es sich um einen „Polit-Profi“ oder eine „Quereinsteigerin“?
Und wo finden sich überhaupt derart „unbefleckte“ Anwärter auf ein Amt, das nicht durch das individuelle Fehlverhalten des letzten Amtsinhabers, wohl aber durch die bisweilen kurzsichtige und zügellose öffentliche Debatte darüber Schaden genommen hat? Es ist kein Zufall, dass Vertreter aus politikfernen Bereichen als aussichtsreiche Wahl gelten – doch über die Folgen einer solchen Wahl wird bisher noch kaum nachgedacht. Kurzum: der Auswahlprozess kreist zu stark um die Grundkonstellation im politischen System, die in der Theorie formulierte „Enthebung aus dem Parteienwettbewerb“ ist in der Praxis kaum zu realisieren. Die zentralen Akteure kündigen zwar Umdenken und Kooperation an, handeln aber (noch) nicht so.
Einen Ausweg liefern könnte der gelegentlich fast vergessene Kern der Wulff-Affäre mit den Anschuldigungen um „Vorteilsnahme bzw. Vorteilsgewährung“. Hier liegt der zentrale Ansatzpunkt für ein Generalthema der nächsten Amtszeit. Noch im Fernsehinterview zu Jahresbeginn hatte Wulff angekündigt, die „Transparenz weitertreiben“ zu wollen und „wenn es das in Zukunft immer gibt, wird es auch unsere Republik offenkundig auch zu mehr Transparenz positiv verändern.“ Mit Blick auch auf andere Entwicklungen könnte Transparenz tatsächlich eine Art Leitmotiv für die Arbeit des nächsten Bundespräsidenten (oder der ersten Bundespräsidentin) sein. Die offene Auseinandersetzung mit den Problemen einer an vielen Stellen intransparenten Politik, die in der Bevölkerung für Unmut, Kritik und Entfremdung sorgt, ließe sich sehr gut mit den symbolischen Machtressourcen des Amtes verbinden. Zugleich ließen sich so die Schatten vertreiben, die die Wulff-Präsidentschaft nicht nur auf Bellevue, sondern die gesamte „Berliner Republik“ geworfen hat. Dazu zählt auch die enge Beziehung zu den Hauptstadtmedien, die im Laufe der Affäre längst nicht immer ihrer Funktion als demokratische Kontrollinstanz nachgekommen sind.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Deutschlands nächstem Staatsoberhaupt etwas anders – im Mittelpunkt stünde dann nicht mehr die persönliche Eignung relativ zu den Koordinaten des politischen Bezugssystems, sondern die Fähigkeit, Transparenz als neues politisches Leitthema zu markieren, inhaltliche Impulse zu entwickeln und einer breiten Öffentlichkeit ebenso zu vermitteln wie den Akteuren im politischen Wettbewerb selbst. Klar ist dabei allerdings auch: Das ist nicht möglich mit Radikalpositionen, wie sie etwa im Umfeld der Piratenpartei vertreten werden – vielmehr geht es um die Vermessung und Verortung von Transparenz im Rahmen vorhandener demokratischer Strukturen, Prozesse und Normen.
Ironischer Weise wäre Christian Wulff jemand, der sich dieser Aufgabe hätte stellen können – nicht mehr in der unsäglichen Spätphase seiner Aussitz-Kampagne, wohl aber unmittelbar zu Jahresbeginn. Eine deutliche Positionierung als „Transparenzakteur“ hätte seine Amtszeit vielleicht retten können, Wulff hat diese Chance mit einer Mischung aus Arroganz und falscher Souveränität verstreichen lassen. Nun ist er weg, das Thema aber bleibt. Die Leitfrage für die Kandidatenwahl sollte daher lauten: Wer kann Transparenz?
UPDATE vom 20.2.2012:
Das ging schnell – seit dem späten Sonntag Abend steht Joachim Gauck als Allparteien-Kandidat für die Bundesversammlung fest. Doch zwischen “Gauck I” und “Gauck II” bestehen große Unterschiede – den Nimbus des “Bürgerpräsidenten”, mit dem Gauck in die 2010er Wahl gezogen war, hat er eingebüßt. Nicht so sehr aufgrund der öffentlichen Sprecherrolle als “informeller Gegenpräsident”, die ihm nach dem Scheitern im dritten Wahlgang zugewiesen wurde, sondern vielmehr aufgrund der geschlossenen Nominierung durch (fast) alle Bundestagsparteien. Damit ist Joachim Gauck nun zu einem Kandidaten des Establishments geworden – so sieht also ein “Befreiungsschlag” aus, der nach dem doppelten Scheitern der Kandidaten Köhler und Wulff frischen Wind nach Bellevue bringen soll? Die Person Gauck wird diesen Anspruch vermutlich erfüllen können, doch tut er dies nicht mehr als “externer” Kandidat, der dem Parteienwettbewerb enthoben ist. Wie sollte er auch – aus dem rot-grünen Lagerkandidaten von 2010 ist nun ein schwarz-gelb-rot-grüner Superlagerkandidat geworden.
Bereits einen Tag nach der Nominierung kündigt sich gar nicht so zaghafte Kritik an – vor allem in diesem widerborstigen Internet. Das ist alles andere als verwunderlich, und man muss gar nicht mal das kontinuierlich erstarkende “virtuelle Lager” rund um die Piratenpartei dafür verantwortlich machen. Die Intransparenz des abgekapselten Selektionsverfahrens der Standardakteure der Berliner Republik tut ein übriges, um den Gegenwind im Netz zu entfachen. Ganz nach dem Muster der ACTA-Proteste oder auch der unsäglichen Diskussion um den Staatstrojaner oder dem weitgehend ignoranten Umgang mit den Occupy-Aktivitäten sorgt die Abkopplung der Altparteienpolitik für Unmut bei jenen, die in den letzten Monaten eine Ahnung davon bekommen haben, dass sich in der Politik vielleicht doch etwas ändern könnte. Und so dürfte dem Kandidaten Gauck, aber auch der hinter ihm stehenden übergroßen Koalition, bis zur Bundesversammlung am 18. März eine nicht unspannende Diskussion zu dieser übereiligen Nominierung ins Haus stehen.
Es ist nicht nur schade, es ist bedenklich, dass diese so wichtige Debatte um die künftige Positionierung und die Funktionen des Bundespräsidentenamtes erst “post festum” beginnt. Es hätte den Bewohnern der “Berliner Republik” gut zu Gesicht gestanden, wenn dies vor der Festlegung auf einen Kandidaten (oder eine Kandidatin bzw. ein Thema) geschehen wäre.
Wenn dieser Tage immer wieder das hohe Lied der Transparenz gesungen wird, dann leider auch recht einseitig. Ja, Entscheidungswege müssen in einer Demokratie transparent sein. Die oft geforderte totale Transparenz ist jedoch ein Irrweg, denn sie ist das absolute Gegenheit von Vertraulichkeit. Für die Meinungsbildung ist Vertraulichkeit von Gesprächen aber unabdingbar. Ohne sie hat man nämlich sonst nach jedem Gespräch Verlierer, sobald einer durch Argumente beeinflusst seine Meinung ändert. Das Aufnehmen von Argumenten würde zur Schwäche. Nein, Transparenz ist kein Selbstzweck.
[…] “I don’t want to be a president in his country. Just too much workload.” ~ probably thinks J. Gauck Source: politik-digital.de […]