Die Open Data-Bewegung gewinnt immer mehr an Zuspruch und Einfluss. Doch sind frei zugängliche Daten heute tatsächlich schon offen für alle? politik-digital.de sprach mit einem der Vorreiter der Sozialinformatik-Bewegung Michael Gurstein über die wachsende „Datenkluft“ in der Bevölkerung und mögliche Gegenmaßnahmen.
Die Open Data-Bewegung steht für die freie Veröffentlichung von Daten durch beispielsweise Regierungen, Wissenschaft oder die Musik- und Filmindustrie. Insgesamt acht Attribute muss laut einer Arbeitsgruppe zu Offenen Regierungsdaten das Rohmaterial besitzen, um als wirklich frei zu gelten: 1. vollständig, 2. primär, 3. zeitlich nah, 4. zugänglich, 5. maschinenlesbar, 6. nicht-diskriminierend, 7. nicht-proprietär und 8. lizenzfrei soll es sein. Damit der Endnutzer auch mit diesen Daten arbeiten oder sie für sich nutzen kann, bedarf es dreier Schritte, so lautet zumindest die Theorie: Zunächst brauchen die Vermittler (z. B. Softwareentwickler) zwischen Nutzern und Daten Zugang zu den offenen Rohdaten, diese werden dann im zweiten Schritt analysiert beziehungsweise interpretiert, um sie im letzten Schritt in einer Anwendung zu präsentieren. Dies kann zum Beispiel mit Hilfe eines Anwendungsprogramms, einer sogenannten App für das Mobiltelefon oder auch mit Hilfe einer interaktiven Grafik geschehen. Doch reichen diese Maßnahmen aus, damit Daten frei zugänglich für alle Bürger sind?
Michael Gurstein auf der Open Knowledge Konferenz 2011 in Berlin
(Open Knowledge Foundation, CC-BY-SA)
Auf der Open Knowledge Konferenz 2011 in Berlin forderte einer der Vorreiter der Sozialinformatik-Bewegung Dr. Michael Gurstein dazu auf, sich darüber bewusst zu werden, wer die Nutzer solcher offenen Daten aktuell sind und wie man die Nutzer am besten erreichen kann.
Eines der wichtigsten Ziele der Open Data-Bewegung ist es, größere Transparenz und damit verbesserte Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Stellt man der guten Absicht aber Zahlen gegenüber, – laut Internetworldstats haben nur rund 30 Prozent der Weltbevölkerung Internetzugang – so lassen diese an den Möglichkeiten zweifeln. Auch haben viele Besitzer eines Internetzugangs noch immer nicht die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten, um die offenen Daten kompetent für die eigenen Zwecke nutzen zu können. Das durchschnittliche Lesbarkeits-Niveau von amerikanischen Regierungsseiten im Internet entspricht nach Angaben einer Studie der Brown University den Lesefähigkeiten eines Schülers der elften Klasse. Die Lesekompetenz eines durchschnittlichen Amerikaners ist jedoch nur auf dem Level der achten Klasse. Folglich bleiben vielen Bürgern, trotz hervorragender Open Government-Strategien der US-Regierung, wichtige Inhalte verschlossen.
Im Gespräch mit politik-digital.de warnte Michael Gurstein, Autor von „Community Informatics“ („Sozialinformatik“), davor, dass Open Data zum jetzigen Zeitpunkt in erster Linie lediglich denjenigen nütze, die bereits über Wissen und Macht verfügen. So dienten offene Daten „nur denen, die mit Daten umgehen können, die schon gut vernetzt sind und die bereits heute in einer Position sind, umfassenden Nutzen aus diesen Informationen zu ziehen“. Er sei ein starker Befürworter der Open Data-Bewegung, jedoch müsse man über den Tellerrand hinaus schauen. Es reiche nicht aus, die nötigen technischen und gesetzlichen Innovationen voranzutreiben. Als Beispiel hierfür nennt er auf seinem Blog den Fall von Grundbesitzern im indischen Bangalore. In Indien besteht ein Gesetz über das „Recht auf Information“. In diesem Rahmen wurden in den vergangenen Jahren umfassende Grundstücksdaten veröffentlicht, mit deren Hilfe einflussreiche Akteure auf dem Grundstücksmarkt sich das Land vieler ärmerer Bürger aneignen konnten. Die großen Firmen hatten die Mittel und das Wissen, um die Daten zu ihren Gunsten zu nutzen, während die unteren Bevölkerungsschichten keine Möglichkeiten besaßen, von den neu gewonnen Informationen zu erfahren geschweige denn Gebrauch davon zu machen. So können Open Data zum Verhängnis für jene Bürger werden, denen eigentlich mit der größeren Transparenz geholfen werden sollte.
Um dieser „Datenkluft“ entgegenzuwirken, schlägt Michael Gurstein vor, zehn Prozent des für Open Data-Projekte veranschlagten Budgets dafür zu verwenden, offene Daten einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen.
Hierfür hat er eine sieben Punkte umfassende Check-Liste aufgestellt. Als erstes müsse die für den Gebrauch von offenen Daten grundsätzliche Bedingung erfüllt werden, überhaupt über einen Internetzugang zu verfügen. Die zweite Voraussetzung beinhaltet den Zugang zu den benötigten technischen Geräten. Zum einen gäbe es viele Anwendungen, die nur auf Hightech-Geräten abrufbar seien. Diese können sich aber viele Menschen nicht leisten. Zum anderen müsse es für Menschen mit Behinderungen Zugang zu barrierefreien Geräteoptionen geben. Ebenfalls brauche man Zugang zu der richtigen Software. Diese muss auch ohne fundierte Technikkenntnisse zu benutzen sein. Des weiteren müsse der Inhalt der Seiten verständlich sein. Das bedeutet, dass die Texte sich in ihrer Lesbarkeit und Wortwahl an den kognitiven Fähigkeiten der durchschnittlichen Bevölkerung orientieren sollten. Auch müssten die Inhalte für die spezifischen Kontexte, in denen unterschiedliche Bürger sie brauchen, nutzbar sein. Eine weitere Voraussetzung, die nach Gurstein erfüllt werden muss, ist die Verfügbarkeit von Mittelsleuten. Das können Softwareentwickler sein, die Applikationen speziell für den Bürger gestalten, oder auch Aktivisten oder Organisationen, die Schulungen im Umgang mit Daten anbieten. Der letzte Punkt auf seiner Liste betrifft die angemessenen rechtlichen und finanziellen Richtlinien, die von den Regierungen geschaffen werden müssten, um die vorausgegangen Punkte zu gewährleisten und unterstützen zu können.
Gurstein will mit dieser Check-Liste an die Open Data-Aktivisten appelieren, den „effektiven Nutzen“ von Open Data durch eine möglichst breite Bevölkerungsschicht zu fördern. „Effektiver Nutzen“ bedeutet für Gurstein „die Möglichkeit, Nutzen aus den Dateninhalten auf eine Weise zu ziehen, dass sie sinnvoll brauchbar für Menschen in ihrem alltäglichen Leben sind“. Noch habe kein Staat diese Voraussetzungen vollständig umgesetzt, aber die Open Data-Bewegung stehe auch erst am Anfang und erste Organisationen und Initiativen würden sich bereits in die richtige Richtung bewegen, erklärt er. Ein Beispiel hierfür sei „Data Without Borders“. Die Organisation will Non-Profit Unternehmen bei der Analyse und Präsentation ihrer Daten helfen, um damit soziale, ökologische oder gesellschaftliche Probleme zu lösen. Denn durch die sorgfältige Interpretation von gesammelten Datensätzen kann es ermöglicht werden, neue Erkenntnisse zu ziehen, die wiederum dazu beitragen können, Konflikte zu lösen oder das eigene Wirtschaften zu verbessern. Solcher Aktivisten und Vermittler bedürfe es, die die nötigen Brücken zwischen Bürgern und Daten schlügen, betont Gurstein. Auch müssten die Softwareentwickler während des Programmierens an die Benutzer ihrer Produkte denken und sich die Frage stellen, ob sie mit ihrer technischen Umsetzung eine breite Bevölkerungsschicht erreichen können.
Nur durch all diese Vorstöße könne die wachsende „Datenkluft“ zwischen denen, die effektiven und wirtschaftlichen Nutzen aus Open Data ziehen können, und denen, die dazu nicht in der Lage sind, verkleinert werden. Nur so können Open Data tatsächlich offen sein.
Ich würde hinzufügen, dass wir in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien, die wir uns mit (offenen oder nicht offenen) Daten beschäftigen, zeigen, welche alltäglichen Fragen man an solche Regierungsdaten stellen kann und dann helfen, dass diejenigen, die Fragen haben, darauf auch Antworten bekommen.
Anders gesagt: Nicht alle offenen Daten werde für alle einfach zugänglich machbar sein (und umso mehr Datenbanken offen sind, desto komplexer wird deren Geflecht werden), aber diejenigen, die sich Zugang verschaffen könen, müssen Vermittler werden.