Der Bundestagswahlkampf zwingt die Politiker mit
der der Frage zu beschäftigen: Wie bringt man
seine Partei ans Wahlvolk oder der lange Gang
ins Internet.
Selbst wenn Helmut Kohl persönlich am 18. September
zwischen 12 und 14 Uhr in einer Online-Diskussion auf
der Web-Site der CDU auf die
Internet-Gemeinde niederkommt, oder die SPD eine
digitale Roadshow auf ihrer Site
veranstaltet und zahlreiche Spitzenpolitiker auf den
Web-Sites der Parteien rede und antwort stehen,
können derlei Events nicht verhehlen, daß der
diesjährige Wahlkampf im Internet kaum stattgefunden
hat. Daß das Medium die politische Kommunikation
begünstigen kann, haben die führenden Parteien
dennoch klar erkannt – zumindest verbal messen sie
ihm große Bedeutung bei. Ohne Internet geht im
Wahlkampf nichts mehr, lassen sich doch Reden,
Protokolle und Gesetzesvorlagen oder auch pure
Polemik ohne Kommentar oder Selektion seitens der
Journalisten direkt an den Bürger bringen. "Im Internet
können wir dem Besucher Ziele und Aktivitäten der
FDP auf direktem Wege zugänglich machen",
formuliert Caroline Rudolph, Wahlkampfreferentin des
Bundesgeschäftsführers Hans-Jürgen Beerfeltz, die
Intention des Auftritts. Obendrein erhofft man sich, aus
der informierten und gebildeten Zielgruppe eine neue
Stammwählerschaft zu etablieren. "Wir rechnen damit,
daß im Wahlkampf von den 60,5 Millionen Wählern
rund 10 Prozent online sein werden und zwar durch alle
Altersgruppen", mutmaßt Anna Siebenborn von der
SPD-Internet-Redaktion und bestätigt damit eine Studie
der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). "Das
kann man nicht vernachlässigen." Zudem begreifen die
Parteien das Internet als Instrument, mit dem man
schnell und schlagkräftig reagieren kann. Susanne
Land, Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der
CDU und zuständig für den Internet-Auftritt, betont den
regen Kontakt zum Wähler. "Schon bei der letzten
Bundestagswahl haben wir mehr Post über BTX-Online
als über die gelbe Post bekommen. Die CDU schätzt
das Internet als wichtiges kommunikatives Medium."
Die Strategen und Pressesprecher der Parteien
messen der schnellen und effizienten Kommunikation
im Wahlkampf daher außerordentliches Gewicht bei.
Laut CDU sei die zentrale Herausforderung in diesem
Bundestagswahlkampf die Fähigkeit, "über Nacht auf
Ereignisse reagieren zu können und die
Gegenargumentation aufzubauen". Und die SPD ließ
verlauten: "Die Wahlkampfkommunikation wird
schneller, und darauf muß man mit allen Mitteln der
modernen Kommunikation reagieren". Doch liegt
zwischen Erkenntnis und Umsetzung bekanntlich ein
langer, steiniger Weg. Zwar prangt unter beinahe jeder
Politikerbiographie inzwischen eine E-Mail-Adresse,
mit dem professionellen Feedback-Handling sind
Abgeordnete und Mitarbeiter jedoch meist überfordert.
Uly Foerster dazu in seinem Artikel "Der Rest ist
Schweigen" in Spiegel Online: "Die Behauptung der
Parteien, die Spitzenpolitiker seien direkt per E-Mail
erreichbar, erweist sich als Wahlschwindel (!) Digitale
Demokratie ist in Deutschland eine Fassade." Der
Internet-Verantwortliche der FDP schlägt denn auch die
Hände über dem Kopf zusammen, wenn er in Konr@d
lesen muß, daß Guido Westerwelle
zwölf Tage gebraucht
hat, um ein E-Mail zu beantworten. Generell messen
Politiker dem Internet immer noch eine nur ergänzende
und die politische Kommunikation beschleunigende
Komponente bei. Aufbau und Nutzen der
Parteiangebote lassen vermuten, daß Politiker wie
Parteien die Möglichkeiten des Internets –
insbesondere was den Dialog mit dem Wähler betrifft –
nicht ausschöpfen, sondern das Medium vorrangig als
Verkündigungsorgan begreifen. Statt einem Mehr an
Transparenz und Bürgerbeteiligung ist ein Imagegewinn
häufig die zentrale Motivation für die Internet-Präsenz.
"Mit Internet und www.spd.de, www.cdu.de
www.fdp.de, www.gruene.de glauben die Parteien, eine
Universalbescheinigung für Modernität und
Jugendfrische, Progressivität und Weltoffenheit zu
besitzen", stellt Uly Foerster in seinem Artikel "Der
tägliche Müntefering" in Spiegel-Online
(www.spiegel.de) trocken fest.
Über eine Internet-Präsenz verfügen der Deutsche
Bundestag, politische Parteien und Politiker seit rund
drei Jahren und blicken damit auf eine Fülle von
Praxiserfahrungen zurück. "Zeit genug, die
Einschätzungen in einem umfassenden "Realitycheck"
systematisch zu erfassen", meint Phlipp Stradtmann,
Diplomant der Medienwissenschaften im Institut für
Journalistik und Kommunikationsforschung an der
Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Im
August veröffentlichte er die empirische Studie
"Deutschland auf dem Weg in die elektronische
Demokratie? Das Internet als neues Medium der
politischen Kommunikation und Partizipation".
Stradtmann legte seiner Studie eine systematische
Bestandsaufnahme der Internet-Angebote von
Bundesparteien, Fraktionen, einzelnen Abgeordneten
und des Virtuellen Ortsvereins der SPD
zugrunde, zu der er in rund 60
Experteninterviews Internet-Macher aus dem
Bundestag und den Bundesparteien über ihre
Erfahrungen und Einschätzungen befragte. Die
Aussagen der Gesprächspartner faßte Stradtmann in
sieben Themenbereichen zusammen: "Organisation
und Internet-Kompetenz der Akteure", "Qualititäten des
Mediums Internet für die politische Arbeit",
"Entwicklung und Schwerpunkt der Internet-Angebote",
"Zielgruppen und Resonanz", "Wahlkampf im Internet",
"Konsequenzen und Herausforderungen für Politik und
Gesellschaft" sowie "Chancen einer elektronischen
Demokratie". Aus der Studie geht klar hervor, daß die
Parteizentralen und der Deutsche Bundestag zwar die
Notwendigkeit eines professionellen Auftritts erkannt
haben, aber die Internet-Kompetenz der meisten
Akteure selten über die Bedienung des E-Mails
hinausgeht. Partei, Fraktion und Web-Abgeordnete
sind untereinander nicht genug vernetzt, tauschen ihre
Erfahrung nicht aus und investieren unnötig viel Zeit in
die Erarbeitung von Know-how, das in der Partei
andernorts schon lange verfügbar ist. Es hapert an der
internen Organisation, und Gelder für Software sowie
zur Betreuung und Wartung müssen die Abgeordneten
über ihre Aufwandspauschale bestreiten – da bessern
sie lieber das Gehalt der langjährigen Sekretärin auf.
Die Web-Auftritte werden von Parteien und
Abgeordneten nicht in professionelle Hände
abgegeben, sondern zumeist nebenbei von der
Abteilung Öffentlichkeitsarbeit entwickelt und betreut.
Außer der SPD, für deren Auftritt Wysiwyg
(www.wysiwyg.de) verantwortlich zeichnet, hat keine
Partei eine professionelle Agentur bemüht.
Ambitionierte Mitarbeiter scheitern an der Unkenntnis
der Parteiverantwortlichen, die, von Schwellenangst
geplagt, den Weg in die neuen Medien nur sehr
zögerlich wagen. Wie Desperados kämpfen sich eine
Handvoll engagierter Web-Abgeordnter durch den
Apparat auf der Suche nach direktem Kontakt zum
Wähler.
Von mediengerechter Umsetzung ihres Online-Auftritts
sind die Parteien noch weit entfernt. Keiner Partei
scheint es trotz Diskussionsforen mit Spitzenpolitikern
und Chat-Bereichen gelungen zu sein, eine echte
Community aufzubauen. Zwar haben alle Parteien
außer der CSU inzwischen Diskussionsforen
eingerichtet, die die Kommunikation der User
untereinander fördern sollen, doch die Foren werden
zensiert, unliebsame Wortbeiträge entfernt – darauf
reagieren Bewohner des Cyberspaces allergisch.
Vernichtende Kritik ernteten die Parteiauftritte dann
auch von Web-Profi Paulus Neef, Geschäftsführer der
Online-Agentur Pixelpark und Präsident des Deutschen
Multimedia Verbandes (DMMV) im Lifestyle-Magazin
Konr@d: Brav und zurückhaltend seien die Web-Sites
der deutschen Parteien im Vergleich zu dem, was die
Politik in den USA, Großbritannien oder Japan biete.
Im Ausland treffe man viel öfter auf einen spielerischen
Umgang mit Grafiken, Buttons und Backgrounds. Der
Auftritt der SPD habe den "Charme einer Plakatwand",
die CDU "funktioniert, läßt aber kalt" und das Angebot
der FDP mit winzig kleiner Schrift sei "grauenhaft".
Ausgerechnet die in Bonn so verfemte PDS biete nach
Ansicht von Neef die sympathischste Site. Ein hartes
Urteil, das sich die Strategen der SPD offensichtlich zu
Herzen nahmen. Diese hat mangelnde
Interaktionsmöglichkeiten inzwischen erkannt und
unterzieht die Site nun einer regelmäßigen
Renovierung.
Während die Parteien sich redlich um Zulauf bemühen,
schlug das kommerziell ausgerichtete pluralistische
Forum Wahlkampf 98 (http://www.wahlkampf98.de) ein
wie eine Bombe; nicht zuletzt, weil die Initiatoren Lars
Hinrichs und Peer-Arne Böttcher sowie die ausführende
Hamburger Agentur Netwhere (www.netwhere.de)
wichtige strategische Kooperationen mit ECRC
München (http://www.ecrc.de), Excite Deutschland
(http://www.excite.de) und Silicon Graphics
(http://www.sgi.de) unterhalten und das Angebot
ständig aktualisieren. Rund 40 000 Pageviews pro Tag
verzeichnet das Angebot, das sich ausschließlich über
Bannerwerbung finanziert. Am 1. Februar gingen die
Betreiber mit dem Angebot ins Netz. Geplant war
damals, das Forum über Beiträge von Parteien zu
finanzieren und im Gegenzug Chats zu moderieren und
Seiten zur Selbstdarstellung zur Verfügung zu stellen.
Trotz anfänglicher Begeisterung konnten sich die
Parteien letztendlich nicht für das Konzept erwärmen –
die geplante Zusammenarbeit platzte. Das Forum lebt
von redaktionellen Medienkooperationen mit namhaften
Magazinen und Tageszeitungen wie "Der Spiegel", "Die
Zeit", "Die Woche", "Berliner Zeitung", "Neue Züricher
Zeitung," "Die Tageszeitung", "Süddeutsche Zeitung"
und vielen anderen, die das Forum mit ausgewählten
Inhalten zum Thema versorgen. Momentan sind auf der
Site rund 5000 Artikel einzusehen, die das
Wahlkampf-98-Team über ein von der Agentur Lava
(http://www.lava.de) produziertes Redaktionssystem
einpflegt. Alle Artikel sind über eine Volltextsuche
leicht recherchierbar. Um die Community zu etablieren
und bei der Stange zu halten, finden seit Mitte März
allabendlich moderierte Chats – teils mit prominenten
Politikern – zu wechselnden Themen statt. Aktuelle
Meinungsumfragen sowie die berühmte
"Sonntagsfrage": Wen würden Sie wählen, wenn
nächsten Sonntag Wahl wäre? geben ein Meinungsbild
der Internet-Gemeinde – teilweise mit skurrilen
Ergebnissen. Die Juli-Umfrage ergab: SPD 20 Prozent,
CDU/CSU 14,7 Prozent, B90/Die Grünen 13,5 Prozent,
APPD 10,7 Prozent, FDP 9,9 Prozent, NPD 8 Prozent
und PDS 6,7 Prozent. Als Gegengewicht zur
Online-Umfrage veröffentlicht das
Meinungsforschungsinstitut Infratest-Dimap seine
Zahlen unter der Adresse http://www.infratest.de/indi/.
Aktuelle Prognosen sind der Der Web-Site
http://www.wahlkampf98.de/news/prognosen/ zu
entnehmen. Neben informativen Komponenten kommt
auf der Site auch der Spaß nicht zu kurz. Die Betreiber
installierten unzählige Links zu Persiflagen und
Cartoons im Netz und entwickelten mit dem von Hanno
Müller (hanno@lava.de) programmierten
"Phrasendrescher"
(http://www.wahlkampf98.de/fun/phrasendrescher/) ein
nützliches Tool für Dampfplauderer, das auf Wunsch
eine eloquente Wahlkampfrede vollautomatisch
zusammenstellt; lediglich politische Gewichtung,
Textlänge und stilistischer Anspruch sind vorher zu
bestimmen. Neben Wahlkamp 98 etablierten sich eine
ganze Reihe von Foren und unterhaltsamen
Treffpunkten, deren URLs einer Link-Liste im
Screen-Online-Angebot
(http://www.screen-multimedia.de) zu entnehmen sind.
Am bemerkenswertesten erscheint hier Wahlstreet
(http://www.wahlstreet.de), eine Initiative, die "Die Zeit"
und der "Berliner Tagesspiegel" gemeinsam mit der
Universität Wien betreibt. Seit Anfang April handeln die
Betreiber an der Politikbörse Bundespartei-Aktien, die
bereits für eine Mark zu haben sind. Gewinne werden
nach der Wahl den Anteilen entsprechend ausgezahlt.
Ähnliche Angebote in den USA haben gezeigt, daß der
Kursverlauf an der Wahlbörse viel präzisere Prognosen
über Meinungsschwankungen erlaubt, als die
Statistiken der Meinungsforschungsinstitute.
Erst zur Bundestagswahl 2002 ist mit einem
Wahlkampf im Internet zu rechnen. Das bestätigt auch
der Internet-Verantwortliche einer Bundespartei
(Welche Partei?): "Obwohl alle Parteien das Internet
als so wichtig einschätzen, sind wir 1998 sicherlich
noch ganz weit davon entfernt, so etwas wie einen
Internet-Wahlkampf zu haben. Wir werden uns zwar
alle kleine, virtuelle Kissenschlachten liefern und uns
freuen, wenn wir mal mit unserer Web-Site schneller
auf ein Ereignis reagieren als die anderen. Aber ich
denke, das alles ist nur eine Spielwiese für das, was
erst 2002 kommt." Sechs Millionen informierte
wahlberechtigte User scheinen Politikern und Parteien
keine adäquat große Gruppe, um den Topf für
klassische Wahlkampfmittel zu belasten – lieber
zockeln Politiker von Kaff zu Kaff und schwingen vor
kleinen Gruppen ihre Reden. Aber es besteht Hoffnung:
Bis zum Jahr 2002 hat sich der Bundestag sicher um
ein gutes Stück verjüngt. Die älteren Abgeordneten
können teilweise noch nicht einmal mit dem PC
umgehen und haben die Möglichkeiten des Mediums
noch gar nicht begriffen. Auch die technische
Infrastruktur der Bevölkerung und der Parlamentarier
sowie die Vernetzung der Abgeordneten wird sich bis
dahin wesentlich verbessert haben. Schon im
Dezember 1997 hat der Ältestenrat beschlossen, das
Internet-Angebot als Teil der Amtsausstattung zu
ermöglichen, und dafür im Januar 98 eine
Standardlösung zur Gestaltung von Homepages auf
zwei Disketten mit einem Handbuch an jeden der 672
Parlamentarier verschickt. Bleibt zu hoffen, daß sich
bis dahin eine Schlüsselperson – wie Al Gore in den
USA – aufrafft, eine Bresche für neue Medien zu
schlagen. Falls sich die Wählerschaft am 27.
September für eine SPD-Regierung entscheidet, ruhen
diesbezüglich alle Erwartungen auf Jost Stollmann
(http://www.jost-stollmann.de).