Das Internet spielte für den knappen Wahlausgang in Italien eine entscheidendere Rolle als bisher angenommen. Die Foren einiger Zeitungen wurden zu Stimungsbarometern, die beiden politischen Lagern eine Plattform boten. Die Beteiligung an zahlreichen Blogs und über das Internet organisierte Aktionen zeigen, wie sehr die Italiener es verstanden, das Potenzial des Webs zu nutzen.

Das Internet spielte für den knappen Wahlausgang in Italien eine entscheidendere Rolle als bisher angenommen. Die Foren einiger Zeitungen wurden zu Stimungsbarometern, die beiden politischen Lagern eine Plattform boten. Die Beteiligung an zahlreichen Blogs und über das Internet organisierte Aktionen zeigen, wie sehr die Italiener es verstanden, das Potenzial des Webs zu nutzen.

Der äußerst knappe Sieg der Opposition und die Anschuldigungen des noch amtierenden Ministerpräsidenten Berlusconi wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der bei der Stimmenzählung bzw. Wahlbetrugs waren der „würdige“ Abschluss eines Wahlkampfes, der von
negative campaigning und von der Person Berlusconis beherrscht wurde. Wenige Politiker haben sich im Wahlkampf des Internets professionell bedient, die größeren Parteien haben jedoch neben ihren
Websites zusätzliche Online-Angebote geschaltet. Insgesamt

Berlusconi-Plakat: "Ich hole mir meine Haare zurück"
hat das Web im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2001 eine bedeutendere Rolle gespielt. Beispiele dafür sind die Onlineangebote der zwei wichtigsten Tageszeitungen Italiens
“Corriere della Sera” und
“La Repubblica”. Beide Zeitungen haben zwar Romano Prodis Mitte-Links Bündnis offen unterstützt, für den bürgerlichen „Corriere della Sera“ keine Selbstverständlichkeit, gleichzeitig mit ihren Foren parteienunabhängige Diskussionsplattformen angeboten.


Das Forum
“Italians”, das seit Jahren auf der Website der „Corriere della Sera“ betrieben wird, wurde während des Wahlkampfes zum wichtigen Stimmungsbarometer. Dem „spiritus rector“ von „Italians“, dem Publizisten Beppe Servegnini, ist eine Mischung zwischen moderiertem Forum und Blog gelungen, in dem er täglich (nebst einem kurzen Kommentar) 12 Leserbeiträge (von den bis zu 400, die jeden Tag das Forum erreichen) zu unterschiedlichen Themen veröffentlicht und oft beantwortet. Von Anfang März bis Mitte April verdrängte die Politik die anderen Themen in dem Forum. Befürworter beider Lager – viele aus dem Ausland – konnten hier ihre Meinungen artikulieren und die anderer Leser kommentieren. Obwohl auch hier fast nur mit heftiger Kritik am politischen Gegner argumentiert wurde, blieb dieses Forum dank der Moderation Severgninis quasi als virtuelle Insel des „Fair Play“ frei von gegenseitigen Beschimpfungen. Bei „Italians“ war die Berlusconi-kritische Einstellung der im Ausland lebenden Italiener schon früh zu bemerken. Ein Faktor, der die Wahl mitentschieden haben könnte.

Web-Satire gegen negative campaigning


Prodi-Plakat: "Ich in der Regierung? Nie!"
Bereits Anfang März hatte die Internet-Redaktion der „La Repubblica“ die Leser dazu aufgefordert, Bilder zu „ihrem Wahlkampf“ zuzusenden. Die riesigen Wahlplakate, die die Strassen Italiens sechs Wochen lang beherrscht haben, sind schnell zur Zielscheibe der Websurfer geworden, die die Chance dazu genutzt haben, politische Satire zu betreiben.
“La Repubblica” veröffentlichte mehrere Hundert Fotos mit Wahlplakaten, die an wenig passenden Stellen (Klohäuschen oder Mülltonen) oder zufällig neben gewöhnlichen Werbeplakaten hingen, so dass deren politische Botschaft sich ins Gegenteil kehrte. Der Renner waren Bilder von Plakaten, die durch Graffiti modifiziert oder am PC retuschiert wurden. Es waren ein Plakat von Prodi zu sehen, der mit ausgestreckter Hand und beruhigender Mine sagt: „Keine Sorge, regieren w

Berlusconi-Plakat: Dich haben sie noch nicht gefasst
erde ich nie“ sowie eins der vielen Riesenplakate von Berlusconi, der zufrieden ankündigt: „Dank unserer Regierung haben wir Polizisten in jedem Stadtviertel“, wobei eine anonyme Hand darunter schrieb: „dich aber haben sie noch nicht gefasst!“. Die getürkten Wahlplakate wurden munter heruntergeladen und versandt, quasi als Antwort auf die offiziellen Plakate, die auf den Parteienwebsites als Download zur Verfügung standen und als Reaktion der Bürger auf dem an positiven Inhalten armen Wahlkampf.

Wählermobilisierung mit Blogs und „smart mobs“

Das Potential des Webs für einen Wahlkampf zeigte sich am eindrucksvollsten am 4. und 5. April. Den Anlass lieferte Ministerpräsident Berlusconi am 4. April durch seine – in der TV-Nachrichtensendung von 13 Uhr übertragene – Behauptung, in Italien gebe es bestimmt nicht so viele „Dummköpfe“, die gegen das eigene Portemonnaie also für die Mitte-Links Koalition stimmen würden. Dabei benutzte er das Wort „coglioni“, einen

Berlusconis unfreiwillige Werbung für Haarpflege
allgemein gebräuchlichen, deftigen Ausdruck für die männlichen Geschlechtsteile, der gleichzeitig „Dummkopf“ bedeutet. Eine solche öffentliche Wählerbeschimpfung hatte es noch nie gegeben und trotz oder vielmehr wegen der Beschwichtigungsversuche Berlusconis schlug die Empörung hohe Wellen. Diese schwappten rasch ins Web über. Einige Studenten eines von der Gesellschaft für Politikberatungsg
“Running” organisierten Masterstudiengangs in politischer Kommunikation richteten kurz vor 14 Uhr das Blog
sonouncoglione.splinder.com ein. Wenige Stunden später wurden bereits 66.000 Visits gezählt. Als seine Autoren, die sich „Mr. Pol“ nannten, das Blog am Mittag des 5. April schlossen, war diese Zahl auf 238.000 gestiegen (mit einem Spitzenwert von ca. 200 Zugriffe pro Sekunde). In 24 Stunden hatte das Blog 5.580 Einträgen gesammelt. Dabei handelte es sich fast nur um Surfer, die sich wütend, hämisch und fröhlich dazu bekannten, „coglioni“ also „Dummköpfe“ zu sein. Aus dieser virtuellen Bewegung wurde am selben Abend ein kleiner
“smart mob” bekennender „Dummköpfe“.Zwischen 19.00 und 20.00 Uhr trafen sich Hunderte auf den via Internet und Handy festgelegten Plätzen der größeren italienischen Städten, um sich mit Luftballons, Schildern und Trasparenten als „coglioni“ öffentlich zu bezeichnen. Die Fotos, die dabei geschossen wu

smart mob: "Ich bin ein Dummkopf"
rden, wanderten wiederum ins Netz und steigerten die Viralität der Aktion. Diese wurde am selben Abend von der Internetplattform
“kataweb” aufgegriffen, die der Verlagsgruppe der Tageszeitung „La Repubblica“ und des Nachrichtenmagazins
“L’Espresso” gehört. Hier wurde ein Foto-Blog eröffnet mit dem Titel „Coglione o Orgoglione?“ (Dummkopf oder Stolzkopf). Die Surfer wurden dazu eingeladen, sich als „coglioni“ zu outen, entsprechende Selbstportraits zu veröffentlichen. Um 21 Uhr hatte der Blog 12.000 Unterschriften gesammelt, um Berlusconi aufzufordern, sich öffentlich für die Beleidigung zu entschuldigen. Die Fotos, viele davon mit dem Logo des Blogs, einem Smiley mit der Aufschrift „Coglione? No, Orgoglione”, versehen sind auf
“kataweb” noch zu sehen.


Die Folgen dieser beiden sehr kurzlebigen Blogs sieht man mit einer einfachen Suche in den italienischsprachigen Web: bei google.it ergibt die Suche „blog + coglione“ ca. 718.000 Einträge.