Wer sich noch auskennt, ist zu bewundern. Seit Jahresbeginn werden wir fast täglich mit Umfragen konfrontiert und wissen weniger als jemals zuvor, wer Präsident der USA wird. Nationale Umfragen sind für die Kampagnedynamik wichtig, für Prognosen stellen sie aufgrund des Wahlsystems einen wertlosen Schönheitswettbewerb dar. Hinzu kommt der X-Faktor, dass eine Erhöhung der Wahlbeteiligung zu erwarten ist und erstmals registrierte Wähler eine Unbekannte darstellen, deren Wahlverhalten kaum vorhersagbar ist. Lässt sich selbst bei einer detaillierten Analyse der Daten nicht mehr sagen? Doch, aber mit gleichermaßen guten Argumenten für beide Seiten als Sieger.
Bush gewinnt, weil …
In der Schlussphase des Wahlkampfes entscheidet sich die Wahl im Kampf um Elektorenstimmen Staat für Staat. Eine Durchsicht der politischen Landkarte von roten Staaten (für Bush) und blauen Staaten (für Kerry) ergibt – siehe u.a.
http://www.realclearpolitics.com und
http://www.electoral-vote.com – gegenwärtig (Mitte Oktober) Vorteile für Bush. Kerry muss zwei der drei großen Schlüsselstaaten – Florida, Ohio und Pennsylvania – gewinnen. Das ist schwierig. Bush hingegen könnte eine mögliche Niederlage in Ohio theoretisch mit Siegen in Iowa, Missouri und Wisconsin ausgleichen. Als Überraschungen in der Wahlnacht sind Staatenverluste von Kerry wahrscheinlicher.
Aufgrund der momentanen Polarisierung in den USA wird unter den Unentschlossenen keine entscheidende Wählerwanderung zum Herausforderer einsetzen. Knapp ist ein relativer Begriff, für einen klaren Sieg unter den Elektoren genügen für Bush wenige Prozentpunkte. Bill Clinton und George Bush senior lagen in der Volkswahl 1992 bzw. 1988 fünf bis sieben Prozentpunkte voran und gewannen 80 und 70 Prozent der Elektorenstimmen.
Die Fernsehdebatten haben Kerry zurück ins Spiel gebracht, ohne seinen Erfolg vor allem im ersten TV-Duell wäre alles klar und Bush sein eigener Nachfolger. Im Unterschied zu 1980 – damals gewann Reagan in der einzigen Fernsehdebatte gegen Carter und eine Woche später die Wahl – gab es aber eine zweite und dritte Debatte sowie vor allem eine 20 Tage-Frist bis zum Wahltag. Kerry wird für einige Zeit den Debattenaufschwung in den Umfragen genießen, dann gleicht sich das aus.
Die USA sind außerdem ein ideologisch Mitte-rechts-orientiertes Land. In Umfragen bezeichnen sich mehr als 35 Prozent der Amerikaner als konservativ, bis zu 45 Prozent als gemäßigt und weniger als 10 Prozent als liberal. Kaum jemand aus der erstgenannten Gruppe stimmt für Kerry, der – obwohl von der Bush-Kampagne erfolgreich als Liberaler diskreditiert – in der gemäßigten Mitte eine unwahrscheinlich große Mehrheit erreichen müsste. Bush kann die Terrorängste als Motiv für gemäßigte Wähler nutzen, die 2000 nicht für ihn gestimmt haben.
Ein Charakteristikum des Wahlkampfs 2004 ist, dass – im Unterschied zu Präsidentschaftswahlen bis 2000 und mit Vorteilen für George Bush – nicht die persönliche Integrität und Moral der Kandidaten im Mittelpunkt stand, sondern Führungskompetenz und starke Überzeugungen. Kerry ist Opfer der republikanischen Flip-Flop-Kampagne, demzufolge er angeblich laufend seine Meinung ändert.
Ungeachtet seiner Eloquenz und intellektueller Vorteile für Kerry wirkt er steif und unnahbar. Bush schafft es, sich als leidenschaftlicher Konservativer – nach dem Konzept des compassionate conservativism – zu geben und mit den Menschen in Verbindung zu treten. Das erklärt beispielsweise seine verblüffend positiven Werte im Bildungsbereich als demokratisches Kernthema. In der Frage, wer sich mehr um die Anliegen der Menschen kümmert, gibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Jeder Demokrat außer Kerry lag 10 bis 15 Prozentpunkte in Führung, sogar wenn er als Wahlverlierer endete.
Ach ja, und als Muster ohne Wert: Entgegen der europäischen Wahrnehmung lag der Präsident im Durchschnitt aller Meinungsumfragen (siehe
http://www.realclearpolitics.com) seit Ende August bis zum aktuellen Stand Mitte Oktober stets in Führung.
Kerry gewinnt, weil …
Ist demzufolge das Horrorszenario für drei Viertel der deutschsprachigen Öffentlichkeit Gewissheit? Mitnichten. Bush würde als Amtsinhaber in den aktuellen Umfragen einen deutlichen Vorsprung benötigen, der ihm fehlt. Die Zahl der unentschlossenen Wähler ist 2004 vergleichsweise gering, doch nach jahrzehntelanger Erfahrung zeigt sich, dass diese am Wahltag zu Hause bleiben oder für den Herausforderer stimmen. Die gemäßigten Wähler sind gegen Bush eingestellt und warten geradezu darauf, dass Kerry sie überzeugt.
Kerry verfügt insbesondere über mehr Raum, noch Stimmen zu gewinnen. In zahlreichen Schlüsselgruppen – (weiße) Frauen mit mittlerem Bildungsgrad und Einkommen, (weiße) Senioren, (weiße) Katholiken liegt er um bis zu 10 Prozentpunkte unter den Sympathiewerten für seine Demokratische Partei, ist aber im Aufholen (siehe
interne Analysen seines Teams ). Bush als aufgrund der Ausnahmesituation 9/11 überdurchschnittlich beliebter Republikaner – „Security Moms“ etwa stellen bisher ihre Angst vor Terror über ihre Existenzängste im täglichen Leben als typisches Kerry-Thema – kann praktisch nur verlieren. Auch Ralph Nader kostet Kerry in den Umfragen Stimmen, die jedoch zum Teil gewinnbar sind.
In allen innenpolitischen Themenbereichen von der Gesundheitspolitik bis zur Wirtschaft liegt Kerry voran. Es wird für Bush nicht genügen, als mitfühlender Konservativer im persönlichen Kontakt zu punkten und Terrorängste zu schüren, wenn er thematisch als Niete angesehen wird. Bezeichnenderweise gibt es in der Bush-Kampagne kaum eine Positivbotschaft, sondern lediglich Negativattacken auf Kerry.
Genauso ist sowohl als Persönlichkeit als auch inhaltlich der Spielraum nach oben für Kerry größer. Er kann als Neuling im Präsidentschaftswahlkampf seine Bekanntheit, sein Image und seine Themenkompetenz laufend steigern. Bush als Amtsinhaber kann das nicht. Wen er bis jetzt nicht überzeugt hat, der will nichts von ihm wissen. Gelingt es Kerry, sein politisches Konzept für die Zukunft zu kommunizieren, ist er als Alternative zu Bush unschlagbar. Die republikanische Propaganda ist übrigens Unsinn: Entweder Kerry war und ist extrem liberal oder ein Flip-Flop ohne wirkliche Überzeugung. Beide Vorwürfe zusammen machen keinen Sinn, Das fällt auch dem Wähler auf.
Und nach der Wahl?
Wer wirklich gewinnt, wissen wir am 2./3. November – oder am Tag X, an dem ein offizielles Wahlergebnis vorliegt. Die Kampagneteams versuchen die Wahl zur Abstimmung über den jeweiligen Opponenten zu machen. Ist das strategisch richtig, könnte man zynisch sagen: Wird über Bush abgestimmt, gewinnt Kerry. Gibt es eine Entscheidung für oder gegen Kerry, gewinnt Bush. Unabhängig vom Wahlsieger hätte der mächtigste Mann der Welt primär Gegner des Gegenkandidaten und erst in zweiter Linie eigene Anhänger als politische Basis.
Eine Konsequenz des bisher negativsten Präsidentschaftswahlkampfes in der Geschichte steht ohnedies außer Streit: Die Vertiefung der Kluft in der US-amerikanischen Gesellschaft und ein nachhaltig zerstörtes Klima für den öffentlichen Diskurs zwischen Republikanern und Demokraten. Wer immer gewinnt, diesbezüglich ist keine Besserung in Sicht.
Peter Filzmaier ist Ao. Professor für Politikwissenschaft und Abteilungsleiter für Politische Bildung und Politikforschung an der Universität Klagenfurt,
http://polbil.uni-klu.ac.at/filzmaier, und war bis Mitte Oktober als Wahlforscher in den USA.