Spielen die Neuen Medien eine Rolle in der Verkehrspolitik? Während die
Deutsche Bahn eine der meistfrequentierten Webseiten betreibt, haben
verkehrspolitische Verbände und ÖPNV-Initiativen das Internet als
Kampagnen-Instrument bislang eher verschlafen.
Furchterregende Jagdszenen
spielten sich im Frühjahr 1999 in Oberbayern ab: Erzürnte Fahrgäste
eines Regionalzuges verprügelten den 19jährigen Schaffner, ein anderer
Zugbegleiter schloss sich aus Angst vor den Reisenden auf der gesamten
Fahrt in der Zugtoilette ein. Was hatte die Pendler aus dem
Voralpenland so aufgebracht? Ein Privatunternehmen hatte die
Oberlandbahn von der Bahn AG übernommen und deren klapprige Züge aus
den 60er Jahren gegen modernste High-Tech-Züge ausgetauscht. Doch die
neuen Triebwagen erwiesen sich als Fehlkonstruktion: Mal ließen sich
die Türen nicht öffnen, oft blieben die Züge einfach auf offener
Strecke stehen. Die Klimaanlage sorgte für arktische Temperaturen,
während gleichzeitig die Heizung auf Hochtouren lief. Wochenlang lief
nichts mehr auf der Oberlandbahn: Hunderte Pendler kamen nahezu täglich
zu spät zur Arbeit oder in den Feierabend, an einem Gymnasium an der
Strecke blieben die Klassenräume leer. Bald bildete sich eine
Bürgerinitiative der Betroffenen, deren Aushängeschild ihre Homepage
wurde. In einem Online-Beschwerdeforum berichteten die Pendler über
ihre schlimmsten Erlebnisse mit der Oberlandbahn. Nach sieben Wochen
überreichten Vertreter der Initiative vor großem Medienaufgebot die
gesammelten Abenteuer der Reisenden an die Geschäftsführung der
Privatbahn. Die Medien würdigten das Internet-Forum als neue
Protestform und berichteten landesweit.
In der Verkehrspolitik ist eine
solche Internet-Aktion aber eine Ausnahme. Zwar engagieren sich
zahllose Initiativen in allen erdenklichen verkehrspolitischen Belangen
– von der autofreien Siedlung über den Bau von Autobahnen und die
Vermeidung von Fluglärm bis hin zu Reaktivierung stillgelegter
Bahnlinien, doch eigene Protestformen haben sich im Netz bisher kaum
herausgebildet. Die aktiven Bürger verstehen Online-Medien als bequeme
Unterstützung ihrer logistischen Arbeit, Webseiten erschöpfen sich
meist in einfachen Umsetzungen von Flugblättern und Broschüren. Die
verkehrspolitischen Initiativen, in den siebziger und achtziger Jahren
oftmals aus der ökologisch-alternativen Szene heraus entstanden,
erkennen dabei durchaus, dass sie ihre Projektarbeit mit Hilfe der
Online-Medien effizienter gestalten. Es lassen sich vor allem
Mitstreiter gewinnen, die durch regelmäßige Treffen und vereinsähnliche
Organisation nicht zu motivieren sind ("Verein ohne Meierei"). So
erkannte etwa der Verband Pro Bahn schon 1995 die Vorteile von
Mailinglisten, um dezentral und in kurzer Zeit komplexe Diskussionen
unter den Mitgliedern zu führen.
Heute unterhält Pro Bahn eine umfangreiche Website,
die dem Nutzer einige Servicefunktionen bietet. Der Verband stellt in
übersichtlicher Form Tarifinformationen zusammen, die dem verwirrten
Bahnreisenden die Möglichkeit geben, sich in Ruhe über die zahllosen
Sondertarife auf deutschen Schienen zu informieren. Eine ähnliche
Zielsetzung verfolgt der Berliner Fahrgastverband IGEB, der die elektronischen "Kummerkarten"
genervter Kunden an die Verantwortlichen bei den Verkehrsunternehmen
weiterleitet und unkompliziert über Bauarbeiten auf dem Hauptstadtnetz
informieren will.
Hilfestellung für Projektarbeit
bieten die Verbände durch Argumentationshilfen, durch Listen von
Ansprechpartnern in der Politik oder durch Links zu meist privaten
Homepages, auf denen interessierte Laien gesetzliche Grundlagen
erläutern. Pro Bahn fasst beispielsweise den Stand der Diskussion zum
Wegfall der Interregio-Züge regelmäßig auf der Homepage zusammen. Doch
auch zu diesem Thema, dem in den traditionellen Medien große Beachtung
zugemessen wird, finden sich im Netz nur wenige Informationen; die
Initiative "Bürgerbahn statt Börsenbahn", die mit Aktionen auf das
Thema aufmerksam macht, hat keinen Netzauftritt. Kampagnen zu großen
Themen wie der Bahnreform und ihrer neuerlichen Reform oder zur
Tarifstruktur der Bahn sucht man im Netz vergebens.
Anders sieht es in der Schweiz
aus. Die Verkehrspolitik ist in dem Transitland ein Dauerthema.
Zahlreiche Initiativen engagieren sich gegen den Schwerlastverkehr und
fordern Tunnelbauten, Autobahnerweiterungen, die Verlegung oder den
Neubau von Bahnlinien, um die Belastung der Bürger durch den
Verkehrslärm zu mindern. Sicherlich motiviert die Möglichkeit,
Volksabstimmungen über Bundesgesetze durchzusetzen, solche Gruppen viel
stärker als in Deutschland. Für Aufbietung der Mindestanzahl von 50.000
Unterschriften, die notwendig sind, um ein Referendum anzusetzen,
setzen mittlerweile alle Interessengruppen auch auf Internetauftritte.
Eine "Liga für rationelle Verkehrswirtschaft" liefert ÖPNV-Befürwortern
auf ihrer Homepage reichhaltige Argumentationshilfen. Die Gruppe "umverkehr" machte mit einer professionell gestalteten Homepage Stimmung für ihre Initiative "Freie Fahrt für alle". Die Volksabstimmung im März 2000 verlief nach über sechsjähriger Kampagnenarbeit im März 2001 allerdings gegen die Initiative.
In Deutschland sind
ÖPNV-Initiativen eher regional begrenzt. Das liegt in der Natur der
Sache: Der Initiative für die Reaktivierung der Personenverkehrs auf
der siegerländischen Johannlandbahn
nützen keine 50.000 Unterschriften aus dem ganzen Bundesgebiet, wenn
anschließend nicht einmal 1000 Fahrgäste am Tag ihre Züge benutzen. Und
als Forum für regionale Kampagnenarbeit eignet sich die Regionalzeitung
sicherlich besser als die elektronischen Medien. Die Zielgruppe ist,
anders als bei Kampagnen zur Internet-Taktung, nicht unbedingt im Netz
zuhause. Andererseits sind Homepages aller Art bereits ein so stark
etabliertes Medium, dass es kaum noch möglich ist, sie als
aufsehenerregende Werbeträger – wie noch im Fall der Oberlandbahn – einzusetzen.
Die oberbayerische Initiative war
letztlich von Erfolg gekrönt – einige Wochen nach Überreichung der
Protestmails wurden die High-Tech-Züge außer Betrieb genommen und die
alten, aber zuverlässigen Züge der Bahn kehrten auf die Strecke zurück.